L 38 SF 102/24 EK R PKH WA

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
38.
1. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 38 SF 102/24 EK R PKH WA
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Der Antrag des Antragstellers, ihm für das beabsichtigte Verfahren der Entschädigungsklage bei dem Landessozialgericht Prozesskostenhilfe zu bewilligen, wird abgelehnt, soweit der Kläger eine Geldentschädigung begehrt. Soweit der Kläger einen Anspruch auf Feststellung der Überlänge des Gerichtsverfahrens geltend machen will, wird ihm Prozesskostenhilfe bewilligt.

 

Gründe

Der – isolierte – Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe (PKH) für das von dem Antragsteller beabsichtigte Verfahren der Entschädigungsklage bei dem Lan-dessozialgericht (LSG) war abzulehnen, soweit der Kläger eine Geldentschädigung geltend macht. Die beabsichtigte Rechtsverfolgung, mit der der Antragsteller eine in das Ermessen des Gerichts gestellte Geldentschädigung von dem potentiellen Beklagten erstreiten will, hat keine hinreichende Aussicht auf Erfolg (vgl §§ 201 Abs. 2 Satz 1 Gerichtsverfassungsgesetz <GVG> iVm §§ 202 Satz 2, 73a Sozialgerichtsgesetz <SGG>, 114 Zivilprozessordnung). Dies gilt indes nicht, soweit der Kläger sinngemäß (als „Minus“ im Verhältnis zum Anspruch auf Geldentschädigung) einen Anspruch auf Feststellung der Überlänge des Ausgangsverfahrens („kleiner Entschädigungsanspruch“) geltend machen will. Eine solche Klage hätte hinreichende Aussicht auf Erfolg.

Die beabsichtigte Entschädigungsklage ist zwar zulässig. Entschädigung in Geld erhält ein Verfahrensbeteiligter gemäß § 198 Abs. 3 Satz 1 GVG nur, wenn er bei dem mit der Sache befassten Gericht die Dauer des Verfahrens gerügt hat. Die Verzögerungsrüge kann erst erhoben werden, wenn Anlass zur Besorgnis besteht, dass das Verfahren nicht in einer angemessenen Zeit abgeschlossen wird (§ 198 Abs. 3 Satz 2 Halbs 1 GVG). Dieser Obliegenheit ist der Antragsteller mit den Verzögerungsrügen vom 24. August 2020 bzw 16. Juli 2021 im Ausgangsverfahren – S 22 R 635/14 – (Sozialgericht <SG> Berlin) und erneut im Berufungsverfahren – L 22 R 624/21 – (LSG Berlin-Brandenburg) am 8. November 2021, 7. September 2022 bzw 14. Februar 2023 nachgekommen. Der Antragsteller hat die (erste) Verzögerungsrüge auch nicht verfrüht erhoben. Denn zum Zeitpunkt ihrer erstmaligen Erhebung im August 2020 war das Ausgangsverfahren bereits seit mehr als sechs Jahren anhängig und jedenfalls ab Januar 2018 bis Januar 2020 vom SG nicht mehr verfahrensfördernd betrieben worden. Die erhebliche Zeitspanne gerichtlicher Inaktivität gab objektiv Anlass zur Besorgnis, das Verfahren werde unangemessen lang dauern (zu den Maßstäben für das Tatbestandsmerkmal "Anlass zur Besorgnis" einer Verfahrensverzögerung vgl zB Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 9. März 2023 – B 10 ÜG 2/21 R = SozR 4-1720 § 198 Nr 23 – Rn 28 f).

Nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG wird angemessen entschädigt, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter ei-                    nen Nachteil erleidet. Hat das Verfahren unangemessen lange gedauert, wird         ein Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, vermutet (§ 198 Abs. 2 Satz 1 GVG). Allerdings kann hierfür eine Geldentschädigung nur beansprucht werden, soweit nicht nach den Umständen des Einzelfalls eine Wiedergutmachung auf andere Weise, insbesondere durch die Feststellung des Entschädigungsgerichts gemäß § 198 Abs. 4 Satz 1 GVG, dass die Verfahrensdauer unangemessen war, ausreichend      ist (§ 198 Abs. 2 Satz 2 GVG). Da Letzteres vorliegend der Fall ist, hat die beabsichtigte Klage auf Geldentschädigung keine ausreichende Aussicht auf Erfolg.

Vorliegend ist bei der im PKH-Verfahren (nur) gebotenen summarischen Prüfung von gerichtlichen Inaktivitätszeiten beim SG für folgende Kalendermonate auszugehen: November 2015 bis Dezember 2016 (14 Monate), Januar 2018 bis Januar 2020 (25 Monate), Juni 2020 (1 Monat, März 2020 bis Mai 2020 sind wegen der Corona-Pandemie nicht als Inaktivitätszeit zu berücksichtigen, vgl BSG, Urteil vom 11. Juni 2024 – B 10 ÜG 3/23 R –), November 2020 bis August 2021 (10 Monate). Beim LSG sind folgende Inaktivitätszeiten zu vermerken: Januar 2022 bis September 2023 (21 Monate). Inaktivitätszeiten liegen damit für beide Instanzen im Umfang von insgesamt 73 Monaten vor.

Die Angemessenheit der Dauer eines sozialgerichtlichen Verfahrens ist nach ständiger Rechtsprechung des BSG in drei Schritten zu prüfen(stRspr; zB BSG, Urteil vom 24. März 2022 - B 10 ÜG 4/21 R - BSGE 134, 32 = SozR 4-1720 § 198 Nr 21 - Rn 15 ff). Die maßgebliche Zeiteinheit ist hierbei der Kalendermonat. Den Ausgangspunkt und ersten Schritt der Angemessenheitsprüfung bildet die in § 198 Abs. 6 Nr. 1    GVG definierte Gesamtdauer des Gerichtsverfahrens von der Einleitung bis zum rechtskräftigen Abschluss. In einem zweiten Schritt ist der Ablauf des Verfahrens insbesondere an den von § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG genannten Kriterien zu messen, bei denen es sich um unbestimmte Rechtsbegriffe handelt, die auch unter Heranziehung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sowie des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) auszulegen und zu vervollständigen sind. Bei der Feststellung der Tatsachen, die zur Ausfüllung der von § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG genannten unbestimmten Rechtsbegriffe erforderlich sind und bei deren Subsumtion im Einzelfall kommt dem Entschädigungsgericht ein erheblicher tatrichterlicher Beurteilungsspielraum zu. Auf dieser Grundlage ergibt schließlich die wertende Gesamtbetrachtung und Abwägung aller Einzelfallumstände in einem dritten Schritt, ob die Verfahrensdauer die äußerste Grenze des Angemessenen deutlich überschritten und deshalb das Recht auf Rechtsschutz in angemessener Zeit verletzt hat. Dabei ist grundsätzlich davon auszugehen, dass vorbehaltlich besonderer Umstände des Einzelfalls die Verfahrensdauer jeweils insgesamt noch als angemessen anzusehen ist, wenn eine Gesamtverfahrensdauer, die zwölf Kalendermonate je Instanz übersteigt, auf vertretbarer aktiver Verfahrensgestaltung des Gerichts beruht. Auch insoweit steht dem Entschädigungsgericht ein Beurteilungsspielraum zu.

Ausgehend von diesen Grundsätzen ist zwar unter Berücksichtigung der in beiden Instanzen zuzugestehenden Inaktivitätszeiten von jeweils 12 Monaten grundsätzlich von einer nicht mehr als angemessen anzusehenden Verzögerung für beide Instanzen von insgesamt 49 Kalendermonaten auszugehen. In Rechnung zu stellen ist vorliegend indes, dass im Ausgangsverfahren bereits durch die Mitteilung der Beklagten vom 13. April 2015, dass die vom Juli 2005 bis November 2006 geleisteten Beiträge aus dem Arbeitslosengeld II zu Unrecht gezahlt und storniert worden seien, dem Begehren des Antragstellers, soweit es die Beklagte betraf, entsprochen und der Antragsteller insoweit letztlich klaglos gestellt wurde. Die weiteren erhobenen Feststellungsklagen waren offensichtlich unzulässig.

Eine Wiedergutmachung auf sonstige Weise kommt unter Würdigung der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 und Art. 41 Europäische Menschenrechtskonvention zwar nur ausnahmsweise in Betracht, nämlich dann, wenn das zu beurteilende Verfahren sich durch eine oder mehrere entschädigungsrelevante Besonderheiten in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht von vergleichbaren Fällen abhebt (vgl zB BSG, Urteil vom 12. Februar 2015 – B 10 ÜG 11/13 R – juris – Rn 36). Dies aber ist hier der Fall. Denn das Ausgangsverfahren hatte für den Antragsteller aus der Sicht eines verständigen Dritten in seiner Lage nach der Erklärung der Beklagten, die im Übrigen auch weiterhin von einer Befreiung des Klägers von der Versicherungspflicht ausgeht, keine besondere Bedeutung mehr (vgl zB BSG, Urteile vom 21. Februar 2013 –B 10 ÜG 1/12 KL – juris – Rn 45; vom 3. September 2014 – B 10 ÜG 2/13 R – Rn 52; vom 12. Februar 2015 - B 10 ÜG 11/13 R - Rn 36 sowie vom 12. Dezember 2019 - B 10 ÜG 3/19 R – juris – Rn 40), und zwar weder in materieller noch in ideeller Hinsicht. Der erhebliche Zeitablauf hat sich nach dem „Anerkenntnis“ der Beklagten auch nicht nachteilig auf die Verfahrensposition des Antragstellers ausgewirkt. Dieser hat auch keine nachvollziehbaren Gründe aufgezeigt, weshalb vom genannten Zeitpunkt an die Bedeutung des Ausgangsverfahrens jedenfalls bei einer verständigen Würdigung nicht mehr nur als gering einzustufen wäre.

Es ist danach davon auszugehen, dass der Antragsteller neben der bloßen Überlänge des Verfahrens keinen weiteren immateriellen Schaden erlitten hat. Es wäre daher im vorliegenden Einzelfall ausreichend, dass das Entschädigungsgericht ge-   mäß § 198 Abs. 4 Satz 1 GVG feststellt, dass die Verfahrensdauer unangemessen war (§ 198 Abs. 2 Satz 2 GVG). Eine Geldentschädigung kann der Antragsteller nicht beanspruchen. PKH für eine hierauf gerichtete Entschädigungsklage ist daher nicht zu gewähren. PKH ist aber für eine (isolierte) Klage auf Feststellung der Überlänge des Ausgangsverfahrens zu bewilligen, die als gesondert einklagbarer Anspruch geltend gemacht werden kann (vgl BSG, Urteil vom 15. Dezember 2015 – B 10 ÜG 1/15 R = SozR 4-1720 § 198 Nr 13 – Rn 15 – in Abgrenzung zur Rspr des Bundesgerichtshofs <BGHZ 199,190; 200,20>; vgl auch Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 11. Juli 2013 – 5 C 23/12 D = BVerwGE 147,146 – Rn 63ff).

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das BSG angefochten werden (§ 177 SGG).

Rechtskraft
Aus
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