L 8 U 2054/22

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 6 U 805/22
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 U 2054/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Die Anerkennung eines Suizids als Arbeitsunfall erfordert einen Gesundheitserstschaden, der rechtlich wesentlich innerhalb einer Arbeitsschicht verursacht worden ist.
2. Zweifel am Nachweis des Gesundheitserstschadens und an der wesentlichen Verursachung innerhalb einer Arbeitsschicht wirken sich zu Lasten der Hinterbliebenen aus.

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 06.07.2022 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.



Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Anerkennung des Suizids des bei der Beklagten versicherten Ehemanns der Klägerin (Versicherter) 2021 als Arbeitsunfall und die Gewährung von Hinterbliebenenleistungen im Streit.

Der 1969 geborene Versicherte war als Softwareentwickler und Gruppenleiter bei der G1 in S1 beschäftigt. Er war Gruppenleiter eines Teams von Softwareentwicklern und arbeitete aufgrund erheblicher Arbeitsbelastung bis zu 12 Stunden am Tag, zuletzt ausschließlich im Home-Office. Am Morgen des 15.08.2021 (Sonntag) stürzte der Versicherte ohne Fremdeinwirkung aus dem Dachfenster im dritten Stock seines Wohnhauses und verstarb an den Folgen des Aufpralls. Der von einem Nachbarn herbeigerufene Notarzt konnte nur noch den Tod des Versicherten feststellen. Eine andere Todesursache als ein Suizid ist nicht ersichtlich.

Gegenüber der Polizei schilderte die Klägerin besondere Belastungen des Versicherten in seinem Beruf. Im April habe es eine Umstrukturierung gegeben, bei der viele Mitarbeiter gekündigt hätten. Der Verstorbene habe sich für alles verantwortlich gefühlt, sei oft ausgenutzt worden, und habe es allen recht machen wollen. Am 12.08.2021 (Donnerstag) habe er eine E-Mail erhalten, in welcher seine Leistungen in Frage gestellt worden seien; diese E-Mail sei auch an seine Vorgesetzten gesandt worden. Sein unmittelbarer Vorgesetzter habe ein klärendes Gespräch abgelehnt und lediglich auf ein bereits anstehendes Treffen am folgenden Mittwoch verwiesen. Am 13.08.2021 (Freitag) habe sich der Versicherte krankgemeldet, jedoch von seiner Hausarztpraxis erst einen Termin für Montag bekommen. Daraufhin habe der Versicherte eine Panikreaktion gezeigt und den Verdacht geäußert, dass die Praxishilfe ihn ausfragen wolle und die Ärztin ihn verfolge. Am 14.08.2021 (Samstag) sei morgens eine E-Mail eines Kollegen eingetroffen, in welcher ein Softwareangriff gemeldet worden sei. Am Vormittag habe der Versicherte dann gearbeitet, am Nachmittag habe man eine Fahrradtour gemacht und habe abends gemeinsam ferngesehen. Gegen 01:00 Uhr sei man schlafen gegangen. Sie habe ihren Mann am Sonntagmorgen noch hin und her laufen hören; die Flipflops ihres Mannes hätten Geräusche gemacht, und er habe mehrere Jalousien geöffnet. Ihr Mann habe sich große Sorgen gemacht, persönlich für die aufgetretenen Probleme verantwortlich gemacht zu werden. Auch gegenüber der Notärztin und einem weiteren Polizisten wies die Klägerin auf die Belastung des Versicherten an seinem Arbeitsplatz hin.

Nach dem Ergebnis der kriminalpolizeilichen Ermittlungen wurde davon ausgegangen, dass der Versicherte – möglicherweise im Rahmen einer Kurzschlussreaktion – aus dem Dachfenster gestiegen ist, um Suizid zu begehen. Anhaltspunkte für das Verschulden einer anderen Person oder einen Defekt am Dachfenster ergaben sich nicht. Auch die Staatsanwaltschaft S1 nahm abschließend eine Selbsttötung durch einen Sprung aus dem Dachgeschoss an. Der Suizid sei wahrscheinlich am Sonntag um 07:53 Uhr erfolgt. Eine Abschiedsnachricht hat der Versicherte nicht hinterlassen.

Der Arbeitgeber des Versicherten teilte der Beklagten mit, dass am 13.08.2021 Systemhinweise auf auffällige Software-Aktivitäten eingegangen seien. Der Versicherte habe am 14.08.2021 (Samstag) eine E-Mail erhalten, in der er eine Entwarnung bezüglich des am Vorabend eingegangenen Systemhinweises gegeben habe. Der Versicherte sei letztmalig am Samstag, den 14.08.2021, von 11:03 bis 13:36 Uhr im B1-Netzwerk eingeloggt gewesen. Im Verlauf des Samstagabends, in der Nacht oder am Sonntagmorgen habe es keine der Firma bekannte Arbeitstätigkeit gegeben.

Mit Schreiben vom 13.10.2021 schilderte die Klägerin nochmals ausführlich die Ereignisse vor dem Tod ihres Ehemannes. Ergänzend schilderte sie, dass der Versicherte am Freitag ganztägig zuhause gearbeitet habe. Nach der E-Mail vom Samstagmorgen betreffend einen Serverangriff habe er auch den ganzen Samstagvormittag gearbeitet. Der Versicherte habe sich am Samstag auf nichts Anderes konzentrieren können, und auch Freizeitaktivitäten hätten ihn nicht ablenken können. Er habe den Verdacht gehabt, dass man ihn für Fehler des Managements verantwortlich machen wollte. Ob der Versicherte zwischen Samstagnacht und Sonntagfrüh gearbeitet habe, wisse sie nicht. Im Sommerurlaub habe ihr Mann regelmäßig Anrufe seiner Mitarbeiter erhalten, teilweise mehrfach am Tag. Er habe seinen PC auch im Urlaub dabeigehabt und immer mal wieder gearbeitet. Er habe nicht entspannen können und sei gedanklich ständig mit der Arbeit beschäftigt gewesen.

Mit Bescheid vom 16.11.2021 stellte die Beklagte fest, dass kein Arbeitsunfall im Rechtssinne vorliege. Ansprüche auf Leistungen, insbesondere Sterbegeld und Witwenrente bestünden nicht. Zwar sei die Arbeitsbelastung des Versicherten sehr hoch gewesen, und ein Zusammenhang des Suizids mit der hohen beruflichen Belastung sei möglich. Ein Suizid könne jedoch nur dann als Arbeitsunfall anerkannt werden, wenn die ausschlaggebende Belastung – auch psychischer Art – innerhalb einer Arbeitsschicht eingetreten sei. Der Versicherte sei zuletzt am Samstag, dem 14.08.2021 um 13:36 Uhr in das Firmennetzwerk eingeloggt gewesen. Zum Zeitpunkt des Suizids am Sonntagmorgen habe der letzte Kontakt des Versicherten mit seinem Arbeitgeber mehr als einen Tag zurückgelegen. Der Suizid sei als Ende einer langdauernden Entwicklung im Sinne einer Belastung am Arbeitsplatz anzusehen. Betriebliche Ereignisse, die nicht im Einzelnen, sondern erst in ihrer Gesamtheit eine messbare Gesundheitsbelastung zur Folge haben, stellten keinen Arbeitsunfall dar, wenn sie in einer über eine Arbeitsschicht hinausgehenden Zeitspanne aufträten.

Hiergegen wandte sich die Bevollmächtigte der Klägerin mit ihrem Widerspruch vom 29.11.2022. Zur Begründung trug sie im Wesentlichen vor, am Samstag bis zum Tod am frühen Morgen des Sonntags habe wegen der Rechteverletzung der Software eine Ausnahmesituation bestanden. Der Versicherte habe herausgefunden, dass man versucht habe, ihm Fehler in die Schuhe zu schieben, welche er nicht zu verantworten hatte. Er habe seinen Kollegen, den Zeugen M1 angerufen und ihm mitgeteilt, dass er alles verlieren werde und es einen Knall gebe. Er habe sich in einer ausweglosen Situation gesehen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 09.02.2022 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Zur Begründung vertiefte sie die Ausführungen des angegriffenen Bescheids dahingehend, dass betriebsbedingte Umstände, die zu einer Kurzschlussreaktion geführt haben könnten, nicht dokumentiert seien. Die vorhandene Angst, aufgrund einer Rechteverletzung der Software persönlich haften zu müssen, sei kein Grund für eine plötzliche Ausnahmereaktion gewesen. Insgesamt sei nicht belegt, dass die Ereignisse im Einzelfall eine messbare Gesundheitsstörung zur Folge gehabt hätten, die Ursache des Suizids geworden sei.

Die Klägerbevollmächtigte hat am 10.03.2022 Klage beim Sozialgericht Heilbronn (SG) erhoben und beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 16.11.2021 und des Widerspruchsbescheids vom 09.02.2022 zu verurteilen, das Ereignis vom 15.08.2021 als Arbeitsunfall anzuerkennen und die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin Sterbegeld und eine Witwenrente zu gewähren. Die Klägerbevollmächtigte hat ihren Vortrag aus dem Verwaltungsverfahren vertieft und auf Nachfrage des SG mitgeteilt, dass der Versicherte sich in ambulanter Behandlung bei seiner Hausärztin N1 in S2 befunden habe. Eine psychiatrische Behandlung habe nicht stattgefunden.

Das SG hat in der mündlichen Verhandlung vom 06.07.2022 die Klägerin zu dem Sachverhalt angehört.

Die Klägerin hat folgende Aussagen zu Protokoll gegeben:
„Am Samstag wollten wir einen Ausflug machen. Er erhielt schon zum Frühstück eine Nachricht von der Arbeit und hatte dann eine andere Gesichtsfarbe. Er hat mit seinem Kollegen [M1] telefoniert und gesagt, er muss sich drum kümmern. Er ist dann ins Dachgeschoss in sein Büro und hatte einen Angstzustand. Ich ging Radfahren und als ich zurückkam saß er immer noch an dem Problem. Er sagte alles läuft schief mit der LG-Plattform. Er sagte, es sind Fehler in der Vergangenheit passiert. Er hatte eine Panikattacke, es ging um eine Lizenzverletzung. Er hat kalt geschwitzt und hat sich über seine private Haftung und Anwälte informiert. Er war nicht mehr der alte und ließ sich nicht beruhigen. Er war panisch wegen des Termins am Mittwoch. Auch bei unserem Abendgebet kam er nicht aus sich heraus. Er hat dieses Mal keine Kissen aus unserem Schlafzimmer mitgenommen wie sonst. Wahrscheinlich hat er die Nacht nicht geschlafen. Er hat im Dachgeschoss ein Sofa. Im Büro war am nächsten Morgen alles unberührt. Es drehte sich bei M2 alles um die Arbeit, es gab keine Grenzen. Die Lage war aus seiner Sicht aussichtslos.“

Auf Nachfrage hat die Klägerin weiter erklärt:
„Für Montag war ein Termin mit der Hausärztin ausgemacht. Er wollte am Donnerstag die Ärztin sprechen, hatte aber nur die Arzthelferin am Hörer. Die hat mit Fragen nachgebohrt und er wurde leiser und leiser. Er hat sich ausgefragt gefühlt und fühlte sich verfolgt. Er war seit über sechs Jahren bei B1. Der Stress wurde mehr, nachdem sein ursprünglicher Vorgesetzter kündigte und er Gruppenleiter wurde und zwar fachlich und disziplinarisch. Es haben dann weitere Kollegen gekündigt und es gab Löcher. Er sagte, er kann den Ball nicht mehr halten. Dann hat auch noch der Kollege J1 gekündigt und es musste trotzdem laufen. Irgendwann bricht man dann zusammen. Die Sache mit der Lizenzverletzung hat dann eine Explosion in ihm ausgelöst. Das war schleichend und begann schon vor dem Urlaub. Es wurde dann mehr und mehr.“

Das SG hat die Klage mit Urteil vom 06.07.2022 als unbegründet abgewiesen. Bei einem Suizid könne dieser selbst als absichtliche Eigenverletzung kein Arbeitsunfall sein. Er könne aber als Folge eines betriebsbedingten Ereignisses eine Entschädigungspflicht begründen. Der Suizid sei dann Unfallfolge, setze somit aber seinerseits einen vorangegangenen Arbeitsunfall voraus. In Betracht komme ein psychisches Trauma, wenn besondere betriebsbedingte äußere Umstände, z. B. schwere betriebliche Auseinandersetzungen, bei dem Versicherten zu einem Schock, also einer schlagartig auftretenden schweren psychischen Erschütterung oder zu einer reaktiven Depression geführt hätten. Wegen der erforderlichen Abgrenzung zu Krankheiten erfülle eine schädigende, auch psychische Einwirkung nur dann den Tatbestand eines Unfalls, wenn sie innerhalb eines verhältnismäßig kurzen Zeitraumes, höchstens innerhalb einer Arbeitsschicht geschehen sei (mit Verweis auf BSG, Urteil vom 08.12.1998 – B 2 U 1/98 R). Diese Voraussetzungen seien jedoch nicht erfüllt, weil die entscheidende psychische Einwirkung nicht nur innerhalb einer Arbeitsschicht geschehen sei. In Betracht kämen hier die Geschehnisse am Samstag, dem 14.08.2021. Der Kläger sei an diesem Tag durch eine E-Mail über einen Server-Angriff informiert worden, um den er sich bis in die Mittagszeit gekümmert habe. Dies ergebe sich aus den glaubwürdigen Aussagen der Klägerin, welche sie zunächst unmittelbar am Morgen des Sonntags, in dem Fragebogen gegenüber der Beklagten und in der mündlichen Verhandlung gegenüber dem Gericht erklärt habe. Der Inhalt dieser Aussagen sei widerspruchsfrei und detailliert, und decke sich auch mit den Angaben des Arbeitgebers. Es bestehe kein Zweifel daran, dass der Versicherte befürchtet habe, wegen Lizenzverletzungen privat haften zu müssen. Allerdings seien diese Ereignisse am Samstag die Zuspitzung eines schon länger andauernden Prozesses. Der Versicherte habe schon seit längerer Zeit sehr viel gearbeitet und auch im Urlaub keine Distanz zur Arbeit gewinnen können. Die Situation sei nach seiner Beförderung zum Gruppenleiter immer belastender geworden. Es hätten personelle Lücken bei gleichzeitigem Erfolgsdruck und erheblichen Problemen bei der Umsetzung der Vorgaben bestanden. Die Möglichkeit von Lizenzverletzungen habe den Ehemann der Klägerin dabei schon vor dem Kroatienurlaub beschäftigt, und damit zwei Monate vor dem Suizid. Eine erste Zuspitzung kurz vor dem Suizid habe sich durch die E-Mail vom 12.08. ergeben, welche den Versicherten belastet habe und auch an seine Vorgesetzten geschickt worden sei. Für den folgenden Mittwoch sei ein Gespräch vereinbart worden. Nachmittags habe der Versicherte sich krankgemeldet; er habe nach dem Gespräch mit der Arzthelferin, in dem er sich ausgefragt gefühlt habe, eine Panikattacke gehabt. Dann seien die Ereignisse vom Samstag, dem 14.08.2021 gefolgt, mit dem Angriff auf den Server und der anschließenden Befürchtung, in Haftung genommen zu werden. Rechtlich kämen als besondere betriebsbedingte äußere Umstände in Form einer psychischen Einwirkung der Angriff auf den Server sowie die Kontakte zu den Kollegen in Betracht. Die weitere Recherche des Klägers bezüglich der Haftung stelle keine äußere Einwirkung dar. Für die äußeren Einwirkungen am Samstag wie auch am Donnerstag lasse sich nicht belegen, dass diese sich aus der Gesamtheit der beruflichen Belastungen hervorgehoben hätten. Das Bundessozialgericht (a.a.O., Rn. 22 nach juris) führe hierzu Folgendes aus: „Die Gesamtheit mehrerer, auf einen längeren Zeitraum verteilter Gewalteinwirkungen ist kein Unfall im rechtlichen Sinne. Schäden durch wiederholte, auf mehrere Arbeitsschichten verteilte Gewalteinwirkungen sind nur dann als Folge eines Unfalls anzusehen, wenn sich eine einzelne Gewalteinwirkung aus der Gesamtheit derart hervorhebt, dass sie nicht nur als die letzte von mehreren für den Erfolg gleichwertigen Gewalteinwirkungen erscheint“. Im konkreten Fall lasse sich keine einzelne „Gewalteinwirkung“ aus der Gesamtheit hervorheben. Der Kläger habe am Donnerstag und Samstag Panikattacken gehabt. Ohne die Ereignisse am Donnerstag wäre die Server-Attacke am Samstag dem Kläger weniger bedrohlich erschienen. Erst das Zusammenwirken der Ereignisse vom Donnerstag und Samstag auf der Basis einer sehr starken beruflichen Belastung seit zumindest mehreren Monaten in Kombination mit hohem Erfolgsdruck bei schwer zu lösenden Problemen habe die psychische Erschütterung des Versicherten verursacht. Das Urteil ist der Bevollmächtigten der Klägerin am 14.07.2022 zugestellt worden. 

Am 19.07.2022 hat die Bevollmächtigte der Klägerin Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt. Der Versicherte sei als Gruppenleiter unter anderem für die einzusetzende Software im Europageschäft verantwortlich gewesen. Aufgrund der hohen Fluktuation der Mitarbeiter, der Übernahme zusätzlicher Aufgaben und der mit der Software auftretenden Probleme sei die berufliche Situation sehr belastend gewesen. Er habe weder freie Wochenenden gehabt noch seinen Urlaub ungestört verbringen können. Die Situation habe sich erstmalig durch die E-Mail vom 12.08.2021 zugespitzt, in welcher dem Versicherten Fehler bezüglich Lizenzverletzungen vorgeworfen worden seien. Eine weitere Zuspitzung sei durch die E-Mail vom 14.08.2021 erfolgt, in der es um einen Hackerangriff gegangen sei. Bei der Fehlerbehebung habe der Versicherte dann zahlreiche weitere Fehler festgestellt. Dabei habe er wiederholt fernmündlichen Kontakt mit dem Zeugen M1 gehabt und erklärt, dass „alles schieflaufe, er den Ball nicht mehr halten könne und alles verlieren werde“. Er und die Klägerin hätten dann im Internet nach Rechtsanwälten wegen Lizenzverletzungen gesucht. Aufgrund dieser Ausnahmesituation habe sich der Versicherte das Leben genommen. Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BSG zur Anerkennung von Suiziden als Arbeitsunfällen habe sich die Situation gerade am Samstag, dem 14.08.2021 nach den Gesprächen mit dem Zeugen M1 aufgrund der Serverangriffe und der Feststellung der gravierenden Lizenzrechtsverletzungen derart gravierend zugespitzt, dass von einer psychischen Ausnahmesituation auszugehen sei, in welcher der Versicherte nicht mehr habe beruhigt werden können. Erstmals an diesem Tag sei der Versicherte davon ausgegangen, dass er und seine Familie die gesamte Existenz verlieren würden. Die Situation am Samstag vor dem Suizid sei daher nicht als letzte psychische Belastung in einer Reihe gleichwertiger Belastungen, sondern als überragende Belastung zu sehen, die wesentlich ursächlich für die Selbsttötung geworden sei. Die Beklagte verkenne, dass der Versicherte nach seinem Ausloggen aus dem Firmennetzwerk um 13:36 Uhr weiter zu Lizenzverletzungen recherchiert habe und mehrere Telefonate mit dem Zeugen M1 stattgefunden hätten. Keineswegs seien die Lizenzverletzungen, wie sie der Versicherte am 14.08.2021 festgestellt habe, ihm schon vorher bekannt gewesen. Die Behauptung der Beklagten, die Kritik an der Arbeit des Versicherten sei ein normaler Vorgang, welcher sich tagtäglich und vielfach in der Arbeitswelt ereigne, erscheine insoweit zynisch.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 06.07.2022 sowie den Bescheid der Beklagten vom 16.11.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.02.2022 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, das Ereignis vom 15.08.2021 als Arbeitsunfall anzuerkennen und der Klägerin Sterbegeld und Witwenrente zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

            die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Die Beklagte hält die angegriffenen Entscheidungen für zutreffend. Im Kern gehe es um die Frage, ob die betrieblichen Ereignisse am 12.08.2021 (E-Mail des Leiters Vertreib und Applikation, B2) und 14.08.2021 (E-Mail des Zeugen M1, in dem es um einen Serverangriff ging) bei dem Versicherten ein psychisches Trauma ausgelöst hätten und er dadurch in einen Zustand wesentlich beeinträchtigter Willensbestimmung geraten sei und seinen Suizid begangen habe. Als psychische Ursache komme - schon wegen der Plötzlichkeit des Unfallereignisses - regelmäßig nur in Betracht, wenn es sich hierbei um einen psychischen Schock handele, d.h. eine schlagartig auftretende schwere Erschütterung, die eine mentale Störung von Krankheitswert, z.B. eine Depression, hinterlasse (Urteil des BSG vom 18.12.1986 – 4a RJ 9/86 – juris, Rnr.19). Weiter sei zu berücksichtigen, dass eine schädigende Einwirkung den Tatbestand eines Unfalls nur erfülle, wenn sie zeitlich begrenzt, also innerhalb eines verhältnismäßig kurzen Zeitraums, höchstens innerhalb einer Arbeitsschicht geschehe (Urteil des BSG vom 30.05.1985 - 2 RU 17/84, Urteil des BSG vom 08.12.1998 - B 2 U 1/98 R). Bei der E-Mail des Leiters Vertrieb und Applikation vom 12.08.2021, in der Kritik an der Arbeit des Versicherten geübt worden sei, handele es sich nicht um ein solch hervorgehobenes Ereignis. Sie sei vielmehr ein normaler Vorgang, der sich tagtäglich und vielfach in der Arbeitswelt ereigne, sei es bei der Produktion von Gütern, der Erbringung von Dienstleistungen oder auch im Rahmen von Mitarbeitergesprächen durch Vorgesetzte. Für den Versicherten habe es wohl auch keinen Anlass gegeben, in der Vereinbarung eines Gesprächs mit den Vorgesetzten am 18.08.2021 etwas Unangenehmes oder gar Bedrohliches zu sehen, zumal er nicht genau habe wissen können, worum es gehen sollte. Dahingehende Gedanken oder gar Befürchtungen, die sich ein Mitarbeiter ausmale, stellten keine Einwirkung i.S. der zuvor zitierten Rechtsprechung des BSG dar, da sie weder real noch objektivierbar noch konkret seien. Auch die E-Mail vom Samstag, dem 14.08.2021, mit der der Versicherte über einen Serverangriff informiert worden sei, stelle keine einzelne Einwirkung dar, die sich aus der Gesamtheit der Einwirkungen derart hervorhebe, dass sie nicht nur als die letzte von mehreren für den Erfolg gleichwertigen Einwirkungen erscheine. Die Serverprobleme habe der Versicherte bis zur Mittagszeit gegen 13.00 Uhr beheben können, danach sei er mit der Berufungsklägerin Fahrrad gefahren, und am Abend hätten beide gemeinsam ferngesehen. Die von der Klägerin nachfolgend geschilderten Befürchtungen und Grübeleien des Versicherten, von seinem Arbeitgeber für Fehler verantwortlich gemacht zu werden, könnten nicht als hervorgehobenes Ereignis im Sinne der BSG-Rechtsprechung angesehen werden, zumal die Recherchen im Internet in der Nacht von Samstag auf Sonntag weder eine versicherte Tätigkeit noch eine äußere Einwirkung darstellten. Die Lizenzverletzungen seien schon Wochen vorher, nämlich bereits vor dem Urlaub im Juni 2021 in Kroatien, bekannt gewesen, und hätten den Versicherten seitdem beschäftigt. Betriebsbedingte Umstände, die zu einer Kurzschlussreaktion geführt haben könnten, seien nicht dokumentiert. Es sei Spekulation der Berufungsklägerin, dass die Geschehnisse am Samstag, dem 14.08.2021, so gravierend gewesen seien, dass sie einzige Ursache des Suizids seien. Der Nachweis könne nicht geführt werden. Ein Abschiedsbrief liege nicht vor, auch keine Nachricht auf den Handys oder dem PC des Verstorbenen. Die Ursache des Suizids bleibe unklar, was zu Lasten der Klägerin gehe.

Der Senat hat alle von der Klägerin benannten Arbeitskollegen des Versicherten schriftlich als Zeugen vernommen: Den Personalleiter F1 (13.11.2023, Bl. 71 LSG), den unmittelbaren Vorgesetzten H1 (22.12.2023, Bl. 83 LSG), den ihm damals unterstellten M1 (12.02.2024, Bl. 109 LSG) und das Betriebsratsmitglied B3 (10.02.2024, Bl. 119 LSG). Der Zeuge H1 hat zwischen ihm und dem Versicherten gewechselte E-Mails vorgelegt. Auch der Zeuge B3 hat solche E-Mails vorgelegt.

Die Beklagte hat hierzu die Auffassung vertreten, dass die Zeugen ihre Auffassung bestätigten. Zwar sei die Arbeitsbelastung des Verstorbenen hoch gewesen und ein Zusammenhang des Suizids mit der beruflichen Lage möglich. Jedoch sei die Ursache hierfür nicht innerhalb einer Arbeitsschicht eingetreten, sondern das Ende einer schon länger andauernden Entwicklung.

Demgegenüber ist die Klägerbevollmächtigte der Ansicht, dass nach den Zeugenaussagen der Suizid des Versicherten nicht als das Ende einer schon länger andauernden Entwicklung angesehen werden könne. Vielmehr zeige die Aussage des Zeugen M1, dass der Versicherte sich wegen der Lizenzverletzungen an dem fraglichen Samstag schwere Vorwürfe gemacht und zugleich Angst vor der bevorstehenden Woche gehabt habe, in der es „knallen“ würde. Auch der Zeuge M1 schildere, dass der Versicherte sich am Samstag dahingehend geäußert habe, dass er „alles verlieren“ werde. Entscheidend sei auch die Aussage des Zeugen B3, der den erheblichen Stress des Versicherten geschildert und beschrieben habe, dass sich die Problematik mit der Lizenzverletzung zugespitzt habe. Der Zeuge B3 habe den Versicherten in der Woche vor dem Suizid nicht mehr gesehen. Umso bedeutender sei, dass er den Versicherten zuvor als gefestigt geschildert habe. Daraus lasse sich entnehmen, dass der Versicherte vor seinem Tod erheblich belastet gewesen sei.

Für die weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten und die Akten des SG und des LSG Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die nach den § 143 f. SGG statthafte Berufung der Klägerin ist zulässig, aber nicht begründet. Die Beklagte hat es zu Recht abgelehnt, den Suizid des Versicherten vom 15.08.2021 als Arbeitsunfall anzuerkennen und der Klägerin Sterbegeld und Witwenrente zu gewähren. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten.

Die auf die Gewährung von Sterbegeld und Witwenrente zielende Klage ist bezogen auf diese Streitgegenstände als Anfechtungs- und Leistungsklage zulässig. Die darüber hinaus erhobene Verpflichtungsklage, nach der die Beklagte das Vorliegen eines Arbeitsunfalls anerkennen soll, ist indes wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig. Die Frage, ob ein Arbeitsunfall vorgelegen hat, ist bei Hinterbliebenen kein eigenständiger Gegenstand des Verwaltungsverfahrens, sondern nur eine Tatbestandsvoraussetzung der im Einzelnen genannten Ansprüche auf Hinterbliebenenleistungen gemäß den §§ 63 ff. SGB VII. Im Verwaltungsverfahren sind deshalb die Anspruchsvoraussetzungen nach den §§ 63 ff. SGB VII selbstständig und ohne Bindung an bestands- oder rechtskräftige Entscheidungen gegenüber dem Verstorbenen neu zu prüfen. Wird ein Anspruch durch negativ feststellenden Verwaltungsakt verneint, ist die Äußerung des Trägers, ein Versicherungsfall habe nicht vorgelegen, i.d.R. nur ein unselbstständiges Begründungselement des die Leistung ablehnenden Verwaltungsakts (vgl. BSG, Urteile vom 04.12.2014 - B 2 U 18/13 R - BSGE 118, 18 – und vom 29.11.2011 - B 2 U 26/10 R - UV-Recht Aktuell 2012, 412, juris RdNr. 18). Folglich kann ein Hinterbliebener mangels Anspruchsgrundlage nicht die isolierte Verpflichtung des Unfallversicherungsträgers zur Anerkennung eines Arbeitsunfalls erreichen (vgl. BSG, Urteil vom 29.11.2011 - B 2 U 26/10 R – und vom 06.10.2020 – B 2 U 9/19 R –).

Hinterbliebene von Versicherten, die ihr Leben aufgrund eines Arbeitsunfalls verloren haben, erhalten nach § 63 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII i.V.m. § 64 SGB VII Sterbegeld und nach § 63 Abs. 1 Nr. 3 SGB VII i.V.m. § 65 SGB VII Witwen- bzw. Witwerrente. Arbeitsunfälle sind Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3, 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit; § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (§ 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Für das Vorliegen eines Arbeitsunfalls i.S. des § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII ist danach in der Regel erforderlich, dass die Verrichtung des Versicherten zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer bzw. sachlicher Zusammenhang), dass diese Verrichtung zu dem zeitlich begrenzten von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis – dem Unfallereignis - geführt hat und das Unfallereignis einen Gesundheits(erst)schaden oder den Tod des Versicherten verursacht (haftungsbegründende Kausalität) hat. Die Entstehung länger andauernder Unfallfolgen aufgrund des Gesundheits(erst)schadens (haftungsausfüllende Kausalität) ist nicht Voraussetzung für die Anerkennung eines Arbeitsunfalls (ständige Rechtsprechung, vgl. stellvertretend BSG, Urteile vom 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R = SozR 4-2700 § 8 Nr. 17, B 2 U 40/05 R= UV-Recht Aktuell 2006, 419-422, B 2 U 26/04 R= UV-Recht Aktuell 2006, 497-509, alle auch in juris).

Nach der im Sozialrecht anzuwendenden Theorie der wesentlichen Bedingung werden als kausal und rechtserheblich nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben (st. Rspr., vgl. BSG vom 12.04.2005 - B 2 U 27/04 R - BSGE 94, 269 = SozR 4-2700 § 8 Nr. 15, jeweils RdNr 11). Welche Ursache wesentlich ist und welche nicht, muss aus der Auffassung des praktischen Lebens über die besondere Beziehung der Ursache zum Eintritt des Erfolgs bzw. Gesundheitsschadens abgeleitet werden (BSGE 1, 72, 76). Die Theorie der wesentlichen Bedingung beruht ebenso wie die im Zivilrecht geltende Adäquanztheorie (vgl. dazu BSGE 63, 277, 280 = SozR 2200 § 548 Nr. 91) auf der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie als Ausgangsbasis. Nach dieser ist jedes Ereignis Ursache eines Erfolges, das nicht hinweg gedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio sine qua non). Aufgrund der Unbegrenztheit der naturwissenschaftlich-philosophischen Ursachen für einen Erfolg ist für die praktische Rechtsanwendung in einer zweiten Prüfungsstufe die Unterscheidung zwischen solchen Ursachen notwendig, die rechtlich für den Erfolg verantwortlich gemacht werden bzw. denen der Erfolg zugerechnet wird, und den anderen, für den Erfolg rechtlich unerheblichen Ursachen.  „Versicherte Tätigkeit“, „Verrichtung“, „Einwirkungen“ und „Krankheit“ müssen im Vollbeweis - also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - vorliegen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt indes die hinreichende Wahrscheinlichkeit, aber nicht die bloße Möglichkeit (st. Rspr.; zuletzt etwa BSG, Urteil vom 06.05.2021 – B 2 U 15/19 R –, SozR 4-2700 § 8 Nr. 77, Rn. 13).

Eine Selbsttötung kann als bewusste Selbstschädigung grundsätzlich nicht einen Arbeitsunfall darstellen, da es hierbei regelmäßig an einer Verrichtung des Versicherten mit einer Handlungstendenz in Bezug auf die versicherte Tätigkeit fehlt (BSG, Urteil vom 12.04.2005 - B 2 U 27/04 R - BSGE 94, S. 269 ff. und vom 15.05.2012 - B 2 U 16/11 R -; Wolfgang Keller in: Hauck/Noftz SGB VII, 5. Ergänzungslieferung 2024, § 8 SGB 7, Rn. 14a). Eine Selbsttötung kann aber als Folge eines akuten psychischen Traumas mit Gesundheitserstschaden, das die Voraussetzungen eines Arbeitsunfalls erfüllt, entschädigungsfähig sein. Insoweit ist es für die Bejahung eines Kausalzusammenhangs zwischen Arbeitsunfall und Selbsttötung nicht erforderlich, dass eine Willensbeeinträchtigung beim Suizidenten vorgelegen hat, und auch nicht, dass die Folgen des Arbeitsunfalls alleiniger Beweggrund für die Selbsttötung waren. Es genügt vielmehr, dass die Folgen des Arbeitsunfalls den Entschluss des Versicherten zur Selbsttötung wesentlich mitbedingt haben. Bei der Frage, ob die Folgen eines Arbeitsunfalls kausal für die Selbsttötung im Sinne einer wesentlichen Mitbedingung waren, ist nicht auf die Reaktionsweise eines "normalen" Versicherten abzustellen (BSG, Urteil vom 08.12.1998 – B 2 U 1/98 R – in Juris), sondern darauf, wie der Betroffene individuell auf die Folgen des Arbeitsunfalls reagiert hat. Bei der Kausalitätsfrage ist zu prüfen, welche Auswirkung das Krankheitsgeschehen gerade auf die in Betracht kommende Einzelpersönlichkeit mit ihrer jeweils gegebenen Struktureigenheit im körperlich-seelischen Bereich gehabt hat (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 19.03.2013 – L 9 U 3957/09 –, Rn. 44, juris). Der Suizid eines Versicherten ist als Arbeitsunfall anzuerkennen, wenn er auf einem psychischen Trauma beruht, welches durch einen betrieblichen Vorgang mit überragender psychischer Belastung ausgelöst wurde (hier: Selbsttötung nach Personalgespräch mit Geschäftsführung, beinhaltend Entbindung von Leitungsfunktion, Gehaltskürzung, Abmahnung und Kündigungsandrohung; vgl. Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 29.04.2008 – L 18 U 272/04,  juris).

Vorliegend kommt als bei der Beklagten versicherter Gesundheitserstschaden des Versicherten, der zu der Selbsttötung als Unfallfolge geführt hat, allein ein psychischer Erstschaden des Versicherten in Betracht. Einen solchen halten auch das SG und die Beklagte im Hinblick auf die erhebliche Arbeitslast des Versicherten für möglich, allerdings nicht für erwiesen.

Die diesbezüglichen Zweifel konnten auch im Berufungsverfahren nicht ausgeräumt werden. Zudem ist auch die weitere Voraussetzung für die Anerkennung eines Suizids als Arbeitsunfall nicht nachgewiesen, dass die rechtlich wesentliche Einwirkung, die zum Suizid geführt hat, innerhalb einer Arbeitsschicht erfolgt ist. Die Definition des Unfalls enthält als wesentliches Merkmal das der zeitlichen Begrenzung. Es dient der Abgrenzung des Unfalls von der Krankheit. Danach erfüllt eine schädigende, auch psychische Einwirkung nur dann den Tatbestand eines Unfalles, wenn sie innerhalb eines verhältnismäßig kurzen Zeitraumes, höchstens innerhalb einer Arbeitsschicht geschehen ist. Die Gesamtheit mehrerer, auf einen längeren Zeitraum verteilter Gewalteinwirkungen ist kein Unfall im rechtlichen Sinne. Schäden durch wiederholte, auf mehrere Arbeitsschichten verteilte Gewalteinwirkungen sind nur dann als Folge eines Unfalls anzusehen, wenn sich eine einzelne Gewalteinwirkung aus der Gesamtheit derart hervorhebt, dass sie nicht nur als die letzte von mehreren für den Erfolg gleichwertigen Gewalteinwirkungen erscheint. Andererseits ist sie nur Gelegenheit für die Vollendung, aber nicht eine wesentliche Teilursache des Erfolges (st. Rspr., BSG, Urteil vom 08.12.1998 – B 2 U 1/98 R –, Rn. 22, juris).

Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens und der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Senats fest, dass der Versicherte als Gruppenleiter und Verantwortlicher für den Einsatz von Software in einem wirtschaftlich bedeutenden Bereich zuletzt seit Monaten einem ganz erheblichen Arbeitsdruck ausgesetzt war, der sich vor allem aus strukturellen Veränderungen, Personalmangel und technischen Problemen zusammensetzte. Die E-Mail vom 12.08.2021 (Donnerstag), in der seine Leistungen auch gegenüber seinen weiteren Vorgesetzten in Frage gestellt wurden, ist als punktuelle erhebliche Verstärkung und Zuspitzung dieses Drucks anzusehen. Die weitere E-Mail vom 14.08.2021 (Samstag) betreffend einen Hacker-Angriff hat die Situation weiter zugespitzt. Sie hat dazu geführt, dass der Versicherte es für erforderlich hielt, auch am Samstagmorgen bei sich zu Hause zu arbeiten. Allerdings gelang es dem Kläger auch noch am selben Tag, die Server des Unternehmens abzusichern, wobei der E-Mail des Zeugen M1 bezüglich des Hackerangriffs auch eine Entwarnung und damit Entschärfung der Situation zu entnehmen ist. Ob dem Tod des Versicherten am 15.08.2021 (Sonntag) um 07:53 Uhr durch Sturz aus seinem Dachfenster eine Arbeitsleistung des Versicherten für seinen Arbeitgeber vorausging, lässt sich nicht mehr klären. Die Klägerin hat hierzu in der mündlichen Verhandlung vor dem SG zu Protokoll gegeben, dass das Büro am Sonntagmorgen unberührt gewesen sei, was gegen eine Arbeitsleistung des Klägers ab dem Samstagnachmittag spricht.

Dies entnimmt der Senat den insgesamt glaubhaften Angaben der Klägerin und der vier schriftlich als Zeugen nach 118 Abs. 1 SGG i.V.m. § 377 Abs. 3 ZPO gehörten Arbeitskollegen sowie dem vorgelegten E-Mail-Verkehr. Die im Berufungsverfahren getätigten Aussagen stimmen in den hier entscheidungserheblichen, wesentlichen Zügen überein, weswegen weitere Nachfragen oder Nachforschungen nicht erforderlich waren. Insbesondere war die schriftliche Beantwortung der Beweisfragen durch die Zeugen geeignet, eine genügende Klärung der Beweisfragen zu erreichen, weswegen der Senat die schriftliche Anhörung der Zeugen nach § 377 Abs. 3 ZPO für ausreichend erachtet hat. Auch die Beteiligten haben die persönliche Vernehmung der Zeugen nicht für erforderlich gehalten. Die Zeugenaussagen sind für den Senat insgesamt glaubhaft und erscheinen nicht durch eigene Interessen der Zeugen beeinflusst.

Die im Berufungsverfahren durchgeführte Beweisaufnahme hat die Auffassung der Beklagten und des SG bestätigt, dass die Voraussetzung eines rechtlich wesentlich während einer Arbeitsschicht bei dem Versicherten ausgelösten Traumas als Voraussetzung für die Anerkennung des Suizides als Arbeitsunfall nicht nachgewiesen ist.

Der Zeuge F1 (Aussage vom 13.11.2023) war der Personalleiter des Klägers und hat ausgesagt, dass ihm konkrete Probleme nicht bekannt gewesen seien. Er habe gewusst, dass nicht immer alles 100-prozentig funktionierte. Finanzielle Konsequenzen habe der Versicherte dadurch aber nicht zu befürchten gehabt. Verstöße oder Abmahnungen seien ihm nicht bekannt.

Der Zeuge H1 (Aussage vom 22.12.2023) war damals Abteilungsleiter und der direkte Vorgesetzte des Klägers. Er hat die Aussage des Zeugen F1 in wesentlichen Teilen bestätigt. Der Versicherte habe mit dem Produkt „E1 Plattform", für das er als Teamleiter zuständig gewesen sei, technische Schwierigkeiten gehabt. Hierfür seien damals Lösungsoptionen in der Abstimmung gewesen. Der Versicherte habe weder berufliche noch finanzielle Konsequenzen befürchten müssen. Verstöße gegen Arbeitnehmerpflichten oder erfolgte oder geplante Abmahnungen seien ihm nicht bekannt. Es sei auch nicht zu Schäden des Arbeitgebers gekommen. Mögliche Lizenzverletzungen seien im Entwicklungsteam erkannt und nach Bekanntwerden unmittelbar Lösungsoptionen besprochen worden. Die Lizenzverletzungen seien keiner Einzelperson zugeschrieben worden. Die Arbeitslast sei erhöht gewesen, aber noch im üblichen Rahmen und ohne die Anordnung von Überstunden. Die Arbeitslast sei anspruchsvoll gewesen, doch habe er keine Anhaltspunkte für eine psychische Ausnahmesituation des Klägers gehabt. Der Senat entnimmt dieser Zeugenaussage insbesondere, dass die Lizenzprobleme bei der Verwendung der Software schon seit längerer Zeit bekannt gewesen sind, worauf auch der Versicherte selbst in seiner E-Mail vom 12.08.2021 hingewiesen hat, welche der Zeuge vorgelegt hat.

In der E-Mail des Zeugen H1 vom 12.08.2021 (Donnerstag) an den Versicherten hat der Zeuge H1 ausdrücklich klargestellt, dass er dem Versicherten keine persönlichen Vorwürfe mache, da er das Software-Projekt in einem schlechten Zustand „geerbt“ habe. Darüber hinaus hat er sogar klargestellt, dass er persönliche Vorwürfe gegen den Versicherten zurückweisen werde und hierfür vom Versicherten konkret wissen wolle, wer wann eventuell solche Vorwürfe erhoben habe. Im Übrigen werden konkrete Probleme der Abteilung (technischer Art und bei der Zusammenarbeit) benannt, wobei der Zeuge auch ausgeführt hat, dass es alle gut meinten und es am Ende aber das Team des Versicherten „treffe“, was so aber nicht gehe. Der anstehende Workshop solle dazu dienen, diese Probleme zu beheben. Die E-Mail schließt mit der positiven Einschätzung, dass die Situation sich lösen lasse. Dieser E-Mail lässt sich entnehmen, dass der direkte Vorgesetzte des Versicherten diesem keine persönlichen Vorwürfe machte und sich sogar schützend vor ihn stellte. Der Kläger hatte dies zudem in Form der E-Mail auch schriftlich von seinem Vorgesetzten, womit er auch ein ihn schützendes Dokument bezüglich etwaiger Vorwürfe besaß.

Im Übrigen hat der Zeuge H1 auch eine E-Mail des Versicherten an ihn vom 12.08.2021 vorgelegt, in welcher der Versicherte angab, dass er wegen des seit Jahren anhaltenden Drucks entweder aus dem Team austreten oder versetzt werden wolle. Der Senat entnimmt dieser E-Mail, dass sich bei dem Versicherten bereits vor dem 12.08.2021 aufgrund einer seit Jahren bestehenden Dauerbelastung die Erkenntnis durchgesetzt hatte, dass er einen radikalen Schritt benötigte, um seinem erheblich konfliktbelasteten und übermäßig belastenden Arbeitsumfeld entkommen zu können.

Der Zeuge M1 (Aussage vom 12.02.2024), der im Team des Versicherten gearbeitet hat, hat die Aussage der Klägerin bestätigt, dass der Versicherte sich vorstellte, alleine für die Lizenzprobleme verantwortlich gemacht und in Haftung genommen zu werden. Als Indikator für eine Ausnahmesituation sehe er, dass der Versicherte sich am Donnerstag, dem 12.08.2021, krankgemeldet habe; inoffiziell sei dies aufgrund vorhergehender Auseinandersetzungen mit anderen Kollegen im Zusammenhang mit den Softwareproblemen bzw. seiner Arbeit gewesen. Der Versicherte habe auch am 14.08.2021 gedacht, dass er bei den anstehenden Meetings in der folgenden Woche persönlich zur Rechenschaft gezogen werden würde. Allerdings hat der Zeuge auch angegeben, dass ihm Anschuldigungen gegenüber dem Versicherten oder Abmahnungen nicht bekannt seien. Direkte/Konkrete finanzielle Schäden bzgl. Lizenzverletzungen und vorhandener Softwarequalitätsmängel seien ihm ebenfalls nicht bekannt, aber seien „natürlich“ zu befürchten gewesen. Auch ein Imageschaden für die B1 habe gedroht. Was auf jeden Fall aufgetreten sei, sei der (vor allem B4) Ressourcen-/Kapazitätsaufwand, den man zur Behebung habe betreiben müssen. Das Software-Projekt sei dann wegen des aufgetretenen Betreuungsaufwands auch eingestellt und – allerdings erst viel später – durch ein Nachfolgeprodukt ersetzt worden.

Besondere Bedeutung misst der Senat der wesentlichen Unterscheidung zwischen den Lizenzproblemen und dem Hacker-Angriff bei, auf die auch der Zeuge M1 genau eingeht: Die Nachricht über den Hacker-Angriff am Samstagmorgen (14.08.2021) sei automatisch generiert gewesen, und er habe alleine feststellen können, dass es sich um einen Fehlalarm gehandelt habe. Die Entwarnung habe er sogleich um 07:53 Uhr dem Versicherten mitgeteilt, da er auch die automatische Warnung erhalten habe.  Der Versicherte habe um 11:00 Uhr per Email reagiert und ein (Telefon-) Gespräch vorgeschlagen. Um 11:11 Uhr habe der Versicherte angerufen und die Ansicht geäußert, dass die Bearbeitung des Fehlalarms nicht ausreiche; der Versicherte habe weitere Maßnahmen verlangt, um zukünftige Fehlalarme zu vermeiden. Nach erfolgten weiteren Maßnahmen habe er ihm dann noch explizit eine E-Mail schreiben sollen, um die Verbesserung darzustellen, auch gegenüber anderen. Diese E-Mail habe er um 12:04 Uhr versendet. Der Zeuge hat hierzu seine Meinung geäußert, dass er diese weiteren Maßnahmen „schon etwas dünnhäutig" gefunden habe, und dann das Gespräch eigentlich hätte zu Ende sein können. Der Versicherte habe dann jedoch das Lizenzthema angesprochen, mit dessen Bearbeitung er, der Zeuge, gar nicht beauftragt gewesen sei. Der Versicherte habe seine Sorge geäußert, dass er für die Lizenzverletzungen zur Rechenschaft gezogen werde. Daraufhin habe der Zeuge eingewandt, dass die Lizenzverletzungen erfolgt seien, als der Versicherte noch gar kein Vorgesetzter gewesen sei. Im weiteren Gespräch habe der Versicherte gesagt, dass wohl in der nächsten Woche ein Meeting mit Entscheidungsträgern/Vorgesetzten o.ä. erfolgen sollte, wo es dann wohl um Konsequenzen gehen würde. Es werde dann einen „Schlag" oder „Knall" geben. Auf seine Rückfrage hierzu habe er gesagt, das werde er dann schon sehen, wenn er aus dem Urlaub zurückkäme. Das seien die letzten Sätze des Gesprächs gewesen. Er habe dann Urlaub vom 16. bis zum 20.08.2021 gehabt.

Diese Aussage deckt sich mit den Aussagen des Zeugen H1, dass die Lizenzprobleme schon lange als Problem bekannt gewesen seien und der Versicherte hierfür keine Schuld hatte. Ebenso wie aus den Einlassungen der Klägerin geht aus dieser Aussage auch hervor, dass der Kläger sich ganz erhebliche Sorgen wegen der Lizenzverletzungen machte, die jedoch objektiv nach den Einlassungen aller bisher aufgeführten Zeugenaussagen nicht begründet gewesen sein dürften. Die Zeugenaussage zeigt im Übrigen, dass der Hackeralarm vom 14.08.2021 ein Fehlalarm war, und dass es dem Versicherten diesbezüglich auch lediglich um die Vermeidung künftiger Fehlalarme und nicht um eine objektiv vorhandene Bedrohung ging. Die Einwirkungen bei der Arbeit des Versicherten vom 14.08.2021 waren daher auch objektiv nicht geeignet, als hervorgehobenes Ereignis einer Arbeitsschicht eine psychische Ausnahmesituation zu schaffen, die rechtlich wesentlich zu einem Suizid führen konnte. Treibende Sorge, und zwar schon für einen längeren Zeitraum, waren die Lizenzverletzungen, die schon lange vor dem 14.08.2021 bekannt waren, und für die nach Aktenlage niemand die Schuld bei dem Versicherten sah. Dass der Versicherte sich offensichtlich insoweit etwas Anderes vorstellte, kann nicht als rechtlich wesentliche Ursache für einen etwaigen psychischen Erstschaden in Form eines Arbeitsunfalls angesehen werden.

Der Zeuge B3 (Aussage vom 10.02.2024), der ebenso wie der Versicherte im Betriebsrat des Arbeitgebers war, hat die Probleme im Team des Versicherten eindrücklich geschildert. Wegen Softwarelizenzverletzungen sei ein Auslieferungsstopp und Vertriebsverbot verhängt worden, wobei die Anwendung bereits weltweit bei verschiedenen Kunden produktiv im Einsatz gewesen sei. Das genaue Ausmaß und die Auswirkungen seien damals noch unklar gewesen. Nach dem Tod des Versicherten sei das Vertriebsverbot nicht mehr aufgehoben worden. Nach Aussage des Versicherten seien vom Unternehmen zu wenig Ressourcen für eine ordentliche Migration zur Verfügung gestellt worden, zudem sei der Softwareentwicklungsprozess wissentlich nicht eingehalten worden. Der Versicherte habe hierzu gesagt, „Wir müssen mit einem Prototyp in Serie gehen". Das Team des Versicherten sei mit den verschiedensten Erwartungen des Managements und von Kunden überfrachtet worden. Daraus abgeleitete berufliche und/oder personelle Konsequenzen für den Versicherten seien ihm jedoch nicht bekannt. Auch Abmahnungen oder Vorhaltungen gegenüber dem Versicherten seien ihm nicht bekannt. Anzeichen für einen psychischen Ausnahmezustand des Versicherten habe er nicht gehabt.

Auch die Zeugenaussage des Herrn B3 stützt das Gesamtergebnis der Beweisaufnahme, dass bezüglich der Arbeitsweise des Versicherten keine Abmahnungen oder persönlichen Vorwürfe vorlagen. Dem Unternehmen drohte zwar ein Schaden, doch war dieser bereits durch Lizenzverletzungen in der Vergangenheit angelegt und zudem auch noch nicht eingetreten. Außerdem gab es Personalabgänge im Team des Versicherten und wohl auch Kommunikationsprobleme mit anderen Teams, die die Arbeit in herausfordernder Zeit weiter erschwerten, wobei dem Versicherten allerdings auch insoweit keine persönlichen Vorwürfe gemacht wurden. Der genaue Umfang des möglichen Schadens war nicht absehbar, und konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der Versicherte persönlich zur Rechenschaft gezogen werden würde, lagen nicht vor.

Allerdings ist für den Senat nachgewiesen, dass der Versicherte dennoch fürchtete, erhebliche persönliche Nachteile wegen dieser Probleme an seinem Arbeitsplatz zu erleiden. Diese subjektive Befürchtung, für welche die Beweisaufnahme keine belastbaren Belege erbracht hat, kann jedoch nicht als von außen aus dem Arbeitsverhältnis wirkender Auslöser für einen Arbeitsunfall angesehen werden. Selbst wenn dies angenommen werden sollte, zeichnete sich der dem Unternehmen drohende Schaden durch die Lizenzverletzungen schon seit längerer Zeit ab, so dass die Voraussetzung der rechtlich wesentlichen Einwirkung innerhalb einer Arbeitsschicht nicht erfüllt wäre. Dies gilt auch isoliert betrachtet für die E-Mail vom 12.08.2021 (Donnerstag), in welcher die Leistungen seines Teams infrage gestellt wurden; nach dieser E-Mail wurde der Versicherte unmittelbar von seinem Vorgesetzten persönlich in Schutz genommen, und es wurde darauf hingewiesen, dass sich eine Lösung finden lasse. Die andere denkbare Einwirkung, die tatsächlich innerhalb einer Arbeitsschicht erfolgt ist, war der Hacker-Alarm vom 14.08.2021 (Samstag), der sich jedoch umgehend als Fehlalarm – auch in den Augen des Versicherten – dargestellt hat und aus diesem Grund nicht als rechtlich wesentlicher Auslöser für einen Arbeitsunfall angesehen werden kann.

Die Berufung der Klägerin war daher nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens und der Beweisaufnahme zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.


 

Rechtskraft
Aus
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