Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dortmund vom 09.11.2023 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten steht die Zuerkennung von Pflegeleistungen ab November 2021 im Streit.
Die am 00.00.0000 geborene Klägerin leidet im Wesentlichen unter einem dezenten Bewegungsdefizit bei allgemeinem Gelenkverschleiß. Sie ist bei der Beklagten gegen das Risiko Pflegebedürftigkeit versichert und lebt (allein) in einer Erdgeschosswohnung in einem Mehrfamilienhaus.
Am 24.11.2021 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung von Pflegeleistungen. Daraufhin beauftragte die Beklagte den Medizinischen Dienst Westfalen-Lippe (MD) mit der Erstellung eines Gutachtens, das die Pflegefachkraft W. nach Lage der Akten und auf Grundlage eines strukturierten Telefoninterviews am 16.12.2021 erstattete. Insgesamt ermittelte sie 0,00 gewichtete Punkte entsprechend keinem Pflegegrad. Durch Bescheid vom 16.12.2021 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin dem Gutachten des MD vom selben Tage folgend ab.
Mit Schreiben vom 11.01.2022 erhob die Klägerin gegen den Bescheid vom 16.12.2021 Widerspruch, zu dessen Begründung sie im Wesentlichen ausführte, unter starken Schmerzen zu leiden. Notwendige Hilfe sei kaum zu finden, was u.a. zu psychischen Problemen führen könne. Die Beklagte beauftragte den MD mit der Erstellung eines weiteren Gutachtens, das die Pflegefachkraft M. auf Grundlage eigener Befunderhebung im häuslichen Wohnumfeld der Klägerin am 28.10.2022 erstattete. Insgesamt ermittelte auch er 0,00 gewichtete Punkte entsprechend keinem Pflegegrad. Mit Widerspruchsbescheid vom 09.02.2023 wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten den Widerspruch der Klägerin dem folgend als unbegründet zurück.
Mit ihrer am 21.03.2023 vor dem Sozialgericht Dortmund erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen auf ihr bisheriges Vorbringen Bezug genommen und geltend gemacht, nichts von dem, was sie vorgetragen habe, finde sich in den beiden Gutachten wieder.
Die Klägerin hat (in der Antragsfassung durch das Sozialgericht) beantragt,
die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 16.12.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.02.2023 zu verurteilen, ihr Leistungen der Pflegeversicherung zu gewähren.
Die Beklagte hat (in der Antragsfassung durch das Sozialgericht) beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat die angefochtenen Bescheide für rechtmäßig gehalten und im Übrigen ausgeführt, dass die Klagefrist nicht eingehalten worden sei.
Auf eine Nachfrage des Sozialgerichts, wann der Klägerin der Widerspruchsbescheid zugegangen sei (Schreiben vom 21.04.2023, vom 29.06.2023 und vom 22.08.2023), hat die Klägerin u.a. mitgeteilt, dass sie Posteingänge nicht bestätigen könne, „da unvollständig fehlerhaft usw“.
Das Sozialgericht hat nach vorheriger Anhörung der Beteiligten (Schreiben vom 22.08.2023) die Klage durch Gerichtsbescheid vom 09.11.2023 abgewiesen. Es hat ausgeführt:
„Die Klage hat keinen Erfolg.
Die Kammer konnte gemäß § 105 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Gerichtsbescheid entscheiden, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten wurden hierüber zuvor angehört.
Die gemäß § 54 Abs. 1 SGG erhobene kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage ist bereits unzulässig, da sie nicht fristgerecht erhoben wurde.
Gemäß § 87 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGG ist die Klage binnen eines Monats nach Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides zu erheben. Gemäß § 37 Abs. 2 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) gilt ein schriftlicher Verwaltungsakt, der im Inland durch die Post übermittelt wird, am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben. Der Widerspruchsbescheid vom 09.02.2023 wurde der Klägerin postalisch per einfachem Schreiben übersandt. Er gilt damit seit dem 12.02.2023 als zugestellt. Etwas anderes hat die Klägerin auch binnen der gesetzten Frist weder dargelegt noch behauptet. Die einmonatige Klagefrist lief sodann am 13.03.2023 ab, da der 12.03.2023 ein Sonntag war (vgl. §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2, 193 Bürgerliches Gesetzbuch - BGB). Die Klage ging bei Gericht jedoch erst am 21.03.2023 ein und damit nach Ablauf der einmonatigen Klagefrist. Die Einhaltung der Klagefrist stellt eine Sachurteilsvoraussetzung dar, die das Gericht zwingend zu beachten hat. Sie ist eine gesetzliche Frist, die weder verlängert noch abgekürzt werden kann (vgl. Wolff-Dellen in: Breitkreuz/Fichte, SGG-Kommentar, 2. Aufl. 2014, § 87 Rn. 5).
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG und trägt dem Unterliegen der Klägerin Rechnung.
Die Berufung gegen dieses Urteil ist gem. § 143 SGG zulässig.“
Gegen den der Klägerin am 16.11.2023 zugestellten Gerichtsbescheid hat sie am 21.12.2023 Berufung eingelegt. Zur Begründung nimmt sie Bezug auf ihren Vortrag im erstinstanzlichen Verfahren. Ihr sei es auf Grund einer Erkrankung zunächst nicht möglich gewesen, die Berufung einzureichen.
Im Termin zur Erörterung des Sachverhalts am 13.06.2024 hat die Klägerin erklärt, ihr körperlicher Zustand sei unverändert, so wie er sich nach ihrem Erleben seit bereits 30 Jahren darstelle. Eine wesentliche Verschlechterung sei zwischenzeitlich nicht eingetreten. Das Verfahren führe sie fort, weil sie das System der Pflegeversicherung für Schmerzpatienten für nicht adäquat bzw. zutreffend erachte (Sitzungsniederschrift vom 13.06.2024).
Die Klägerin beantragt (sinngemäß)
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dortmund vom 09.11.2023 abzuändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 16.12.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.02.2023 zu verurteilen, ihr ab Antragstellung (24.11.2021) Pflegeleistungen zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie führt aus, der Widerspruchsbescheid sei am 10.02.2023 abgesandt worden. Dies ergebe sich aus einem Vermerk, der zwar im EDV-System (Maske) der Beklagten ersichtlich, jedoch nicht zur Verwaltungsakte gelangt sei.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen. Der Inhalt dieser Akten ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
A. I. Der Senat konnte in Abwesenheit der Klägerin entscheiden, da diese in der ordnungsgemäß zugestellten Terminsmitteilung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist (§ 110 Abs. 1 Satz 2 SGG) und der Sachverhalt geklärt ist.
II. Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist nicht begründet.
1. Die Klägerin hat die Berufung nicht verspätet erhoben. Nach § 158 Satz 1 SGG ist die Berufung als unzulässig zu verwerfen, wenn sie nicht in der gesetzlichen Frist eingelegt wurde. Zwar hat die Klägerin die Berufung nicht innerhalb der gesetzlichen Monatsfrist (§ 151 Abs. 1 SGG i.V.m. § 105 Abs. 1 Satz 3 SGG) eingelegt. Die Monatsfrist begann vorliegend mit der Zustellung des Gerichtsbescheides an die Klägerin (§ 64 Abs. 1 SGG), welche am 16.11.2023 (Postzustellungsurkunde) erfolgte. Die Berufungsfrist endete gemäß § 64 Abs. 2 und 3 SGG mit Ablauf des 18.12.2023 (Montag). Die Klägerin hat – insoweit verspätet – am 21.12.2023 beim Landessozialgericht (zur Niederschrift) Berufung erhoben. Jedoch ist vorliegend statt der Monatsfrist (§ 151 SGG) die Jahresfrist (§ 66 Abs. 2 SGG) maßgeblich. Denn die Klägerin ist mit dem angefochtenen Gerichtsbescheid nicht ordnungsgemäß (§ 66 SGG) über die Art des möglichen Rechtsbehelfs, den Ort seiner Anbringung und die einzuhaltende Frist belehrt worden. Soweit die Rechtsmittelbelehrung ausführt, die elektronische Form werde durch Übermittlung eines elektronischen Dokuments gewahrt, dass „für die Bearbeitung durch das Gericht geeignet ist und von der verantwortenden Person qualifiziert elektronisch signiert ist und über das elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) eingereicht wird oder von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg gem. § 65 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingereicht wird“, begegnet dies insoweit Bedenken, als sich das Erfordernis der Einreichung durch das EGVP nicht in § 65a Abs. 3 Abs. 3 SGG findet und die Rechtsmittelbelehrung insoweit jedenfalls missverständlich war. Die insoweit fehlerhafte Rechtsmittelbelehrung hat die Anwendbarkeit der Jahresfrist (§ 66 Abs. 2 SGG) zur Folge. Diese hat die Klägerin jedenfalls gewahrt.
2. Das Sozialgericht hat die zulässig erhobene Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG) der Klägerin im Ergebnis zu Recht abgewiesen.
a) Die Klage ist zulässig; sie ist insbesondere fristgerecht erhoben. Gemäß § 87 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGG ist die Klage binnen eines Monats nach Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides zu erheben. Gemäß § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X gilt ein schriftlicher Verwaltungsakt, der im Inland durch die Post übermittelt wird, am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben. Der Widerspruchsbescheid vom 09.02.2023 wurde der Klägerin postalisch per einfachem Schreiben übersandt. Er gilt nicht seit dem 12.02.2023 als zugestellt.
aa) Zwar scheitert die Zugangsvermutung (§ 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X) als gesetzlich normierter Anscheinsbeweis (BSG, Urteil vom 09.12.2008 – B 8/9b SO 13/07 R Rn. 16) nicht an § 37 Abs. 2 Satz 3 SGB X. Weder ist der Widerspruchsbescheid nicht oder (nachweisbar) zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen, noch bestehen hierüber Zweifel, die die Behörde durch den Nachweis des Zeitpunkts des Zugangs ausräumen müsste. Der Zugangszeitpunkt ist nur dann von der Behörde nachzuweisen, wenn der Empfänger die Vermutung durch entsprechenden Tatsachenvortrag erschüttert. Gefordert wird ein substantiiertes Bestreiten in der Weise, dass der Betreffende einen abweichenden Geschehensablauf schlüssig vorträgt und dadurch zumindest Zweifel begründet, weil anderenfalls die Zugangsvermutung wertlos wäre (BSG, Urteil vom 09.12.2008 – B 8/9b SO 13/07 R Rn. 16 m.w.N.). Andererseits dürfen die Anforderungen an die Substantiierungspflicht nicht überspannt werden (BSG, Urteil vom 09.12.2008 – B 8/9b SO 13/07 R Rn. 16 m.w.N.). Es muss deshalb (schon) ausreichen, wenn der Zugang überhaupt ausdrücklich bestritten oder ein späterer Zugang konkret behauptet wird (BSG, Urteil vom 09.12.2008 – B 8/9b SO 13/07 R Rn. 16). Es kann dahinstehen, ob der auf der der Klageschrift beigefügten Kopie des angefochtenen Widerspruchsbescheids angebrachte Datumsvermerk „24.2.23“ die Behauptung eines späteren Zugangs darstellt. Diese wäre jedenfalls nicht hinreichend ausdrücklich. Weitere Angaben hat die Klägerin hierzu, trotz mehrfacher Aufforderung, nicht gemacht.
bb) Die Zugangsvermutung (§ 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X) findet jedoch deshalb keine Anwendung, weil der Tag der Aufgabe zur Post nicht in den Akten vermerkt ist. Dabei genügt ein zu den Akten genommener Einlieferungsvermerk, auf dem der Tag der Aufgabe zur Post vermerkt wurde, diesen Anforderungen. Vermerken bedeutet lediglich, dass der Vorgang in den betreffenden Akten so erwähnt wird, dass auch eine mit der Sache bisher nicht befasste Person ihn als geschehen erkennen kann. Dementsprechend reicht jeder in den Akten befindliche Hinweis, der Aufschluss über den Tag der Aufgabe des Briefes zur Post gibt (BSG, Urteil vom 09.12.2008 – B 8/9b SO 13/07 R Rn. 15 m.w.N.). Nicht erforderlich ist, dass der Hinweis sich aus dem Verwaltungsakt selbst ergibt bzw. ein Vermerk über die Aufgabe zur Post auf dem Verwaltungsakt angebracht ist. Ein wie auch immer gearteter Vermerk, der den Tag der Aufgabe zur Post bezeichnet, findet sich in den Verwaltungsakten der Beklagten nicht. Insoweit ist auch unerheblich, wenn die Beklagte ausführt, die Absendung des Widerspruchsbescheids am 10.02.2023 ergebe sich aus einem Eintrag im EDV-System der Beklagten. Denn dieser Eintrag wäre jedenfalls nicht zur Verwaltungsakte gelangt. Damit findet die Zugangsfiktion des § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X hier keine Anwendung (vgl. BSG, Urteil vom 03.03.2009 – B 4 AS 37/08 R Rn. 17; für § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO siehe BFH, Beschluss vom 26.02.2021 – X B 108/20 Rn. 9; vgl. auch Pattar in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 3. Aufl., § 37 SGB X <Stand: 12.04.2024>, Rn. 101 m.w.N.; Littmann in: Hauck/Noftz SGB X, 1. Ergänzungslieferung 2024, § 37 SGB 10, Rn. 29 m.w.N.).
b) Die Klage ist jedoch unbegründet. Der Bescheid der Beklagten vom 16.12.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.02.2023, mit dem die Beklagte es abgelehnt hat, der Klägerin Pflegeleistungen zu gewähren, ist rechtmäßig.
aa) Die Bewilligung von Leistungen richtet sich vorliegend nach dem zum Zeitpunkt der Antragstellung (vgl. § 140 Abs. 1 SGB XI) bereits maßgeblichen Recht in Gestalt des ab dem 01.01.2017 in Kraft getretenen Zweiten Pflegestärkungsgesetz (BT-Drs. 18/5926 = BR-Drs. 354/15).
bb) Nach den in den §§ 14, 15 SGB XI niedergelegten Grundsätzen ist der angegriffene Bescheid der Beklagten rechtmäßig. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Gewährung von Leistungen der Pflegeversicherung. Der Senat stützt sich insoweit auf die nachvollziehbaren Ausführungen des MD vom 28.10.2022. Die Pflegefachkraft M. hat auf Grund eigener Befunderhebung im häuslichen Wohnumfeld der Klägerin insgesamt 0,00 gewichtete Punkte entsprechend keinem Pflegegrad ermittelt. Seine Ausführungen sind schlüssig und nachvollziehbar. Hierauf kann zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen werden. Das Vorbringen der Klägerin im Rahmen der Klage ist nicht geeignet, die Ausführungen des MD in Zweifel zu ziehen. Fachmedizinisch belegte Anhaltspunkte, warum die Feststellungen des MD zur Einschätzung des Umfangs der Pflegebedürftigkeit unzutreffend sein sollten, lassen sich den Ausführungen der Klägerin nicht entnehmen und sind auch sonst nicht ersichtlich. Auch das Berufungsvorbringen der Klägerin vermag hieran nichts zu ändern. Die Klägerin hat insoweit im Rahmen der Berufung vorgetragen, ihr körperlicher Zustand sei unverändert, so wie er sich nach ihrem Erleben seit bereits 30 Jahren darstelle. Eine wesentliche Verschlechterung sei zwischenzeitlich nicht eingetreten.
B. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183 Satz 1, 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.
C. Anlass, die Revision zuzulassen, besteht nicht (§ 160 Abs. 2 SGG).