L 6 SB 2329/18

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6.
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 17 SB 4377/16
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 SB 2329/18
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 12. Juni 2018 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.



Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Feststellung der Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „Hilflosigkeit“ (H) streitig.

Der 1953 geborene Kläger leidet seit seiner Jugend an einer hypokaliämischen periodischen Lähmung in Verbindung mit einer gesicherten vakuolären Myopathie mit sensomotorischer Polyneuropathie unklarer Genese. Er stammt aus der ehemaligen Deutschen Demokratischen Repu­blik (DDR), wo er nach seinem Schulabschluss zunächst als Baufacharbeiter arbeitete und dann erfolgreich eine Lehre als Zimmermann absolvierte. 1986 übersiedelte er in die damalige Bundesrepublik Deutschland und war dann bis 1998 als Zimmermann berufstätig. Mit seiner ehemaligen Lebensgefährtin hat er eine Tochter, mit beiden besteht kein Kontakt mehr. Seit dem Jahre 2004 ist er berentet und lebt seit 2014 in einem Seniorenwohnheim. Seitdem erhält er auch Pflegeleistungen nach der Pflegestufe I bzw. inzwischen dem Pflegegrad 2. Zuletzt waren bei ihm ein Grad der Behinderung (GdB) von 80 seit dem 3. Juli 2014 sowie das Vorliegen der Voraussetzungen der Nachteilsausgleiche „B“ (ständige Begleitung) und „G“ (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) festgestellt worden (Bescheid vom 24. September 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Januar 2015). Dem lag die versorgungsärztliche Stellungnahme von G1 (periodische hypokaliämische Paralyse, Polyneuropathie, chronisches Schmerzsyndrom: Einzel-GdB 70; Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Wirbelgleiten, Funktionsbehinderung des linken Schultergelenks: Einzel-GdB 20; Bluthochdruck, Herzleistungsminderung: Einzel-GdB 10, Reflux-Krankheit der Speiseröhre: Einzel-GdB 10) zugrunde.

Im einem früheren Klageverfahren (S 6 SB 423/15) beim Sozialgericht Karlsruhe (SG) um die Feststellung der Voraussetzungen des Merkzeichens „aG“ (außergewöhnliche Gehbehinderung) wurde der Kläger neurologisch durch L1 begutachtet. Dieser kam aufgrund der Untersuchung vom 25. Februar 2016 zu dem Ergebnis, es fänden sich höhergradige Paresen (Lähmungen) der proximalen Beinmuskulatur. Zwar sei die Hüftbeugung beidseits stark beeinträchtigt, auf Grund der Kraftgrade bei der Adduktion und Abduktion der Hüftgelenke sei aber davon auszugehen, dass Ausgleichsbewegungen möglich seien, so dass sich der Kläger bei entsprechender Technik im Stand noch ausreichend stabilisieren könne. Das Gehen funktioniere entsprechend auf einer ebenen Unterlage, aber nur für kurze Strecken. An der oberen Extremität finde sich eine beginnende proximale Schwäche mit atrophischer Bizeps-Mus­ku­latur links ausgeprägter als rechts, jedoch seien die Alltagsaktivitäten noch nicht relevant beeinträchtigt. Der Kläger sei in der Lage, selbstständig zu essen und zumindest Teile der Körperpflege mit zu übernehmen. Erkennbar sei ein hoher Grad an medizinischem Sachverstand für seine Krankheitsbilder, die von ihm zum Teil in medizinisch korrekter Terminologie geschildert würden. Er befände sich in einem ausgesprochen guten Pflegezustand mit modischer Frisur und alltagsadäquater Kleidung. Die Stimmung sei situationsadäquat bei guter affektiver Schwingungs­fähigkeit ohne Hinweise auf inhaltliche oder formale Denkstörungen, das Antriebsniveau und der Wille seien nicht beeinträchtigt, es zeige sich eine gute Kooperation. Aufgrund der proximalen Muskelschwäche komme es zur Überstreckung der Lendenwirbelsäule (LWS), zudem bestünden degenerative Veränderungen mit bekanntem Wirbelgleiten L5/S1, was entsprechend zu Schmerzsensationen vor allem im Sitzen und bei jeglicher körperlichen Belastung führen könne. Der Beklagte gab in jenem Rechtsstreit ein Anerkenntnis für die Zuerkennung des Merkzeichens „aG“ ab 3. Juli 2014 ab.

Am 17. September 2015 beantragte der Kläger, ihm auch den Nachteilsausgleich „H“ zuzuerkennen, und führte aus, er benötige ständige Bereitschaft zur Hilfeleistung, insbesondere eine „Aufsteh-Hilfe“ auch nach dem Stuhlgang. Er verwies auf das Pflegegutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Baden-Württemberg (M1) vom 28. Februar 2014 (tägliche Hilfe bei der Ganzkörperwäsche insbesondere im Bereich des Rückens und Unterkörperbereichs, kein Hilfebedarf im Bereich der Ernährung, Hilfe im Bereich der Mobilität beim Aufstehen und Zubettgehen; bei schlechter Tagesform sitze der Kläger im Rollstuhl, den er weitgehend selbstständig schieben könne, beim Gehen müsse er personell begleitet werden, die Alltagskompetenz sei nicht eingeschränkt; der grundpflegerische Hilfebedarf betrage im Bereich der Körperpflege 25 Minuten und im Bereich der Mobilität ebenfalls 25 Minuten).

Zur weiteren Aufklärung des Sachverhaltes holte der Beklagte eine Auskunft beim behandelnden Q1 ein, der angab, die Myopathie führe zu einer erheblichen Bewegungseinschränkung bzw. Kraftlosigkeit und damit zu einer „Fast-Verunmögli­chung“ des Gehens. Der Kläger könne sich aus sitzender Position allein nicht aufrichten, Treppen steigen sei undenkbar. Es würden dadurch bei fast allen Verrichtungen des täglichen Lebens Hilfen benötigt. Z1 führte in seiner versorgungsärztlichen Stellungnahme aus, eine Grundpflege von 50 Minuten reiche für das Merkzeichen „H“ nicht aus, es müssten Pflegezeiten von mindestens 120 Minuten zusammenkommen. Mit Bescheid vom 16. September 2016 lehnte der Beklagte daraufhin den Antrag ab.

Mit seinem dagegen eingelegten Widerspruch machte der Kläger geltend, es bestehe „Mobilitäts-Hilflosigkeit“ für das Verlassen der Pflegeeinrichtung. So besuche er zweimal wöchentlich mit dem Taxi das Thermalbad, wobei er „Ausstiegshilfe“ benötige, auch müsse er dort im Unterkörperbereich zweimal aus- und angekleidet werden. Nachdem S1 in seiner versorgungsärztlichen Stellungnahme daran festhielt, dass kein Pflegebedarf von 120 Minuten bestehe, erließ der Beklagte den zurückweisenden Widerspruchsbescheid vom 17. November 2016. Die Feststellung der Pflegestufe I nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) reiche für die Annahme von Hilflosigkeit im Sinne der Zuerkennung des Merkzeichens „H“ nicht aus.

Hiergegen hat der Kläger am 19. Dezember 2016 erneut Klage beim SG erhoben. Er hat vorgetragen, wegen der massiven Zunahme der Krankheitssymptome seit 2013 habe er nicht mehr allein in seiner Wohnung in R1 bleiben können, auch nicht mit Hilfe eines mobilen Pflegedienstes. So sei er gezwungen gewesen, mit 60 in ein Seniorenheim umzuziehen, da er keine Angehörigen habe, die in der Lage wären, ihn zu versorgen. Es liege eine ausgeprägte schwere Steh- und Gangstörung vor. Es sei eine ständige Pflegebereitschaft, auch nachts, erforderlich.

Zur weiteren Aufklärung des Sachverhaltes hat das SG die behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen gehört.

Q1 hat mitgeteilt, das Gehen mit Abstützung an der Wand sei möglich, selbstständiges An- und Auskleiden ebenso. Die Verrichtung der Notdurft sei bei Unmöglichkeit des Aufrichtens aus sitzender Position erschwert. Gleiches gelte für Spaziergänge und Theaterbesuche. Der Zeuge hat den Bericht der Neurologischen Ambulanz des Universitätsklinikums X, G1, über die Untersuchung vom 28. April 2016 vorgelegt, wonach der Kläger berichtet habe, Lähmungserscheinungen seit bereits vielen Jahren nicht mehr gehabt zu haben. Bei der Untersuchung habe sich kein klarer Hinweis auf eine relevante Polyneuropathie gezeigt, so dass ein stabiler Befund anzunehmen sei. Da es zu keinen periodischen Paralysen mehr komme, werde psychotherapeutische Anwendung, insbesondere Krankengymnastik, zur Stabilisierung und Verbesserung des Gangbildes empfohlen.

Der K1 hat über eine erhebliche Beschwerdeprogredienz hinsichtlich der Symptomatik an der LWS seit 2000 berichtet. Die Hilfebedürftigkeit liege auf neurologischem Fachgebiet.

Die W1, die den Kläger von März 2014 bis Mai 2016 hausärztlich betreut hatte, hat über ihre wöchentlichen Besuche in dem Pflegeheim berichtet. Der Kläger habe nur allgemeine Untersuchungen toleriert, weiterführende habe er nur von Fachärzten spezieller Disziplinen durchführen lassen wollen. Er habe seitdem keine weitere hausärztliche Betreuung mehr gewünscht. Die ausgeprägte Gangstörung habe sich verschlechtert, ebenso die Grunderkrankung, die erwartungsgemäß zu seiner Pflegebedürftigkeit geführt habe. Bereits im Mai 2016 sei er abhängig von Hilfe im Alltag gewesen, er habe die Toilette nicht alleine verlassen können, auch eine Fortbewegung aus dem Pflegeheim sei ohne Hilfe nicht möglich gewesen.

Der K1 hat angegeben, aus seiner Sicht lägen die Merkmale für die Zuerkennung des Merkzeichens „H“ nicht vor. Bei seiner Behandlung seit 2016 habe sich keine Veränderung feststellen lassen.

Der Beklagte hat hierzu eine versorgungsärztliche Stellungnahme von R2 vorgelegt, wonach sich die Voraussetzungen für das Merkzeichen „H“ auch in Auswertung der sachverständigen Zeugenaussagen nicht begründen ließen.

Der Kläger hat noch einen Befundbericht der M1 über die Untersuchung vom 22. Februar 2018 vorgelegt, wonach bei ihm ein stockpflichtiger Gang bestehe. Ein freies Aufstehen aus dem Stuhl sei nicht möglich. Es liege ein fortgeschrittener, schmerzhafter Symptomenkomplex mit deutlicher Atrophie des Schulter-Arm-Gürtels, der Rumpfmuskulatur und des Beckengürtels vor. Im Sitzen sei der Rumpf stabil, nicht indessen beim Stehen.

In der mündlichen Verhandlung vom 12. Juni 2018 hat der Kläger dargelegt, dass er den Rollstuhl aufgrund seiner körperlichen Verfassung nicht nutzen könne, Sitzen sei nur unter Schmerzen möglich.

Mit Urteil vom gleichen Tag, der klägerischen Bevollmächtigten zugestellt am 21. Juni 2018, hat das SG die Klage mit der Begründung abgewiesen, der Kläger habe keinen Anspruch auf die Zuerkennung des Merkzeichens „H“, da er keiner Hilfe in erheblichem Umfang bedürfe. Sein Hilfebedarf bestehe im Wesentlichen bei der Mobilität, zusätzlich beim An- und Auskleiden des Unterkörpers sowie der Körperpflege in Form der Unterstützung beim Waschen des Rückens und des Unterkörpers. Nach dem Pflegegutachten des M1 liege der Hilfebedarf unverändert bei 50 Minuten täglich im Bereich der Grundpflege. Darüber hinausgehende Bereiche, die fremde Hilfe erforderten, habe der Kläger nicht geltend gemacht und seien auch nicht ersichtlich. Danach sei er nur in relativ geringem Umfang, täglich unter einer Stunde, auf fremde Hilfe angewiesen. Das Gericht verkenne nicht, dass er aufgrund seiner Erkrankungen nicht alleine aufstehen könne, insbesondere nach der Verrichtung der Notdurft, und personelle Unterstützung beim Stehen und Gehen benötige. Selbst unter Berücksichtigung einer ständigen Bereitschaft, auch nachts, zur Unterstützung bei der Fortbewegung und dem Aufrichten sei ein erheblicher Hilfebedarf nur betreffend diese Verrichtung anzunehmen, welches nicht den Anforderungen an die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „H“ entspreche.

Hiergegen hat der Kläger am 29. Juni 2018 Berufung beim Landessozialgericht Baden-Würt­temberg (LSG) eingelegt, zu deren Begründung er vorträgt, aufgrund seiner körperlichen Verfassung könne er die Mahlzeiten im Speisesaal nur im Stehen, angelehnt an eine hölzerne Trennwand, einnehmen. Die Minutenpflege sei mit dem Zweiten Pflegestärkungsgesetz (PSG II) abgeschafft worden, weswegen es auch im Rahmen des Merkzeichens „H“ nicht mehr auf den zeitlichen Umfang des grundpflegerischen Hilfebedarfs ankommen könne.

Auf Nachfrage des Senats hat der Kläger ergänzend mitgeteilt, dass er aufgrund des Bescheides seiner Pflegekasse vom 18. Oktober 2016 nunmehr seit 1. Januar 2017 in den Pflegegrad 2 eingestuft sei.

Er beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 12. Juni 2018 und den Bescheid vom 16. September 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. November 2016 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, das Vorliegen der Voraussetzungen für die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs „H“ festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er trägt ergänzend vor, dass nach den Beschlüssen der 16. Sitzung der Arbeitsgemeinschaft der versorgungsmedizinisch tätigen Leitenden Ärzte der Länder und der Bundeswehr vom 13. Dezember 2016 in der Regel - nur - bei Pflegegrad 4 und 5 davon ausgegangen werden könne, dass die Kriterien für das Merkzeichen „H“ erfüllt seien. Ausnahmen hiervon seien nur auf Grund entsprechender einzelfallbezogener Besonderheiten möglich. Diese Voraussetzungen lägen bei dem Kläger nicht vor. Er sei bislang nur in die Pflegestufe I eingestuft gewesen und weise nach neuem Recht den Pflegegrad 2 auf.

Mit Beschluss vom 29. August 2018 hat der Senat den Antrag des Klägers auf die Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt.

Nach Erhalt der Ladung zur mündlichen Verhandlung hat der Kläger mit Schriftsätzen vom 1. und vom 20. Oktober 2018 mitgeteilt, er könne nicht erscheinen, aber auch kein Einverständnis mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung erteilen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz, die Verwaltungsakten des Beklagten sowie die beigezogene Akte L 6 SB 423/15 verwiesen.

Entscheidungsgründe

Der Senat kann über die Berufung entscheiden, obwohl für den Kläger in der mündlichen Verhandlung am 25. Oktober 2018 niemand erschienen ist. Auf diese Möglichkeit waren die Beteiligten in der Ladung hingewiesen worden (§ 110 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz [SGG]). Der Kläger hat auch keinen Verlegungsantrag gestellt, sodass keine Entscheidung nach § 202 SGG i.V.m. § 227 Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO) notwendig war. In den beiden Schriftsätzen vom 1. und 20. Oktober 2018 hat er nur mitgeteilt, nicht erscheinen zu können, er hat sich aber nicht gegen einen Fortgang des Verfahrens und eine Entscheidung gestellt, zumal er - mit Schriftsatz vom 9. Oktober 2018 - auch noch Ausführungen zur Sache gemacht hat.

Die Berufung des Klägers ist form- und fristgerecht eingelegt worden (§ 151 Abs. 1 SGG) sowie im Übrigen zulässig, insbesondere statthaft (§ 143, § 144 SGG), aber unbegründet.

Gegenstand des Rechtsmittelverfahrens ist das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 12. Juni 2016, mit dem die als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 SGG) erhobene Klage, mit welcher der Kläger unter Aufhebung des Bescheides vom 16. September 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. November 2016 die Verpflichtung des Beklagten zur Feststellung der Voraussetzungen des Merkzeichens „H“ ab Antragstellung verfolgt, abgewiesen worden ist. Diesem Begehren steht der Bescheid vom 16. September 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. November 2016 entgegen, da ihn das SG nicht zumindest teilweise aufgehoben hat. Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist für diese Klageart der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in den Tatsacheninstanzen (vgl. BSG, Urteil vom 2. September 2009 - B 6 KA 34/08 R -, juris, Rz. 28; ebenso Keller, in Meyer-La­dewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 12. Aufl. 2017, § 54 Rz. 34), hier also der 25. Oktober 2018.

Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen, da der Kläger keinen Anspruch auf die Feststellung der Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleiches „H“ hat. Daher sind die angefochtenen Verwaltungsentscheidungen rechtmäßig und verletzen ihn nicht in seinen Rechten (vgl. § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG).

Der Sachverhalt ist ausermittelt, insbesondere musste der Senat nicht, wie vom Kläger angeregt, eine Pflegedokumentation aus dem Seniorenzentrum, in dem dieser lebt, anfordern. Denn sein relevanter Hilfebedarf ist unverändert und somit insbesondere dem Pflegegutachten des M1 zu entnehmen, nachdem er bislang keinen Antrag auf Höherstufung des Pflegegrades gestellt hat, was aber bei einer Änderung der gesundheitlichen Verhältnisse zu erwarten wäre.

Der Anspruch des Klägers für die Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeichen „H“ richtet sich nach § 152 Abs. 4 und 5 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) in der aktuellen, seit 1. Januar 2018 geltenden Fassung des Art. 1 und 26 Abs. 1 des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz - BTHG) vom 23. Dezember 2016 (BGBl. I S. 3234) i.V.m. § 33b Abs. 3 Satz 3, Abs. 6 Satz 1 Einkommensteuergesetz (EStG) und § 3 Abs. 1 Nr. 2 Schwerbehinderten-Ausweisver­ord­nung (SchwbAwV).

Nach § 33b Abs. 6 Satz 3 EStG sind „hilflos“ im Sinnen von Abs. 3 Satz 3 und Abs. 6 Satz 1 jener Vorschrift solche Personen, die für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung ihrer persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedarf. Diese Voraussetzungen sind auch erfüllt, wenn die Hilfe in Form einer Überwachung oder einer Anleitung zu den genannten Verrichtungen erforderlich ist oder wenn die Hilfe zwar nicht dauernd geleistet werden muss, jedoch eine ständige Bereitschaft zur Hilfeleistung erforderlich ist (Abs. 6 Satz 4). Weitere Voraussetzung ist, dass der Steuerpflichtige die Pflege entweder in seiner Wohnung oder in der Wohnung des Pflegebedürftigen persönlich durchführt und diese Wohnung in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder in einem Staat belegen ist, auf den das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum anzuwenden ist (Satz 5).

Im Rahmen dieses Verfahrens überprüfen die Behörden der Versorgungsverwaltung und im Nachgang die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit nach § 152 Abs. 4 SGB IX nur die „gesundheitlichen“ Voraussetzungen des jeweiligen Nachteilsausgleichs, bei dem Merkzeichen „H“ also nur die Voraussetzungen aus § 33b Abs. 6 Satz 3 EStG. Ob der Kläger, sofern ihm das Merkzeichen H zuerkannt würde, überhaupt den Pauschbetrag nach § 33b Abs. 3 Satz 3 EStG geltend machen könnte, obwohl er sich nicht im Sinne von § 33b Abs. 6 Satz 5 EStG in seiner eigenen Wohnung pflegen lässt, obliegt der Entscheidung der Finanzämter und ggfs. im Nachgang der Gerichte der Finanzgerichtsbarkeit.

Gemäß den nach § 153 Abs. 2 SGB IV einschlägigen Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VG), Teil A, Nr. 4 sind diejenigen hilflos, die in Folge von Gesundheitsstörungen nicht nur vorübergehend für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung ihrer persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedürfen. Diese Voraussetzungen sind auch erfüllt, wenn die Hilfe in Form einer Überwachung oder einer Anleitung zu den genannten Verrichtungen erforderlich ist oder wenn die Hilfe zwar nicht dauernd geleistet werden muss, jedoch eine ständige Bereitschaft zur Hilfeleistung erforderlich ist. Damit greifen die VG, soweit die allgemeinen Ausführungen betroffen sind, die Definition der Hilflosigkeit in § 33b Abs. 6 Satz 3 und 4 EStG auf.

Häufig und regelmäßig wiederkehrende Verrichtungen zur Sicherung der persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages sind insbesondere An- und Auskleiden, Nahrungsaufnahme, Körperpflege, Verrichten der Notdurft. Daneben sind notwendige körperliche Bewegung, geistige Anregung und Möglichkeiten zur Kommunikation zu berücksichtigen. Eine ständige Bereitschaft ist dabei anzunehmen, wenn Hilfe häufig und plötzlich wegen akuter Lebensgefahr notwendig ist (VG, Teil A, Nr. 4 c). Der Umfang der notwendigen Hilfe bei den häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen muss erheblich sein. Dies ist nach den VG der Fall, wenn die Hilfe dauernd für zahlreiche Verrichtungen, die häufig und regelmäßig wiederkehren, benötigt wird. Einzelne Verrichtungen, selbst wenn sie lebensnotwendig sind und im täglichen Lebensablauf wiederholt vorgenommen werden müssen, genügen nicht. Außen vor bleiben auch Verrichtungen, die mit der Pflege der Person nicht unmittelbar zusammenhängen, wie zum Beispiel die hauswirtschaftliche Versorgung (VG, Teil A, Nr. 4 d). Nach der Rechtsprechung des BSG ist insofern regelmäßig erforderlich, dass ein Hilfebedarf bei mindestens drei Verrichtungen besteht und einen Zeitaufwand von mindestens zwei Stunden erreicht, wenn nicht weitere Umstände der Hilfeleistung (z.B. deren wirtschaftlicher Wert) zum Tragen kommen (vgl. BSG, Urteil vom 24. November 2015 - B 9a SB 1/05 R –, juris, Rz. 16 f.).

In Auswertung der aktuellen Befundberichte der behandelnden Ärzte, die sämtlich die Voraussetzungen des Merkzeichens „H“ nicht gesehen haben, des Gutachtens des L1 sowie des Pflegegutachtens vom 28. Februar 2014 hat das SG die Klage zu Recht abgewiesen.

Gemessen an den Kriterien, dass nach alter Rechtslage eine „Reihe von Verrichtungen“ regelmäßig erst dann angenommen werden kann, wenn es sich um mindestens drei Verrichtungen handelt, die einen Hilfebedarf in erheblichem Umfang erforderlich machen und dies erst bei einem täglichen Aufwand von mindestens zwei Stunden täglich der Fall ist (BSG, Urteil vom 24. November 2005 – B 9a SB 1/05 R –, juris, Rz. 16), ist der Kläger nicht hilflos. Denn bei ihm besteht nur ein unveränderter Grundpflegebedarf mit einem zu berücksichtigenden Zeitaufwand von täglich 50 Minuten (Körperpflege 25 Minuten, Mobilität 25 Minuten).

Dass der Hilfebedarf des Klägers nicht so umfassend ist, wie er dies schildert, ist dem Umstand geschuldet, dass sich seine Erkrankung nur in wenigen Bereichen auswirkt und er nicht bei fast allen täglichen Verrichtungen Hilfe benötigt. Der Kläger selbst hat nur auf seine ausgeprägte schwere Steh- und Gangstörung hingewiesen.

Bereits der Sachverständige L1 ist im Februar 2016 zu dem Ergebnis gekommen, dass die Alltagsaktivitäten noch nicht relevant beeinträchtigt sind. Dies hat er auch für den Senat überzeugend damit begründet, dass der Kläger noch in der Lage ist, selbstständig zu essen und zumindest Teile der Körperpflege zu übernehmen, was sich auch in dem ausgesprochen guten Pflegezustand gezeigt hat.

Die bei ihm im Vordergrund stehende Muskelschwäche geht nicht mit einer klinisch manifesten relevanten Polyneuropathie einher. Dies entnimmt der Senat dem Bericht der Neurologischen Klinik X vom 28. April 2016, wonach der Kläger seit Jahren keine Lähmungserscheinungen mehr hat. Aufgrund der Muskelschwäche kann er zwar nicht alleine aufstehen, deswegen bedarf er, was das SG zu Recht ausgeführt hat, insbesondere nach der Verrichtung der Notdurft wie auch beim Stehen und Gehen, der Hilfe. Auch die Hausärztin W1, die den Kläger bis Mai 2016 betreut hat, hat den Hilfebedarf im Alltag beim Toilettenbesuch und der Fortbewegung aus dem Pflegeheim gesehen, was ohne Hilfe nicht mehr möglich war. Dieser Hilfebedarf nur bei einigen der relevanten grundpflegerischen Verrichtungen reicht jedoch, wie ausgeführt, nicht aus.

Nachdem nur diese beinbetonte Mobilitätseinschränkung pflegebegründend ist, was der Senat insbesondere dem vorliegenden Pflegegutachten vom 28. Februar 2014 entnimmt, ist es auch nachvollziehbar, dass der zeitliche Umfang insgesamt auf weniger als zwei Stunden am Tag begrenzt ist. Lediglich in zwei Bereichen, nämlich der Mobilität und der Ernährung, benötigt der Kläger überhaupt tägliche Hilfe. Diese besteht in der Hilfe bei der Ganzkörperwäsche, insbesondere im Bereich des Rückens und Unterkörperbereichs, so wie dem An-und Auskleiden, wenn der Kläger aufsteht oder zu Bett geht. Im Bereich der Ernährung besteht kein Hilfebedarf, der Kläger kann selbstständig essen und trinken.

Auch unter Geltung des neuen Pflegebegriffs nach §§ 14, 15 SGB XI hat sich hieran nichts geändert, weil erst ab einem Pflegegrad 3 überhaupt nur schwere Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten vorliegen und erst ab Pflegegrad 4 die Beeinträchtigungen so sind, dass generell eine Hilfebedürftigkeit zu bejahen ist. Davon kann beim Kläger, der jetzt nur einen Pflegegrad 2 aufweist, was der Senat dem Bescheid der Pflegekasse vom 18. Oktober 2016 entnimmt, nicht ausgegangen werden.

Der Kläger hat zwar zu Recht darauf hingewiesen, dass der neue Begriff der Pflegebedürftigkeit nur teilweise mit dem alten Bewertungssystem vergleichbar ist, zusätzlich beispielsweise die Bereiche kognitive und kommunikative Fähigkeiten, Verhaltensweisen und psychische Problemlagen sowie der Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen berücksichtigt werden (vgl. Udsching, in Udsching/Schütze, Kommentar zur Sozialen Pflegeversicherung, 5. Aufl. 2018, § 14 Rz. 9). Andererseits knüpft das neue Gesetz, nämlich § 15 Abs. 3 Satz 4 SGB XI, selbst daran, dass erst ab dem Pflegegrad 4 schwerste Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten bestehen. Die Feststellung des Pflegegrades hängt nunmehr von der Schwere der Pflegebedürftigkeit (§ 1 Abs. 4 SGB XI) und daher nach dem neuen Verständnis von Pflegebedürftigkeit von der Schwere der Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit und der Fähigkeiten ab. Gerade Selbstständigkeit und pflegerelevante Fähigkeiten sind nach übereinstimmender Einschätzung aller Ärzte und Gutachter bei dem Kläger noch vorhanden, insbesondere ist die Alltagskompetenz nicht nennenswert beeinträchtigt.

Außerdem muss der Hilfebedarf insgesamt, auch wenn er sich von dem engen Begriff der Verrichtungen und der Messung des Hilfebedarfs in Minuten, also dem grundpflegerischen Zeitbedarf, gelöst hat, erheblich sein. Nach wie vor ist für die Differenzierung das Ausmaß des Hilfebedarfs maßgebend (Udsching, a. a. O., § 15 Rz. 34). Auch das Bundesministerium der Finanzen geht deswegen davon aus, dass das Merkzeichen „H“ nach § 33b Abs. 6 EStG weiterhin erst bei einer Einstufung in den Pflegegrad 4 oder 5 (bis 31. Dezember 2016: Pflegestufe III) nach dem SGB XI oder diesen entsprechenden Bestimmungen durch den entsprechenden Bescheid der Fall ist (Richtlinie H 32.9 EStH 2017 i.d.F. vom 24. November 2017). Deswegen ist der Kläger, bei dem nur vereinzelte Hilfebedarf besteht, auch unter Geltung des neuen Pflegebegriffs nur in den Pflegegrad 2 eingeteilt, denn er ist weitgehend selbstständig.

Gerade im Falle des Klägers, der noch nicht nach dem neuen Pflegeversicherungsrecht begutachtet worden, sondern auf Grund der gesetzlichen Übergangsregelungen pauschal in den neuen Pflegegrad 2 übergeleitet worden ist, kann daher offenbleiben, ob die rechtlichen Anforderungen an das Merkzeichen „H“, insbesondere die Anknüpfung an den grundpflegerischen Zeitbedarf (von mindestens 120 min), nach den Änderungen im Pflegeversicherungsrecht geändert werden müssen.

Die Berufung des Klägers ist daher zurückzuweisen, wobei die Kostenentscheidung auf § 193 SGG beruht.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.


 

Rechtskraft
Aus
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