Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Gelsenkirchen. vom 06.12.2021 geändert.
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 18.05.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.06.2021 verurteilt, der Klägerin die ungedeckten Kosten für die Betreuungsleistungen zu zahlen, die sie von September 2019 bis Juli 2020 für die verstorbene Frau Liselotte S. erbracht hat.
Die Beklagte hat der Klägerin in beiden Instanzen 2/3 der außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Vergütung von Betreuungsleistungen, die sie der am 00.00.0000 verstorbenen Frau Y. S. (im Folgenden: U.) erbracht hat.
Die 00.00.0000 geborene U. war verwitwet und Mutter von vier Kindern. Um die finanziellen Angelegenheiten kümmerte sich ihr Sohn, der Zeuge F. S.. U. bezog eine Witwenpension vom Bundeseisenbahnvermögen, die ab Juli 2019 monatlich 1.179,99 € netto betrug. Sie war beihilfeberechtigt bei der Krankenversorgung der Bundesbahnbeamten (KVB) und unterhielt zur Abdeckung der Restkosten eine private Kranken- und Pflegeversicherung, die ebenfalls bei der KVB bestand. Die Beiträge hierfür beliefen sich auf monatlich 157,90 € und 53,35 € und wurden direkt von der Pension abgezogen, so dass U. monatlich 984,74 € ausgezahlt wurden. Darüber hinaus bezog die U. eine Altersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung, die sich einschließlich eines Zuschusses zur privaten Krankenversicherung ab Januar 2019 auf 400,51 € monatlich und ab Juli 2019 auf 413,27 € belief. U. unterhielt drei Konten bei der Sparda-Bank West, auf denen sich zum 21.05.2019 Guthaben iHv insgesamt 10.185,26 € befanden. Sie war Inhaberin eines Bestattungsvorsorgevertrages mit einem hinterlegten Betrag iHv 5.000 € und einer Sterbegeld-Versicherung, deren Rückkaufswert sich am 01.02.2019 auf 547,93 € belief. Beide Beträge sind verwendet worden, um die Bestattungskosten zu bezahlen. Neben den jeweiligen Guthaben auf den Konten verfügte U. nicht über weiteres Vermögen.
Bei U. war seit Januar 2017 der Pflegegrades 2 anerkannt. Ab dem 08.10.2018 lagen die Voraussetzungen des Pflegegrades 4 vor. Dies wurde bei einer Begutachtung durch die Fa. B. aufgrund erheblicher kognitiver Einschränkungen mit Wahnvorstellungen und Halluzinationen festgestellt. U. wurde aufgrund der Grundlage des Pflegegrades 4 Pflegegeld iHv 1.612 € monatlich gezahlt, davon entfielen 1.128,40 € (70%) auf die Beihilfe und 483,60 € (30%) auf die private Pflegeversicherung. Darüber hinaus zahlten die Beihilfe und die Pflegeversicherung jeweils anteilig einen Wohngruppenzuschlag iHv 214 € monatlich und einen Entlastungsbetrag iHv 125 € monatlich.
U. lebte in H. und zog am 15.03.2019 in die Wohngemeinschaft für Menschen mit Demenz „J.“ ein. Es handelt sich um eine anbieterverantwortete Wohngemeinschaft iSv §§ 24 Abs. 3, 26 ff WTG NRW. Das Konzept der anbieterverantworteten Wohngemeinschaft ist 2004 gemeinsam mit dem damals zuständigen Seniorenbeauftragen der Beklagten entwickelt worden. Die pflegerischen Tätigkeiten und die Betreuungstätigkeiten werden nicht in Personalunion durchgeführt, sondern von unterschiedlichen Kräften. Die Betreuerinnen führen mit den Bewohnerinnen und Bewohnern zB hauswirtschaftliche Tätigkeiten durch, wie zB Einkäufe, Kochen, gemeinsame hauswirtschaftliche Arbeiten. Das Haus verfügt nicht über eine Zentralküche, sondern es wird in den jeweiligen Wohngemeinschaften gekocht. Die Wäsche wird in einer Waschküche gewaschen und dann mit den Betreuerinnen von den Bewohnerinnen und Bewohnern selber weiter versorgt. Darüber hinaus werden Freizeitaktivitäten durchgeführt. Bei dem Vermieter handelt es sich um eine gemeinnützige Stiftung, die das Haus ursprünglich als Dialysezentrum errichtet hatte. Eine wirtschaftliche Verflechtung zwischen dem Vermieter und der Klägerin gibt es nicht. Die Klägerin und die P. sind zwei verschiedene juristische Personen unter einheitlicher Leitung. Alle Bewohnerinnen und Bewohner des Hauses werden aufgrund eines Beschlusses der Mietversammlung von der P. H. gepflegt. Das Hausrecht wird von der Mieterversammlung ausgeübt, die Leiterin dieser Mieterversammlung, die die Aufgaben der Mieterversammlung organisiert, koordiniert und gegenüber dem Vermieter vertritt, ist eine sogenannte Hausmutter, eine Sozialpädagogin, die die Aufgaben einer Präsenzkraft wahrnimmt. Die P. hat eine Pflegedienstleitung, außerdem ist in jedem der von der Klägerin betriebenen Häuser eine eigene Pflegedienstleitung tätig. Über die Aufnahme eines Bewohners entscheidet die Mieterversammlung.
U. schloss mit dem Eigentümer des Gebäudes einen Mietvertrag ab. Die Miete einschließlich der Betriebskosten betrug 491,37 € monatlich. Mit der P. H. schloss sie einen Vertrag über ambulante Pflege und Betreuung ab. Zur Finanzierung dieser Leistungen leitete sie das Pflegegeld an den Pflegedienst weiter.
Mit der Klägerin schloss U. einen Vertrag über die Erbringung von Betreuungsleistungen. Nach § 1 des Betreuungsvertrages wird dieser nur wirksam, wenn gleichzeitig der Mietvertrag abgeschlossen wird. Darüber hinaus findet sich dort der Hinweis, dass es sich bei Wohngemeinschaft nicht um eine teilstationäre oder vollstationäre Pflegeeinrichtung handele. Die pflegerische Versorgung in der Wohngruppe könne daher auch durch die aktive Einbindung von eigenen Ressourcen und des sozialen Umfeldes sichergestellt werden. Nach § 2 des Vertrages wird die Betreuungsleistung rund um die Uhr an sieben Tagen in der Woche durch geeignetes Personal sichergestellt. Nach § 4 des Vertrages richtet sich das Entgelt nach der zwischen der Klägerin und der Beklagten bestehenden Vergütungsvereinbarung und erfolgt die Rechnungsstellung jeweils am 15. des laufenden Monats.
Zwischen der Klägerin und der Beklagten bestehen eine Leistungs-, Qualitäts- und Prüfungsvereinbarung nach § 75 Abs. 3 SGB XII und eine Vergütungsvereinbarung. Danach beträgt das Entgelt nach Anrechnung des Wohngruppenzuschlags und des Entlastungsbetrags im Jahr 2019 1.647 € und im Jahr 2020 1.740 € monatlich.
Auf den von der Klägerin erstellten Rechnungen von September 2019 bis April 2020 findet sich jeweils der folgende Zusatz: „Der Rechnungsbetrag ist innerhalb von 14 Kalendertagen nach Rechnungsdatum ohne Abzug fällig.“ Die Rechnungen für Mai 2020 bis August 2020 werden jeweils sofort nach Erhalt fällig. Daraus ergeben sich die folgenden Fälligkeitsdaten:
Datum der Rechnung Fälligkeit der Rechnung
für 09/2019: 11.09.2019 25.09.2019
für 10/2019: 11.10.2019 25.10.2019
für 11/2019: 12.11.2019 26.11.2019
für 12/2019: 12.12.2019 26.12.2019
für 01/2020: 13.01.2020 27.01.2020
für 02/2020: 12.02.2020 26.02.2020
für 03/2020: 13.03.2020 27.03.2020
für 04/2020: 08.04.2022 22.04.2020
für 05/2020: 12.05.2020 15.05.2020
für 06/2020: 10.06.2020 13.06.2020
für 07/2020: 13.07.2020 16.07.2020
U. leitete lediglich den Wohngruppenzuschlag iHv 214 € und den Entlastungsbetrag iHv 125 € an die Klägerin weiter. Die Übernahme der Betreuungsleistungen lehnte die KVB mit Schreiben vom 01.10.2019 ab, da es sich dabei nicht um eine Leistung der Pflegeversicherung handele. Auf die geforderten Pauschalen zahlte U. nichts, so dass noch insgesamt 20.508 € offen sind.
Der Pflegedienst zeigte mit Fax vom 21.05.2019 einen Hilfebedarf der U. ab dem 01.06.2019 bei der Beklagten an. Der Zeuge beantragte am 10.09.2019 die Übernahme der Betreuungskosten bei der Beklagten und teilte mit, diese seien bis einschließlich August 2019 aus dem eigenen Einkommen und Vermögen gezahlt worden. Das Guthaben auf dem Sparbuch belief sich am 10.09.2019 auf 4.966,73 €. Im März 2020 wurde ein Betrag iHv 1.000 € auf das Girokonto umgebucht und im Mai 2020 wieder zurückgebucht, so dass das Guthaben unverändert blieb.
Das Girokonto wies am 01.09.2019 ein Guthaben iHv 5.294,19 € auf, das sich im Wesentlichen aus den Rentenzahlungen am 30.08.2019 iHv insgesamt 1.382,01 € und aus Zahlungen der KVB vom 29. und 30.08.2019 iHv insgesamt 3.613,5 € zusammensetzt. In der Folgezeit war der Kontostand stark schwankend, weil der Zeuge die Zahlungen der KVB teilweise zeitverzögert an die Leistungserbringer weiterleitete. Zum Zeitpunkt der jeweiligen Fälligkeit der Rechnungen belief sich der Kontostand auf diese Beträge:
Fälligkeit der Rechnung Kontostand zum Zeitpunkt der Fälligkeit
für 09/2019: 25.09.2019 1.592,11 €
für 10/2019: 25.10.2019 1.612,40 €
für 11/2019: 26.11.2019 872,08 €
für 12/2019: 26.12.2019 - 307,17 €
für 01/2020: 27.01.2020 18,57 €
für 02/2020: 26.02.2020 2.886,61 €
für 03/2020: 27.03.2020 580,01 €
für 04/2020: 22.04.2020 3.900,84 €
für 05/2020: 15.05.2020 6.743,43 €
für 06/2020: 16.06.2020 503,29 €
für 07/2020: 16.07.2020 331,73 €
Alle bekannten Erben schlugen die Erbschaft aus, so dass der Fiskus des Landes Nordrhein-Westfalen Erbe wurde. Das Girokonto und das Sparbuch wurden am 01.07.2021 mit einem Guthaben von 3.472,63 € bzw. 4.966,80 € zugunsten der Bezirksregierung Münster als Vertreterin des Fiskus aufgelöst.
Die P. H. machte am 14.10.2020 als Sonderrechtsnachfolgerin analog § 19 Abs. 6 SGB XII die Ansprüche der U. iHv 20.508 € bei der Beklagten geltend. Mit Bescheid vom 19.10.2020 lehnte die Beklagte die Kostenübernahme ab, da § 19 Abs. 6 SGB XII auf ambulante Leistungen nicht anwendbar sei. Den Widerspruch des Pflegedienstes wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 04.12.2020 zurück, da es sich bei dem Schreiben vom 19.10.2020 nicht um einen Verwaltungsakt gehandelt habe. Die Klage des Pflegedienstes bei dem Sozialgericht Gelsenkirchen. (S 2 SO 257/20) wurde mit Gerichtsbescheid vom 07.04.2021 abgewiesen. Bei dem Schreiben vom 19.10.2020 handele es sich zwar um einen Verwaltungsakt, die Klägerin könne jedoch keine Ansprüche für die verstorbene U. geltend machen, da § 19 Abs. 6 SGB XII auf ambulante Leistungen nicht anwendbar sei. Der Gerichtsbescheid ist rechtskräftig.
Den Antrag der Klägerin auf Übernahme der ungedeckten Kosten für die Betreuungsleistungen iHv 20.508 € lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 18.05.2021 ebenfalls ab, da § 19 Abs. 6 SGB XII auf ambulante Leistungen nicht anwendbar sei. Den Widerspruch der Klägerin wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 22.06.2021 mit gleicher Begründung zurück.
Die Klägerin hat am 12.07.2021 Klage erhoben. Sie sei gem. § 19 Abs. 6 SGB XII Sonderrechtsnachfolgerin der verstorbenen U. geworden, die einen Anspruch auf Übernahme der ungedeckten Betreuungsleistungen gegen die Beklagte gehabt habe. Die analoge Anwendung der Vorschrift sei geboten. Zwar handele es sich formal um eine ambulante Leistung, diese sei jedoch der einer stationären Einrichtung angenähert. So müsse die Klägerin eine Betreuung rund um die Uhr durch geeignetes Personal sicherstellen. Auch die Kosten für die Wohngemeinschaft entsprächen denen einer stationären Einrichtung.
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 18.05.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.06.2021 zu verurteilen, an die Klägerin 20.508 € zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte hat die angefochtenen Bescheide verteidigt. § 19 Abs. 6 SGB XII sei auf ambulante Leistungen nicht anwendbar.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 06.12.2021, der Klägerin zugestellt am 21.12.2021, abgewiesen. Es könne offen bleiben, ob die U. einen Anspruch auf Übernahme der Kosten gehabt habe, denn dieser sei jedenfalls nicht auf die Klägerin übergegangen. § 19 Abs. 6 SGB XII erfasse ambulante Leistungen nicht. Eine analoge Anwendung sei auch im Hinblick auf Art. 3 GG nicht geboten. Die Klägerin trage nicht das gesamte Risiko, dass die Zahlungen für die in der Wohngemeinschaft erbrachten Leistungen ausfielen, sondern nur für die von ihr erbrachten Betreuungsleistungen. Dieses Risiko sei nicht mit dem einer Einrichtung vergleichbar, die sämtliche Leistungen aus einer Hand erbringe.
Die Klägerin hat am 07.01.2022 Berufung eingelegt. Wenn § 19 Abs. 6 SGB XII nicht direkt anwendbar sei, müsse er jedenfalls auf die Leistungserbringer von Betreuungsleistungen in anbieterverantworteten Wohngemeinschaften analog angewendet werden. Es handele sich dabei um eine Mischform zwischen einer stationären Einrichtung und einem ambulanten Dienst. Diese Form der Leistungserbringung habe es bei dem Inkrafttreten des § 19 Abs. 6 SGB XII noch nicht gegeben, so dass eine Regelungslücke bestehe, die durch die analoge Anwendung zu schließen sei. Das wirtschaftliche Risiko der Klägerin sei mit dem des Trägers einer stationären Einrichtung zu vergleichen. Darüber hinaus habe der Gesetzgeber ab dem 01.01.2020 in § 75 Abs. 6 SGB XII ab dem 01.01.2020 eine eigene Anspruchsgrundlage für den Leistungserbringer geschaffen. Auf Leistungen für August 2020 hat sie in der mündlichen Verhandlung verzichtet.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Gelsenkirchen. vom 06.12.2021 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 18.05.2021 in der Gestalt des Widerspruchbescheids vom 22.06.2021 zu verurteilen, die ungedeckten Kosten der Betreuungsleistung zu übernehmen, die sie von September 2019 bis Juli 2020 für die verstorbene Frau Liselotte S. erbracht hat.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält den Gerichtsbescheid für zutreffend. Darüber hinaus habe die U. keinen Anspruch auf Übernahme der ungedeckten Kosten gehabt, da sie aufgrund des vorhandenen Vermögens nicht hilfebedürftig gewesen sei.
Der Senat hat die Tochter der U. in dem Termin am 23.11.2023 und den Sohn der U. in der mündlichen Verhandlung am 19.09.2024 als Zeugen vernommen. Wegen des Ergebnisses der jeweiligen Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsprotokolle Bezug genommen.
Der Senat hat die Kontoauszüge des Girokontos und des Sparbuches der verstorbenen U. angefordert. Wegen des Inhalts der Auszüge wird auf Bl. 46 ff. der elektronischen Gerichtsakte Bezug genommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Die gem. §§ 143, 144 SGG statthafte sowie form- und fristgerecht (§§ 151 Abs. 1, 64 Abs. 2 SGG) erhobene Berufung ist in dem Umfang, in dem sie in der mündlichen Verhandlung aufrechterhalten worden ist, begründet. Der Bescheid vom 18.05.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.06.2021 ist rechtswidrig. Die Klägerin hat dem Grunde nach einen Anspruch auf Zahlung der ungedeckten Kosten für die von ihr erbrachten Betreuungsleistungen für die Monate September 2019 bis und Juli 2020.
Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 18.05.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.06.2021, mit dem die Beklagte die Übernahme der offenen Kosten gegenüber der Klägerin abgelehnt hat. In zeitlicher Hinsicht ist der Streitgegenstand von September 2019 bis Juli 2020 beschränkt. Die Klägerin verfolgt ihren Anspruch zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage gem. § 54 Abs. 4 SGG.
Die rechtskräftige Abweisung der Klage der P. gegen die Beklagte durch den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Gelsenkirchen. vom 07.04.2021 (S 20 SO 257/20) steht der Zulässigkeit der Klage nicht entgegen. Die Rechtswegesperre des § 17 Abs. 1 Satz 2 GVG greift nur, wenn dieselbe Sache bereits bei einem anderen Gericht anhängig ist. Um dieselbe Sache handelt es sich, wenn der Streitgegenstand der Klagen identisch ist (Ziekow in Soldan/Ziekow, VwGO 5. Aufl. § 17 GVG Rn. 24). Da zum Streitgegenstand auch das geltend gemachte Begehren gehört (dazu nur Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl. § 95 Rn 5 mwN) und damit auch die Frage, wer den Anspruch gegen wen geltend macht, greift das Prozesshindernis der anderweitigen Rechtshängigkeit nur, wenn neben der Identität des Gegenstandes des Anspruchs auch die Beteiligten des Verfahrens identisch sind (Urteil des Senats vom 27.06.2024 – L 9 SO 432/21; VG Düsseldorf Urteil vom 19.11.2018 - 1 K 18527/17). Die Klägerin ist zur Geltendmachung des streitgegenständlichen Anspruchs aktivlegitimiert, weil sie – anders als die P. – die hier streitigen Betreuungsleistungen erbracht hat.
Die Klägerin macht einen Geldleistungsanspruch geltend. Allerdings war der Anspruch der U. gegen die Beklagte nicht auf Zahlung von Geld gerichtet, sondern auf Übernahme der Kosten, die sich aus ihrem zivilrechtlichen Vertrag mit der Klägerin ergaben. Die Rechtsbeziehungen zwischen dem Leistungsberechtigten, dem Träger der Sozialhilfe und dem Leistungserbringer sind auch im Bereich ambulanter Dienste durch ein sozialhilferechtliches Dreiecksverhältnis geprägt. Dieses geht davon aus, dass der Sozialhilfeträger die ihm obliegende Leistung nicht als Geldleistung an den jeweiligen Hilfeempfänger erbringt, um diesem die Zahlung des vertraglichen Entgelts aus dem Vertrag über die Erbringung von ambulanten Pflegeleistungen zu ermöglichen, sondern dass die Zahlung direkt an den Dienst erfolgt, der die Pflege leistet (BSG Urteil vom 21.09.2017 – B 8 SO 4/16 R). Im Falle des Beteiligtenwechsels nach § 19 Abs. 6 SGB XII wandelt sich der Sachleistungsanspruch jedoch in einen Geldleistungsanspruch um, denn die Einrichtung bzw. der Dienst ist nunmehr selbst Inhaberin des Anspruchs (BSG Urteil vom 08.03.2017 – B 8 SO 20/15 R, Coseriu/Filges in: jurisPK-SGB XII, § 19 Rn. 66). Die Klägerin kann ihren Antrag daher auf den Erlass eines Grundurteils beschränken (BSG Urteil vom 08.03.2017 – B 8 SO 20/15 R; kritisch zur Rechtsprechung des BSG, dass ein Grundurteil bei einem Sachleistungsanspruch nicht zulässig sei Urteil des Senats vom 10.03.2022 – L 9 SO 136/19).
Die Klägerin kann einen Anspruch nur aus übergegangenem Recht geltend machen. Einen eigenen Anspruch auf Vergütung für die vor ihr erbrachten Betreuungsleistungen hat sie nicht. Ein solcher ergibt sich insbesondere nicht aus § 75 Abs. 6 SGB XII in der ab dem 01.01.2020 gF. Hiernach hat der Leistungserbringer gegen den Träger der Sozialhilfe einen Anspruch auf Vergütung der gegenüber dem Leistungsberechtigten erbrachten Leistungen. Diese Vorschrift ist indes nicht so zu verstehen, dass allein die Leistungserbringung für einen Anspruch ausreicht. Der Anspruch entsteht vielmehr erst, wenn die Leistungen durch den Träger der Sozialhilfe gegenüber dem Leistungsberechtigten bewilligt worden sind (Lange in: jurisPK-SGB XII, § 75, Rn. 121; zu § 123 Abs. 6 SGB IX: LSG Sachsen Beschluss vom 11.03.2021 – L 8 SO 12/21 B ER), was vorliegend nicht der Fall war.
Der Anspruch der U. ist auf die Klägerin übergegangen. Nach § 19 Abs. 6 SGB XII steht der Anspruch der Berechtigten auf Leistungen für Einrichtungen oder auf Pflegegeld, soweit die Leistung den Berechtigten erbracht worden wäre, nach ihrem Tode demjenigen zu, der die Leistung erbracht oder die Pflege geleistet hat.
Bei der von der U. bewohnten Wohngemeinschaft handelt es sich um eine Einrichtung iSv § 19 Abs. 6 SGB XII. Der Begriff der Einrichtung ist in § 13 Abs. 2 SGB XII legaldefiniert. Einrichtungen iSd § 13 Abs. 1 SGB XII sind hiernach alle Einrichtungen, die der Pflege, der Behandlung oder sonstigen nach diesem Buch zu deckenden Bedarfe oder der Erziehung dienen.
Für den Begriff der Einrichtung iSd § 19 Abs. 6 SGB XII kommt es – anders als bei demselben Rechtsbegriff in § 27b SGB XII – nicht darauf an, ob ein Einrichtungsträger die Gesamtverantwortung für die tägliche Lebensführung der Bewohner übernimmt. Das BSG hat in Auslegung der letztgenannten Vorschrift die Reduzierung der an den Bewohner ausgezahlten Leistungen für den Lebensunterhalt auf den Barbetrag nach § 27b Abs. 3 SGB XII damit begründet, dass der notwendige Lebensunterhalt in Situationen, in denen die Gesamtverantwortung des Einzelnen für seine tägliche Lebensführung aufgehoben ist, zum größten Teil nach anderen Vorschriften als dem dritten Kapitel des SGB XII tatsächlich erbracht wird (vgl. BSG Urteil vom 14.12.2017 - B 8 SO 16/16 R). Diese Auslegung ist für § 19 Abs. 6 SGB XII nicht maßgeblich. Die Legaldefinition des § 13 Abs. 2 SGB XII ist funktionsdifferent auszulegen (Urteil des Senates vom 02.12.2021 – L 9 SO 8/21). Ein Rechtsbegriff kann je nach funktionalem Zusammenhang unterschiedlich ausgelegt werden, auch innerhalb desselben Gesetzes (vgl. dazu BSG Urteil vom 03.11.2021 – B 11 AL 8/20 R).
Die Frage der Gesamtverantwortung für die Lebensführung durch einen Einrichtungsträger spielt bei der Auslegung von § 19 Abs. 6 SGB XII keine Rolle. Dies folgt bereits daraus, dass diese Vorschrift gleichermaßen für das Pflegegeld gilt, das eine solche Gesamtverantwortung nicht voraussetzt. Dementsprechend hat auch das BSG bei der Auslegung des Einrichtungsbegriffs in § 19 Abs. 6 SGB XII nicht auf die Übernahme der Gesamtverantwortung für die tägliche Lebensführung, sondern auf die räumliche Bindung an ein Gebäude abgestellt (BSG Urteil vom 13.07.2010 – B 8 SO 13/09 R). Eine solche Bindung besteht, wenn die Unterkunft der Rechts- und Organisationssphäre eines Einrichtungsträgers so zugeordnet ist, dass sie als Teil des Einrichtungsganzen anzusehen ist (BSG Urteil vom 13.02.2014 – B 8 SO 11/12 R).
Diese Voraussetzung ist hier erfüllt. Die Klägerin war zwar nicht zugleich die Vermieterin der U., aber der Miet- und der Betreuungsvertrag waren so miteinander verknüpft, dass sie nur gemeinsam wirksam werden konnten. Das ist gem. § 24 Abs. 3 Nr. 1 WTG NRW auch die Voraussetzung dafür, dass es sich um eine anbieterverantwortete Wohngemeinschaft handelt. Kennzeichnend für diese Form der Leistungserbringung ist, dass die Bewohner nicht wählen können, durch welchen Dienst sie betreut werden wollen, sondern dies durch die Verknüpfung von Miet- und Betreuungsvertrag vorgegeben wird. Alle Bewohner des Hauses „J.“ wurden nach der glaubhaften Schilderung des Geschäftsführers der Klägerin in der mündlichen Verhandlung des Senats aufgrund eines rechtlich verbindlichen Beschlusses der Mieterversammlung durch denselben Pflegedienst gepflegt. Dieser Pflegedienst ist mit der Klägerin durch eine einheitliche Leitung organisatorisch verbunden. Im Ergebnis führt diese Vertragsgestaltung dazu, dass alle Leistungen (Pflege, Betreuung, hauswirtschaftliche Versorgung und die Zurverfügungstellung eines Wohnraumes) wie bei einer Einrichtung aus einer Hand erfolgen. Der Umstand, dass es sich bei den Leistungserbringern formal um unterschiedliche Gesellschaften handelt, ist für die Anwendung von § 19 Abs. 6 SGB XII nicht von Belang. Daher ist es konsequent, dass der Landesgesetzgeber bei anbieterverantworteten Wohngemeinschaften ab einer gewissen Größe in § 26 Abs. 6 WTG NRW die entsprechende Anwendung der Regelungen für Einrichtungen mit umfassendem Leistungsangebot anordnet.
Für eine weite Auslegung des Einrichtungsbegriffs in § 19 Abs. 6 SGB XII spricht auch die Entstehungsgeschichte der Vorschrift.
Die Vorschrift beruht auf § 28 Abs. 2 BSHG, der mit dem Gesetz zur Reform des Sozialhilferechts vom 23.07.1996 eingeführt worden ist (BGBl I 1996, 1088; vgl. dazu Filges in: jurisPK-SGB XII, § 19, Rn. 91). In der Gesetzesbegründung wird darauf hingewiesen, dass Sozialhilfeansprüche grundsätzlich nicht vererblich seien. Da bei der Hilfe in Einrichtungen oder bei ambulanter Pflege die Entscheidungen oftmals längere Zeit beanspruchten und die Leistungen bereits von Dritten erbracht würden, führe die geltende Rechtslage dazu, dass Einrichtungen und Pflegepersonen trotz berechtigten Vertrauens auf Leistungen der Sozialhilfe leer ausgingen. Dies erscheine nicht gerechtfertigt und erschwere schnelle Hilfe durch Dritte. Die Neuregelung verhindere dies, indem sie den Anspruch des Hilfesuchenden, soweit er bis zu dessen Tode zu erfüllen gewesen wäre, auf einen Dritten übergehen lasse (BT-Drs. 13/3904, S. 45). Anders als der Gesetzeswortlaut stellt die Begründung also nicht allein auf Leistungen für Einrichtungen und auf Pflegegeld ab, sondern auf Hilfe in Einrichtungen oder bei ambulanter Pflege. Ungeachtet der Rechtsprechung des BSG, nach der Ansprüche auf ambulante Pflegeleistungen nicht auf die jeweiligen Leistungserbringer übergehen (BSG Urteil vom 13.07.2010 – B 8 SO 13/09 R), spricht die Gesetzesbegründung jedenfalls für eine weite Auslegung des Einrichtungsbegriffs.
Schließlich spricht auch das Kostenrisiko der Erbringer von Leistungen in anbieterverantworteten Wohngemeinschaften für eine Anwendung des Einrichtungsbegriffs auf diese (vgl. zu diesem Gesichtspunkt BSG Urteil vom 13.07.2010 – B 8 SO 13/09 R). Das wirtschaftliche Risiko für den Träger einer anbieterverantworteten Wohngemeinschaft ist vergleichbar mit dem eines Pflegeheims. Zwar sind die Kosten für die Betreuungsleistung nicht so hoch wie die einer Gesamtleistung einer stationären Unterbringung. Gleichzeitig ist jedoch zu berücksichtigen, dass sich die Pflegeversicherung – wie auch im vorliegenden Verfahren – nur mit dem Wohngruppenzuschlag iHv 214 € und dem Entlastungsbetrag iHv 125 € an den Kosten beteiligt, also mit Beträgen, die bei weitem nicht kostendeckend sind. Darüber hinaus ist nur bei einer stationären Leistung Einkommen auch unter der Einkommensgrenze anzurechnen (§ 88 Abs. 1 Satz 2 SGB XII). Die ungedeckten Kosten der hier streitigen Betreuungsleistungen sind daher mit denen einer stationären Einrichtung vergleichbar. Damit ist der Einrichtungsbegriff in § 19 Abs. 6 SGB XII jedenfalls so auszulegen, dass solche anbieterverantworteten Wohngemeinschaften erfasst werden, in denen – wie hier – rund um die Uhr Betreuungsleistungen erbracht werden.
Die Klägerin hat die Leistung erbracht iSd § 19 Abs. 6 SGB XII. Gem. § 2 des Betreuungsvertrags war sie verpflichtet, die Pflege und Betreuung der U. rund um die Uhr zu leisten. Diese Verpflichtung hat die Klägerin in den streitbefangenen Monaten erfüllt.
Die U. hatte von September 2019 bis Juli 2020 gem. § 64b Abs. 1 Satz 1 SGB XII dem Grunde nach einen Anspruch auf Übernahme der ungedeckten Kosten für diese Betreuungsleistungen Nach dieser Vorschrift haben Pflegebedürftige der Pflegegrade 2, 3, 4 oder 5 Anspruch auf körperbezogene Pflegemaßnahmen und pflegerische Betreuungsmaßnahmen sowie auf Hilfen bei der Haushaltsführung als Pflegesachleistung (häusliche Pflegehilfe), soweit die häusliche Pflege nach § 64 nicht sichergestellt werden kann.
Die Beklagte war als örtlicher Träger der Sozialhilfe für die ambulante Hilfe zur Pflege sachlich zuständig (§ 97 Abs. 1, § 97 Abs. 2 Satz 1 SGB XII iVm § 2a AG-SGB XII NRW). Im Hinblick auf die örtliche Zuständigkeit kann es offen bleiben, ob es sich bei der von der U. bewohnten Wohngemeinschaft um eine ambulant betreute Wohnmöglichkeit iSv § 98 Abs. 5 SGB XII handelt (vgl. dazu BSG Urteil vom 30.06.2016 – B 8 SO 6/15 R). U. hatte ihren tatsächlichen Aufenthalt auch vor dem Einzug in die Wohngemeinschaft im Zuständigkeitsbereich der Beklagten.
Die Voraussetzungen des § 64b Abs. 1 SGB XII liegen vor. Zwar war die Beklagte nicht gem. § 62a SGB XII an die Entscheidung der privaten Pflegeversicherung, den Pflegegrad 4 anzuerkennen, gebunden, da es sich dabei nicht um eine Pflegekasse handelt (Meßling/Coseriu in: jurisPK-SGB XII, § 62a Rn. 14). Dessen ungeachtet lagen bei U. ab Juli 2018 die Voraussetzungen für den Pflegegrad 4 vor. Der Senat legt dabei das Gutachten der Fa. B. vom 14.10.2018 zugrunde, das er für schlüssig und überzeugend hält. Eine Bedarfsdeckung gem. § 64 SGB XII durch nahestehende Personen kam nicht in Betracht. U. hatte zwar vier Kinder, die jedoch keine Betreuung rund um die Uhr gewährleisten konnten.
Der Anspruch der U. auf pflegerische Betreuungsmaßnahmen umfasst gem. § 64b Abs. 2 SGB XII Unterstützungsleistungen zur Bewältigung und Gestaltung des alltäglichen Lebens im häuslichen Umfeld, insbesondere
1. bei der Bewältigung psychosozialer Problemlagen oder von Gefährdungen,
2. bei der Orientierung, bei der Tagesstrukturierung, bei der Kommunikation, bei der Aufrechterhaltung sozialer Kontakte und bei bedürfnisgerechten Beschäftigungen im Alltag sowie
3. durch Maßnahmen zur kognitiven Aktivierung.
In der Gesetzesbegründung wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass zur häuslichen Pflegehilfe auch Leistungen zur Deckung des notwendigen Bedarfs in ambulant betreuten Wohngruppen zählen, soweit das erforderlich ist (BT-Drs. 18/9518, S. 94). U. lebte in einer solchen Wohngruppe und war auf die durch die Klägerin erbrachten Betreuungsleistungen angewiesen. Bei ihr bestanden erhebliche kognitive Einschränkungen mit Wahnvorstellungen und Halluzinationen, die eine Betreuung rund um die Uhr erforderlich machten. Dies folgt aus dem Gutachten der Fa. B. vom 14.10.2018, das der Senat auch insoweit für schlüssig und überzeugend hält.
Auch die Voraussetzungen des § 75 Abs. 3 SGB XII in der bis zum 31.12.2019 geltenden Fassung bzw. § 75 Abs. 1 SGB XII in der ab dem 01.01.2020 geltenden Fassung für einen Anspruch auf Kostenübernahme lagen vor. Danach darf der Träger der Sozialhilfe Leistungen nach dem Siebten bis Neunten Kapitel des SGB XII mit Ausnahme der Leistungen der häuslichen Pflege, soweit diese gemäß § 64 SGB XII durch Personen, die dem Pflegebedürftigen nahestehen, oder als Nachbarschaftshilfe übernommen werden, durch Dritte (Leistungserbringer) nur bewilligen, soweit eine schriftliche Vereinbarung zwischen dem Träger des Leistungserbringers und dem für den Ort der Leistungserbringung zuständigen Träger der Sozialhilfe besteht. Diese Voraussetzung ist hier erfüllt, denn die Klägerin hatte entsprechende Leistungs-, Prüfungs- und Vergütungsvereinbarungen mit der Beklagten als örtlich zuständigem Träger der Sozialhilfe abgeschlossen.
U. erfüllte im Hinblick auf die noch streitigen Monate September 2019 bis Juli 2020 auch die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Leistungen der Hilfe zur Pflege. Diese wird gem. §§ 19 Abs. 3, 61 SGB XII (nur) geleistet, soweit den Leistungsberechtigten, ihren nicht getrenntlebenden Ehegatten oder Lebenspartnern die Aufbringung der Mittel aus den Einkommen und Vermögen nach den Vorschriften des Elften Kapitels dieses Buches nicht zuzumuten ist (sog Nettoprinzip, dazu BSG Urteil vom 12.05.2017 – B 8 SO 23/15 R). Der Anspruch der U. bestand danach nur soweit der monatliche Bedarf nicht durch einzusetzendes Einkommen und Vermögen gedeckt war.
Der monatliche Bedarf für die Betreuungsleistungen belief sich von September 2019 bis Dezember 2019 auf 1.647 € und von Januar bis Juli 2020 auf 1.740 €, denn diese Beträge blieben ungedeckt, nachdem U. den Wohngruppenzuschlag und den Entlastungsbetrag eingesetzt hatte. U. konnte diesen Bedarf nicht vollständig mit ihrem Einkommen und Vermögen decken.
Der Einkommenseinsatz richtet sich nach den §§ 85, 87 SGB XII. Nach § 85 Abs. 1 SGB XII ist bei der Hilfe nach dem Fünften bis Neunten Kapitel des SGB XII der nachfragenden Person und ihrem nicht getrenntlebenden Ehegatten oder Lebenspartner die Aufbringung der Mittel nicht zuzumuten, wenn während der Dauer des Bedarfs ihr monatliches Einkommen zusammen eine Einkommensgrenze nicht übersteigt, die sich ergibt aus
1. einem Grundbetrag in Höhe des Zweifachen der Regelbedarfsstufe 1 nach der Anlage zu § 28,
2. den Aufwendungen für die Unterkunft, soweit diese den der Besonderheit des Einzelfalles angemessenen Umfang nicht übersteigen und
3. einem Familienzuschlag in Höhe des auf volle Euro aufgerundeten Betrages von 70 vom Hundert der Regelbedarfsstufe 1 nach der Anlage zu § 28 für den nicht getrenntlebenden Ehegatten oder Lebenspartner und für jede Person, die von der nachfragenden Person, ihrem nicht getrennt lebenden Ehegatten oder Lebenspartner überwiegend unterhalten worden ist oder für die sie nach der Entscheidung über die Erbringung der Sozialhilfe unterhaltspflichtig werden.
Die Einkommensgrenze belief sich von September 2019 bis Dezember 2019 auf 1.339,37 (2 x 424 € Regelsatz + 491,37 € Unterkunftskosten) und von Januar 2020 bis Juli 2020 auf 1.355,37 € (2 x 432 € Regelsatz + 491,37 € Unterkunftskosten). Die Pensions- und Renteneinkünfte der U. lagen jeweils nur geringfügig über diesen Beträgen. Die Pflegeleistungen der Beihilfe und der privaten Pflegeversicherung sind gem. § 13 Abs. 5 Satz 2 SGB XI nicht als Einkommen zu berücksichtigen. Nach § 87 Abs. 1 Satz 1 SGB XII musste U. das überschießende Einkommen in angemessenen Umfang einsetzen, wobei nach Satz 3 der Vorschrift bei Pflegebedürftigen der Pflegegrade 4 und 5 ein Einsatz des Einkommens über der Einkommensgrenze in Höhe von mindestens 60 vom Hundert nicht zuzumuten ist. Von den Beträgen oberhalb der Einkommensgrenze ist damit noch ein Freibetrag von 60% abzuziehen ist, so dass allenfalls Beträge von weniger als 20 € einzusetzen sind. Damit konnte U. den monatlichen Bedarf nicht decken.
In den streitbefangenen Monaten konnte U. den Bedarf auch nicht mit ihrem Vermögen decken. Dabei kommt es entgegen der Auffassung der Beklagten nicht darauf an, ob der Freibetrag von 5.000 € (Verordnung zur Durchführung des § 90 Abs. 2 Nr. 9 des SGB XII in der ab dem 01.04.2017 geltenden Fassung) überschritten ist. Ein Anspruch besteht auch dann, wenn das den Vermögensfreibetrag von 5.000 € überschreitende Kontoguthaben nicht bedarfsdeckend ist (BSG Urteil vom 16.02.2022 – B 8 SO 17/20 R). Dies war im streitigen Zeitraum der Fall.
Das Guthaben auf dem Sparbuch iHv 4.966,73 € (bzw. 3.966,73 € zum Zeitpunkt der Fälligkeit im April 2020 und Mai 2020) lag unter dem Freibetrag von 5.000 € und war daher nicht einzusetzen. Gleiches gilt für das in dem Bestattungsvorsorgevertrag hinterlegte Guthaben iHv 5.000 € und den Rückkaufswert der Sterbegeldversicherung iHv 547,93 €. Vermögen aus einem angemessenen Bestattungsvorsorgevertrag ist bei der Gewährung von Sozialhilfe nicht zu berücksichtigen, denn seine Verwertung stellt eine Härte iSv § 90 Abs. 3 SGB XII dar (BSG Urteil vom 18.03.2008 – B 8/9b SO 9/06 R). Der Betrag von geringfügig mehr als 5.000 EUR ist als für die Bestattungsvorsorge angemessen anzusehen (hierzu Urteil des Senats vom 10.03.2022 – L 9 SO 136/19; OVG für das Land Nordrhein-Westfalen Urteil vom 16.11.2009 - 12 A 1363/09 für einen Betrag iHv 6.000 EUR; in diesem Sinne auch VG Münster vom 25.05.2020 - 6 K 53/20). Auch nach der Rechtsprechung des BSG zu § 33 Abs. 2 SGB XII ist eine Bestattungsvorsorge angemessen, wenn sie die Kosten für eine angemessene Bestattung und eine angemessene Grabpflege nicht übersteigt. Davon ist nach der Rechtsprechung des BSG auszugehen, wenn die Grenze des § 850b Abs. 1 Nr. 4 ZPO nicht wesentlich überschritten wird (BSG Urteil vom 20.09.2023 – B 8 SO 22/22 R). Zwar ist dieser Betrag erst zum 01.01.2022 auf 5.400 € angehoben worden, vorher waren Beträge bis 3.579 € geschützt. Das BSG leitet die Angemessenheit jedoch auch aus der Höhe des Sterbegeldes aus der Gesetzlichen Unfallversicherung gem. § 64 Abs. 1 SGB VII und der Opferentschädigung gem. § 99 Abs. 2 SGB XIV in Höhe eines Siebtels der jährlichen Bezugsgröße nach § 18 SGB IV ab. Die Bezugsgröße belief sich im Jahr 2019 auf 37.380 €, so dass sich schon im streitigen Zeitraum eine Angemessenheitsgrenze von 5.340 € ergibt, die durch die Bestattungsvorsorge iHv 5.547,93 € nicht wesentlich überschritten wird. Anhaltspunkte dafür, dass dieser Betrag unangemessen hoch ist, weil am Bestattungsort deutliche niedrigere Beerdigungskosten ortsüblich sind, liegen nicht vor und sind von der Beklagten auch nicht behauptet worden.
U. hatte daher nur dann keinen Anspruch auf Übernahme der Kosten, wenn mit dem Guthaben auf dem Girokonto der gesamte Bedarf für die Betreuungsleistungen hätte gedeckt werden können, denn weiteres Vermögen war nicht vorhanden. Das war im streitigen Zeitraum nicht der Fall.
Bei der Ermittlung des einzusetzenden Vermögens ist jeweils auf den Zeitpunkt des Bedarfsanfalls, hier auf den Zeitpunkt der Fälligkeit der (hier monatlichen) Forderung des Leistungserbringers abzustellen (BSG Urteil vom 16.02.2022 – B 8 SO 17/20 R). Die Rechnungen der Klägerin an U. von September 2019 bis April 2020 sind jeweils 14 Kalendertage nach Rechnungsdatum fällig geworden und die Rechnungen für Mai bis August 2020 jeweils sofort nach Erhalt. Daraus ergeben sich die folgenden Fälligkeitsdaten und die Kontostände zum Zeitpunkt der Fälligkeit:
Fälligkeit der Rechnung Kontostand zum Zeitpunkt der Fälligkeit
für 09/2019: 25.09.2019 1.592,11 €
für 10/2019: 25.10.2019 1.612,40 €
für 11/2019: 26.11.2019 872,08 €
für 12/2019: 26.12.2019 - 307,17 €
für 01/2020: 27.01.2020 18,57 €
für 02/2020: 26.02.2020 2.886,61 €
für 03/2020: 27.03.2020 580,01 €
für 04/2020: 22.04.2020 3.900,84 €
für 05/2020: 15.05.2020 6.743,43 €
für 06/2020: 13.06.2020 503,29 €
für 07/2020: 16.07.2020 331,73 €
Entgegen der Auffassung der Beklagten kann nicht das gesamte Guthaben auf dem Konto zum Zeitpunkt der Fälligkeit als Vermögen berücksichtigt werden. Nach den Grundsätzen der modifizierten Zuflusstheorie ist Vermögen das, was jemand in der Bedarfszeit bereits hat und Einkommen alles das, was er in der Bedarfszeit wertmäßig dazu erhält (BSG Urteil vom 16.02.2022 – B 8 SO 17/20 R). Hiernach sind zunächst die Zahlungen, die im laufenden Monat bis zur jeweiligen Fälligkeit auf dem Konto eingegangen sind, von dem Guthaben abzuziehen, weil sie sonst als Einkommen und als Vermögen berücksichtigt würden.
Weiterhin sind die Pflegeleistungen der Beihilfe und der Pflegeversicherung von den jeweiligen Kontoständen abzuziehen. Dies gilt auch, wenn sie aus Vormonaten stammen und noch nicht weitergeleitet worden sind. Insoweit würde ihre Berücksichtigung eine Härte iSv § 90 Abs. 3 SGB XII bedeuten. Die Zahlungen der Pflegeversicherung sind gem. § 13 Abs. 5 Satz 2 SGB XI nicht als Einkommen zu berücksichtigen. Die hohen Kontostände der U. resultieren daraus, dass diese Leistungen – wie der Zeuge glaubhaft bekundet hat – teilweise erst mit zeitlicher Verzögerung an den Pflegedienst und die Klägerin weitergeleitet worden sind. Zwar ist für die Anwendung des § 90 Abs. 3 SGB XII die Herkunft des Vermögens grundsätzlich unerheblich. Hierfür sind allerdings Ausnahmen für Konstellationen anerkannt, in denen der gesetzgeberische Grund für die Nichtberücksichtigung einer laufenden Zahlung als Einkommen auch im Rahmen der Vermögensanrechnung durchgreift, weil das Vermögen den gleichen Zwecken zu dienen bestimmt ist wie die laufende Zahlung selbst (BSG Urteil vom 30.04.2020 – B 8 SO 12/18 R). So liegt der Fall hier. Das auf dem Konto angesammelte Geld diente immer noch und allein dazu, den Pflegebedarf zu decken und ist von U. zu diesem Zweck eingesetzt worden.
Demgegenüber sind die Rentenzahlungen aus dem Vormonat, die im maßgeblichen Zeitpunkt nicht verbraucht waren, als Vermögen zu berücksichtigen. Das stellt keine Härte iSv § 90 Abs. 3 SGB XII (BSG Urteil vom 16.02.2022 – B 8 SO 17/20 R).
Da allenfalls die Rentenzahlungen aus dem Vormonat als Vermögen zu berücksichtigen sind, besteht für jeden streitbefangenen Monat mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Leistungsanspruch iSd § 130 Abs. 1 Satz 1 SGG (dazu BSG Urteil vom 07.11.2006 – B 7b AS 10/06 R; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14 Aufl. § 130 Rn. 2c mwN).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Das Verfahren ist auch für Rechtnachfolger nach § 19 Abs. 6 SGB XII gerichtskostenfrei (BSG Urteil vom 13.07.2010 – B 8 SO 13/09 R, Rn. 18).
Der Senat hat die Revision gem. § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zugelassen.