- Nach Teil A Nr. 2 e) der Anlage zu § 2 VersMedV sollen im Allgemeinen die folgenden Funktionssysteme zusammenfassend beurteilt werden: Gehirn einschließlich Psyche; Augen; Ohren; Atmung; Herz- Kreislauf; Verdauung; Harnorgane; Geschlechtsapparat; Haut; Blut einschließlich blutbildendes Gewebe und Immunsystem; innere Sekretion und Stoffwechsel; Arme; Beine; Rumpf. Eine zusammenfassende Beurteilung von Beeinträchtigungen in den Funktionssystemen Kopf und Gesicht (hier der Migräne) einerseits und Nervensystem und Psyche andererseits ergibt sich daraus nicht.
- Der Senat hält an seiner Rechtsprechung fest, dass aus Einzel-GdB von 40 und 30 in aller Regel ein Gesamt-GdB von 50 folgt (Urteil vom 6. Januar 2020 – L 11 SB 177/17 – juris).
- Die Beurteilung der Kausalität ist nach Teil A Nr. 2 a) der Anlage zu § 2 VersMedV für das final ausgerichtete Schwerbehindertenrecht unmaßgeblich.
Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 21. November 2023 geändert. Der Beklagte wird unter Aufhebung seines Bescheides vom 24. September 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Januar 2021 dazu verurteilt, den Grad der Behinderung der Klägerin mit Wirkung ab dem 29. Juli 2020 mit 50 festzustellen.
Der Beklagte hat der Klägerin deren außergerichtliche Kosten für den gesamten Rechtsstreit zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 50.
Die 1965 geborene Klägerin, zu deren Gunsten der Beklagte bereits mit Bescheid vom 24. Juni 2013 den GdB wegen einer seelischen Störung, Migräne (Einzel-GdB 30) und einer Funktionsbehinderung der Wirbelsäule (Einzel-GdB 10) mit 30 festgestellt hatte, beantragte bei dem Beklagten am 29. Juli 2020 einen höheren GdB. Der Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 24. September 2020 ab und wies den hiergegen gerichteten Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 21. Januar 2021 zurück. Nunmehr bewertete der Beklagte die Migräne (Einzel-GdB 30) und die seelische Störung (Einzel-GdB 20) getrennt voneinander.
Am 3. Februar 2021 hat die Klägerin Klage erhoben mit dem eingangs genannten Begehren. Die Migräneattacken träten drei bis vier Mal monatlich auf, seien mit unerträglichen Kopfschmerzen, Sehstörungen, Übelkeit, Erbrechen, Schwindel und starker Geräusch- und Lichtempfindlichkeit verbunden und dauerten zwei bis drei Tage an. Trotz des Einsatzes von Triptanen habe keine Besserung erzielt werden können. Ein Einzel-GdB von 40 sei angemessen. Ihr psychisches Leiden in Form von Depressionen und einer somatoformen Schmerzstörung habe sich unter einer Langzeittherapie von September 2013 bis März 2016 nicht gebessert. Hierfür sei ein Einzel-GdB von 30 bis 40 angemessen. Beschwerden der Halswirbelsäule seien mit einem Einzel-GdB von 20, ihre gastrointestinalen Beschwerden mit einem Einzel-GdB von 20 bis 30 zu bewerten.
Das Sozialgericht hat Befundberichte bei der Hausärztin Dr. K, dem psychologischen Psychotherapeuten Dr. N, dem orthopädischen Center , der Neurologin Dr. H, dem Gastroenterologen Dr. S und dem Internisten Dr. S eingeholt.
Das Sozialgericht hat bei dem Facharzt für Nervenheilkunde, Psychiatrie, Psychotherapie Dr. B ein neurologisch-psychiatrisches Sachverständigengutachten vom 28. Dezember 2022 eingeholt, das dieser nach ambulanter Untersuchung der Klägerin am 5. Dezember 2022 erstellt hat und in dem er zu der Einschätzung gelangt ist, der GdB bei der Klägerin betrage 40. Dabei seien als stärker behindernde psychosomatische Störung eine generalisierte Angststörung, eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, eine somatoforme autonome Funktionsstörung des Verdauungssystems und eine Dysthymia mit einem Einzel-GdB von 40 zu bewerten. Die echte Migräne sei mit einem Einzel-GdB von 30, ein Halswirbelsäulensyndrom mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten. Die Klägerin leide an einem komplexen psychosomatischen Krankheitsbild, das als Somatisierung psychischen Leidens in Form einer Umwandlung von Affekten in eine psychophysische Daueranspannung verstanden werden könne. Als treibende Kraft der Daueranspannung sei die generalisierte Angststörung zu nennen, die Klägerin habe eine ständige Besorgnis um ihre Angehörigen und die Befürchtung geschildert, den Anforderungen nicht zu genügen, begleitet von den vegetativen Symptomen der Angst und ständigem Grübeln. Als Hintergrund sei ein beständiger Selbstwert- und Autonomiekonflikt auf dem Boden einer mäßig integrierten Persönlichkeitsstruktur in Folge der geschilderten harten, instrumentalisierenden Erziehungsbedingungen anzusehen. In der Folge habe die Klägerin keinen stabilen Selbstwert und keine hinreichende Fähigkeit zur Wahrnehmung und Regulation eigener Stressreaktionen zu entwickeln vermocht. Aus der ständigen Befürchtung, nicht zu genügen, sei die Klägerin in einen Kreislauf der Selbstüberforderung durch ein ausgeprägtes Durchhalteverhalten geraten. Aufgrund der mangelnden emotionsregulierenden und entspannungsfördernden Stressverarbeitung habe sich eine vegetative und muskuläre Übererregung eingestellt, diese sichtbar in der erhöhten Muskelverspannung und Berührungsempfindlichkeit. Sämtliche Erkrankungen der Klägerin seien durch die maladaptive Verarbeitung maßgeblich mitbedingt, selbst die Attackenhäufigkeit der Migräne dürfte neben dem generell hohen Anspannungsniveau durch die Befürchtungen, einen weiteren Anfall zu erleiden, gesteigert werden. Hinter dem verständlichen Unglücklichsein in Folge der psychosomatischen Beschwerden habe eine eigenständige depressive Störung nicht festgestellt werden können. Die freudlose Stimmungslage der Klägerin sei als Dysthymia im Sinne einer anhaltenden, leichteren depressiven Verstimmung zu klassifizieren. Bemerkenswerterweise sei die Beeinträchtigung der Alltagsbewältigung trotz der hohen Symptombelastung relativ gering ausgeprägt, was auf das hohe Pflichtbewusstsein und Durchhalteverhalten der Klägerin zurückzuführen sei. Daher seien die störungsbedingten sozialen Anpassungsschwierigkeiten als leicht- bis mittelgradig zu bewerten. Während die Klägerin ihren beruflichen Verpflichtungen noch vollumfänglich nachkommen könne, sei die eheliche Disharmonie sowohl als Folge als auch als Belastungsfaktor der Störung anzusehen. Bis auf die engen familiären Kontakte habe sich die Klägerin zur Vermeidung weiterer Belastungen aus nahezu allen sozialen Kontakten zurückgezogen. In Folge ihrer hohen Beschwerdebelastung sei die Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit der Klägerin erheblich vermindert. Mit Ausnahme der Arbeitswelt, könne die Klägerin den Anforderungen des täglichen Lebens und des häuslichen Bereichs kaum noch nachkommen. Die Haushaltsführung obliege dem Ehemann, sozial sei die Klägerin weitgehend isoliert, ihre Fähigkeit zu körperlicher und geistiger Betätigung sowie zur Erholung sei störungsbedingt deutlich vermindert. Die Bereiche Fortbewegung, Ernährung und Hygiene seien nicht beeinträchtigt, der Einzel-GdB betrage 40. Für die Migräne sei ein Einzel-GdB von 30 anzusetzen. Obwohl glaubhaft berichtet worden sei, dass nur wenige Tage in der Woche anfallsfrei seien, seien die Begleiterscheinungen der Migräne nicht so ausgeprägt, dass diese die Klägerin an der Fortsetzung der Berufstätigkeiten hindern würden. Die Migräne werde maßgeblich durch die psychische Fehlverarbeitung beeinflusst. Daher bestehe eine Überschneidung.
Die Klägerin hat gegen das Gutachten insbesondere die aus ihrer Sicht nicht nachvollziehbare Bildung des Gesamt-GdB eingewendet. Auch der Beklagte hat Einwendungen erhoben und hier den nach seiner Meinung zu hohen Einzel-GdB von 40 für das psychische Leiden gerügt. Das Sozialgericht hat zu den jeweiligen Einwänden eine ergänzende Stellungnahme bei Dr. B vom 22. Februar 2023 eingeholt, der erklärt hat, die mit der psychischen Fehlhaltung einhergehende Anspannung verstärke zwar die Häufigkeit und Intensität der Migräne, eine Verstärkung der psychischen Dysfunktionalität durch die Migräne sei aber nicht belegbar, da die Klägerin trotz Migräne ihre beruflichen Aufgaben bewältige und die Ehekonflikte sowie der Rückzug aus der Erledigung der Haushaltsaufgaben und den sozialen Beziehungen nicht der Migräne, sondern der Art und Weise der psychischen Fehlhaltung und der aus ihr resultierenden erhöhten Erschöpfbarkeit zuzuschreiben seien. Im Anschluss hat der Sachverständige begründet, weshalb der Einzel-GdB für das psychische Leiden aus seiner Sicht mit 40 zu bewerten sei.
Das Sozialgericht hat nach Anhörung der Beteiligten durch Gerichtsbescheid vom 21. November 2023 entschieden und den Beklagten zur Feststellung eines GdB von 40 ab dem 29. Juli 2020 verurteilt bei einer Kostenquote von der Hälfte. Aus den Einzel-GdB von 40 für das psychische Leiden, 30 für die Migräne und 10 für das Leiden der Halswirbelsäule sei ein Gesamt-GdB von 40 zu bilden. Insbesondere würden die psychischen Beeinträchtigungen durch die Auswirkungen der Migräne nicht verstärkt. Dass es nach den versorgungsmedizinischen Grundsätzen bei einem Einzel-GdB von 20 vielfach nicht gerechtfertigt sei, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen, bedeute im Umkehrschluss nicht, dass sich ein Einzel-GdB von 30 in der Regel GdB-erhöhend auswirke. Von maßgeblicher Bedeutung für die Beurteilung des vorhandenen Funktionsniveaus sei, dass die Klägerin einer anspruchsvollen Berufstätigkeit als Lehrerin in Vollzeit nachgehe und dabei auch die Funktion der Vertrauenslehrerin ausübe.
Gegen den ihr am 23. November 2023 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 12. Dezember 2023 Berufung eingelegt. Ausgehend von den Einzel-GdB von 40 für das psychische Leiden und 30 für die Migräne habe das Sozialgericht nicht ausreichend berücksichtigt, dass die Migräne keine psychische Erkrankung sei und demgemäß somatische Beschwerden hervorrufe. Das Ausmaß der Teilhabebeeinträchtigungen werde durch die Migräne erhöht. Es bestehe eine negative Wechselwirkung der Erkrankungen. Die Migräne verstärke ihre depressive Stimmung.
Auf Antrag der Klägerin gemäß § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) hat der Senat bei dem Facharzt für Neurologie Dr. P ein neurologisches Gutachten vom 3. Juni 2024 eingeholt, das dieser nach ambulanter Untersuchung der Klägerin am 28. Mai 2024 erstellt hat und in dem er zu der Einschätzung gelangt ist, der GdB bei der Klägerin sei mit 50 zu bewerten. Dabei sei die bei der Klägerin vorliegende Migräne mit Aura mit einem Einzel-GdB von 40 zu bewerten. Es trete etwa eine Migräne-Attacke in der Woche mit einer Dauer von ein bis drei Tagen auf, was zu elf bis 13 Tagen mit Kopfschmerzen pro Monat führe. Damit werde das Bild einer chronischen Migräne nicht ganz erreicht, dies sei erst ab 15 Kopfschmerztagen monatlich der Fall. Nach Maßgabe der versorgungsmedizinischen Grundsätze bewege sich die Klägerin aber im Grenzbereich zur schweren Verlaufsform, so dass bei der bei ihr vorliegenden mittleren Verlaufsform der GdB-Rahmen auszuschöpfen sei.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 21. November 2023 abzuändern sowie den Bescheid des Beklagten vom 24. September 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Januar 2021 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, bei der Klägerin ab dem 29. Juli 2020 einen Grad der Behinderung von 50 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend, soweit ein GdB von 50 abgelehnt worden ist.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie die die Klägerin betreffenden Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Der Senat kann ohne mündliche Verhandlung durch den Berichterstatter entscheiden, weil die Beteiligten zu dieser Entscheidungsform ihr Einverständnis erklärt haben, § 124 Abs. 2 SGG i. V. m. § 155 Abs. 4 und Abs. 3 SGG.
Die zulässige Berufung der Klägerin ist begründet, der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts unzutreffend. Die der Berufung zugrunde liegende Klage ist zulässig und begründet. Der Bescheid vom 24. September 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Januar 2021 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Voraussetzungen nach § 48 Abs. 1 Satz 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch liegen vor, wonach der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Im Verhältnis zum Bescheid vom 24. Juni 2013 ist eine wesentliche Änderung im von der Klägerin begehrten Umfang eingetreten. Ihr steht seit Antragstellung am 29. Juli 2020 ein GdB von 50 zu.
Nach § 152 Abs. 1 Satz 1 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) in seiner seit dem 1. Januar 2018 geltenden Fassung stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) – seit dem 1. Januar 2024 des Vierzehnten Buches - zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung zum Zeitpunkt der Antragstellung fest. Bei der Prüfung, ob diese Voraussetzungen vorliegen, sind seit dem 1. Januar 2009 die in der Anlage zu § 2 VersMedV vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I Seite 2412) festgelegten „versorgungsmedizinischen Grundsätze“ zu beachten, die durch die Verordnungen vom 1. März 2010 (BGBl. I Seite 249), 14. Juli 2010 (BGBl. I Seite 928), vom 17. Dezember 2010 (BGBl. I Seite 2124), vom 28. Oktober 2011 (BGBl. I Seite 2153) und vom 11. Oktober 2012 (BGBl. I Seite 2122) sowie durch Gesetze vom 23. Dezember 2016 (BGBl. I Seite 3234), vom 17. Juli 2017 (BGBl. I Seite 2541), vom 12. Dezember 2019 (BGBl. I Seite 2652), vom 6. Juni 2023 (Nr. 146) und vom 19. Juni 2023 (Nr. 158) Änderungen erfahren haben.
Einzel-GdB sind entsprechend den genannten Grundsätzen als Grad der Behinderung in Zehnergraden zu bestimmen. Für die Bildung des Gesamt-GdB bei Vorliegen mehrerer Funktionsbeeinträchtigungen sind nach § 152 Abs. 3 SGB IX die Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander zu ermitteln, wobei sich nach Teil A Nr. 3 a) der Anlage zu § 2 VersMedV die Anwendung jeglicher Rechenmethode verbietet. Vielmehr ist zu prüfen, ob und inwieweit die Auswirkungen der einzelnen Behinderungen voneinander unabhängig sind und ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen oder ob und inwieweit sich die Auswirkungen der Behinderungen überschneiden oder gegenseitig verstärken. Dabei ist in der Regel von einer Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten Grad 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden, wobei die einzelnen Werte jedoch nicht addiert werden dürfen. Leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB-Grad von 10 bedingen, führen grundsätzlich nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung; auch bei leichten Funktionsstörungen mit einem GdB-Grad von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (Teil A Nr. 3 d) aa) – ee) der Anlage zu § 2 VersMedV).
Der GdB ist mit 50 zu bewerten. Dies folgt aus einer Gesamtschau der vorliegenden medizinischen Unterlagen, insbesondere aus den Gutachten der Sachverständigen Dr. Bö und Dr. P, die jeweils auf einer ambulanten Untersuchung der Klägerin sowie einer kritischen Würdigung der sonstigen medizinischen Unterlagen beruhen und sowohl auf der Grundlage der herrschenden medizinischen Lehre als auch im Einklang mit den versorgungsmedizinischen Grundsätzen erstattet worden sind. Soweit der Senat von der Bewertung des Gesamt-GdB durch Dr. B abweicht, ist dies ohne weiteres möglich und zulässig. Denn die Bemessung des GdB ist grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe. Dabei müssen die Instanzgerichte bei der Feststellung der einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen (erster Schritt) in der Regel ärztliches Fachwissen heranziehen. Bei der Bemessung der Einzel-GdB und des Gesamt-GdB kommt es indessen nach § 152 Abs. 1 Satz 5 und Abs. 3 Satz 1 SGB IX maßgeblich auf die Auswirkungen der Gesundheitsstörungen auf die Teilnahme am Leben in der Gesellschaft an. Bei diesem zweiten und dritten Verfahrensschritt haben die Tatsachengerichte über die medizinisch zu beurteilenden Verhältnisse hinaus weitere Umstände auf gesamtgesellschaftlichem Gebiet zu berücksichtigen (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 16. Dezember 2021 - B 9 SB 6/19 R – juris).
Einleitend ist anzumerken, dass kein Raum für die von dem Beklagten mitunter vorgenommene (vgl. etwa die versorgungsärztliche Stellungnahme vom 20. Januar 2023) einheitliche Bewertung des psychischen Leidens und der Migräne ist. Nach Teil A Nr. 2 e) der Anlage zu § 2 VersMedV sollen im Allgemeinen die folgenden Funktionssysteme zusammenfassend beurteilt werden: Gehirn einschließlich Psyche; Augen; Ohren; Atmung; Herz-Kreislauf; Verdauung; Harnorgane; Geschlechtsapparat; Haut; Blut einschließlich blutbildendes Gewebe und Immunsystem; innere Sekretion und Stoffwechsel; Arme; Beine; Rumpf. Eine zusammenfassende Beurteilung von Beeinträchtigungen in den Funktionssystemen Kopf und Gesicht (hier der Migräne) einerseits und Nervensystem und Psyche andererseits ergibt sich daraus nicht.
Auszugehen ist vom Einzel-GdB von 40 für das psychische Leiden. Hier liegt nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Dr. B im Sinne von Teil B Nr. 3.7 der Anlage zu § 2 VersMedV eine stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit vor, die innerhalb des vorgegebenen Bewertungsrahmens mit einem Einzel-GdB von 40 zu bewerten ist. Dass die Klägerin ihrer beruflichen Tätigkeit noch vollumfänglich nachkommen kann, rechtfertigt keine andere Betrachtungsweise. Denn mit Ausnahme der Arbeitswelt kann die Klägerin nach der Einschätzung des Sachverständigen Dr. B den Anforderungen des täglichen Lebens und des häuslichen Bereichs kaum noch nachkommen. Die Haushaltsführung obliegt dem Ehemann, sozial ist die Klägerin weitgehend isoliert, ihre Fähigkeit zu körperlicher und geistiger Betätigung sowie zur Erholung ist störungsbedingt deutlich vermindert. Ein noch höherer Einzel-GdB wegen der bis mittelgradigen Anpassungsschwierigkeiten kommt entgegen der Einschätzung der Klägerin im Schriftsatz vom 28. Januar 2023 nicht in Betracht, weil dies nach Teil B Nr. 3.7 der Anlage zu § 2 VersMedV eine schwere psychische Störung voraussetzen würde.
Ob die Migräne nach Teil B Nr. 2.3 der Anlage zu § 2 VersMedV mit einem Einzel-GdB von 30 oder 40 zu bewerten ist, kann dahinstehen. Jedenfalls liegt nach den übereinstimmenden Einschätzungen der Sachverständigen eine echte Migräne mit mittelgradiger Verlaufsform vor, für die ein Bewertungsrahmen von 20 bis 40 eröffnet ist. Dass hier im Sinne der genannten Bewertungsziffer häufigere Anfälle, jeweils einen oder mehrere Tage anhaltend vorliegen, ergibt sich ohne weiteres aus der Aktenlage und entspricht auch den Einschätzungen der Sachverständigen. Gewisse Schwankungen in den Angaben sind nicht verwunderlich und sind hier im Ergebnis unschädlich, weil jeweils ein Einzel-GdB von 30 gerechtfertigt ist. Das gilt auch ausgehend von dem Befundbericht des behandelnden Neurologen Dr. H, der zwar einerseits „nur“ zwei Anfälle im Monat für je vier Tage, anderseits eine Verschlechterung seit September 2020 mit einem Anfall in der Woche für je drei Tage mitgeteilt hat. Letztere Angabe entspricht auch den Begutachtungsergebnissen mit den von Dr. P mitgeteilten elf bis 13 Kopfschmerztagen.
Ungeachtet weiterer Einzel-GdB, die hier nicht mit mehr als 10 zu bewerten sind, folgt aus den beiden Hauptleiden ein Gesamt-GdB von 50. Dabei hält der Senat an seiner Rechtsprechung fest, dass aus Einzel-GdB von 40 und 30 in aller Regel ein Gesamt-GdB von 50 folgt (Urteil vom 6. Januar 2020 – L 11 SB 177/17 – juris). Dies ist auch hier nach der gebotenen individuellen Betrachtung der Teilhabefähigkeit der Klägerin der Fall (vgl. Mecke, SGb 2023, 220, 229). Das folgt allerdings nicht daraus, dass nach den Ausführungen des Sachverständigen Dr. B die mit der psychischen Fehlhaltung einhergehende Anspannung die Häufigkeit und Intensität der Migräne verstärkt. Denn dieser Umstand ist bereits in die Bewertung des Einzel-GdB mit 30 für die Migräne eingeflossen. Außerdem ist nach den versorgungsmedizinischen Grundsätzen in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt. Umgekehrt spricht gegen eine Erhöhung nicht der Umstand, dass nach Dr. B die Migräne maßgeblich durch die psychische Fehlverarbeitung beeinflusst wird. Denn hierbei handelt es sich um eine Beurteilung der Kausalität, die nach Teil A Nr. 2 a) der Anlage zu § 2 VersMedV für das final ausgerichtete Schwerbehindertenrecht unmaßgeblich ist. Keinesfalls folgt aus dieser Kausalität im Übrigen die von Dr. B angenommene Überschneidung der psychischen und somatischen Behinderungen. Ein solche Überschneidung ist hier auch fernliegend und wird von dem Sachverständigen Dr. P überzeugend verneint. Denn während das psychische Leiden in Form einer angstbedingten Daueranspannung vorliegt mit starken Beeinträchtigungen der Alltagsbewältigung, folgen aus der Migräne heftige Kopfschmerzen mit Übelkeit, Durchfall, einem diffusen Schwindelgefühl sowie einer Geräusch- und Geruchsüberempfindlichkeit und das in einem erheblichen Umfang von elf bis 13 Tagen monatlich. Sind damit ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betroffen (Teil A Nr. 3 d) aa) der Anlage zu § 2 VersMedV), liegt zudem eine Verstärkung des psychischen Leidens durch die Migräne insoweit vor, als die ohnehin stark angstbelastete Klägerin gegenüber Dr. B nachvollziehbare Ängste vor einer weiteren Migräneattacke geschildert hat. Dass die Klägerin vollschichtig als Lehrerin berufstätig ist, spricht nicht gegen eine Schwerbehinderung, was etwa § 208 Abs. 1 Satz 1 SGB IX erhellt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil ein Grund hierfür gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG nicht vorliegt.