Der Bescheid der Beklagten vom 08.09.2023 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.03.2024 wird geändert.
Die Beklagte wird verurteilt, ab Antragstellung am 12.07.2023 an die Klägerin die Erziehungsrente nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen bis zum Abschluss des Bachelor Studiengangs N. des Sohnes O. an der Universität P. zu gewähren.
Die Beklagte trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin in vollem Umfang.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Bewilligung von Erziehungsrente an die Klägerin nach § 47 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (Gesetzliche Rentenversicherung - SGB VI ) für die Erziehung ihres volljährigen Sohnes O. in der Zeit ab Antragstellung im Juli 2023 nach Tod von dessen Vater Herrn R. am 7.7.2023.
Die am 00.00.0000 geborene Klägerin war in der Vergangenheit in Teilzeit versicherungspflichtig beschäftigt bzw. auch allein als geringfügig Beschäftigte (Minijob) ohne Versicherungspflicht tätig.Ihre Ehe mit Herrn R. ( geboren 00.00.0000) wurde standesamtlich geschlossen am 30.11.1989 und rechtskräftig geschieden am 25.06.2022. Danach verstarb der Ex-Ehemann der Klägerin rund ein Jahr später, am 7.7.2023.
Aus der Ehe ist der am 00.00.0000 geborene Sohn O. als gemeinsames Kind der Klägerin und des verstorbenen Versicherten Herrn R. hervor gegangen . Bei O. ist der Grad der Behinderung (GdB) von 100 mit den Merkzeichen „G“, „aG“ „H“ und „B“ festgestellt. Er leidet an einer schweren, den ganzen Körper beeinträchtigenden multiplen spastischen Lähmung insbes. aller Gliedmaßen. Darüber liegt ein in Kopie aktenkundig gemachter Ausweis des Versorgungsamtes beim Kreis Borken datiert vom 12.08.2003 vor, der unbefristet gültig ist. Bei O. ist wegen der Notwendigkeit fremder Unterstützung in allen Lebensbelangen der Pflegegrad IV nach dem SGB XI anerkannt. Er hat an einem Gymnasium mit angeschlossenem „Pflege“-Internat in Köln die Hochschulreife erworben. Sodann ist er nach dem Abitur zum Studium N. (Bachelor-/Master-Prüfungsordnungen) an der Philipps-Universität P. ab dem Wintersemester 2016/2017 ordentlich eingeschriebener Student.
Zu den Lebensbedingungen schilderte die Klägerin bei informatorischer Befragung vor der erkennenden Kammer im Termin zur mündlichen Verhandlung am 21.10.2024 Folgendes: „Nach dem Abitur an dem speziell für hochgradig körperbehinderte Menschen vorgesehenen Gymnasium mit Internatsunterbringung in Köln nahm O. dann das Studium in P. auf. P. ist der Studienort der Wahl, weil es allein dort eine Uni mit einer Pflegeabteilung für die Unterbringung von Studenten in studentenwohnheimähnlichen Rahmen gibt. Dort ist also eine Vollpflege garantiert und gewährleistet. Die benötigt O. auch tatsächlich. Er ist aufgrund der Komplett-Lähmung infolge des spastischen Leidens körperlich quasi definitiv zu nichts in der Lage. Seine Hände kann er nicht bewegen. Er kann sich nicht einmal ein Brot schmieren. Er kann sich nicht selbst an- oder umkleiden, geschweige denn grundlegenden körperlichen Bedürfnissen nachzukommen oder etwa sich selbst reinigen etc. All dies muss von dritter Seite, also jemand anderem, geschehen. Er ist außer Stande, in allen Lebensbereichen all dies selber zu machen infolge umfassend beeinträchtigender spastischer Lähmungen.“
Tatsächlich besteht nach Lage der Akten ein besonderes Förder-Angebot an der Philipps-Universität P. für behinderte Studierende. Die Universität hat eine Servicestelle für behinderte Studierende (SBS) eingerichtet und unterstützt auch damit studentisches Wohnen mit Behinderung , erforderlichenfalls bei Beantragung von Pflege-Hilfen für hochgradig körperbehinderte Studierende. Daran anknüpfend existiert ein Heimangebot vergleichbar einer stationären Pflegeeinrichtung für hochgradig unterstützungsbedürftige Studierende mit entsprechenden Pflegegraden nach dem SGB XI, das sog. J. in P.
O. war ab Studienbeginn in P. im Oktober 2016 dort mit erstem Wohnsitz und in seinem Heimatort B. mit einem Nebenwohnsitz gemeldet. Er hat ausweislich Meldebescheinigung der Stadt B. vom 21.08.2023 ab dem 17.08.2023 wieder seine Erstwohnung unter der Anschrift der Klägerin in B.. Zwischenzeitlich war O. krankgeschrieben und im Wintersemester 2023/2024 vom Studium beurlaubt. Nach der Krankschreibung für die Universität P. setzt er seit 2024 sein Hochschulstudium im Rahmen des ihm Möglichen weiter fort. Angestrebt ist als nächstes der Abschluss als Bachelor im Fachbereich N. Geistig wird er den Studienanforderungen insoweit gerecht. Körperlich wäre er, ausgehend von der schlüssigen Schilderung der Klägerin bei informatorischer Befragung gegenüber der erkennenden Kammer im Termin zur mündlichen Verhandlung am 21.10.2024 komplett außer Stande, sich am Studienort selbst zu versorgen.
Nach dem Tod des Versicherten R., des Vaters von O., beantragte die Klägerin im Juli 2023 bei der Beklagten die Erziehungsrente für die Erziehung eines gemeinsamen Kindes nach Versterben des geschiedenen Elternteils. Die Beklagte hat den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 08.09.2023 abgelehnt . Die Klägerin widersprach dem rechtzeitig. Dieser Rechtsbehelf wurde sodann mit Widerspruchsbescheid vom 20.03.2024 durch die Beklagte als unbegründet zurückgewiesen. Die Beklagte führte nunmehr aus, dass die Voraussetzungen der Erziehungsrente nicht gegeben seien, u.a. das Kind O. bereits das 27. Lebensjahr vollendet habe und sich nicht mehr in „ihrem“ (der Klägerin) Haushalt aufhalte.
Mit ihrer am 17.04.2024 vor dem Sozialgericht (SG) Münster dagegen erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Begehren in Bezug auf Erziehungsrente für die Zeit ab Juli 2023 durch die Beklagte weiterverfolgt. Dazu trägt sie im Wesentlichen wie folgt vor: Den Ausführungen der Beklagten könne bezüglich der fehlenden Voraussetzungen für die Erziehungsrente nicht gefolgt werden. Die Voraussetzungen des § 47 SGB VI lägen bei ihr vor. Die Ehe sei nach dem 30.06.1977 geschieden und der geschiedene Ehegatte zudem verstoben. O. sei unstreitig das leibliche Kind des geschiedenen und gestorbenen Ehegatten. § 47 SGB VI verweise sodann zur Begriffsklärung für die Definitionen der Begriffe „Kind“ und „Kindererziehung“ auf § 46 SGB VI. Danach wiederum spiele das Lebensalter des Kindes eine Rolle; die Rente solle insofern nur bis zum 18. Lebensjahr gewährt werden. Eine zeitliche Begrenzung gäbe es hingegen nicht, wenn das Kind wegen einer Behinderung nicht imstande sei, sich selbst zu unterhalten. Im Rahmen der Akteneinsicht habe sie , die Klägerin . erkannt, dass in der beratungsärztlichen Stellungnahme die Behinderung des Sohnes O. in Frage gestellt worden sei, da er in einem Studiengang immatrikuliert ist. Die Definition der Behinderung scheine den Ausführungen aus dem SGB IX entnommen worden zu sein. Es werde dabei angenommen, dass die Gesundheitsschäden auf körperlicher, geistiger oder seelischer Ebene vorliegen. Bei ihrem Sohn O., so die Klägerin, bestehe eine Schwerbehinderung mit einem Gesamt-GdB von 100 mit den Merkzeichen G, aG und H. Diese Feststellungen seien unbefristet da eine körperliche Verbesserung des Zustandes nicht erwartet wird. Eine Kopie des Ausweises wurde beigefügt. Trotz der Behinderung möchte der Sohn O. nach Möglichkeit am Leben teilhaben. Er sei geistig in der Lage, sein Studium zu absolvieren. Dennoch werde es ihm nach jetzigem Stand kaum möglich sein, sich bisher und zukünftig allein unterhalten zu können, da die Behinderung ihn stark beeinträchtige. Jedenfalls sei den Normen der § 46 ff SGB VI nicht zu entnehmen, dass im Falle eines behinderten Kindes eine Altersbegrenzung auf 27 Jahre bestehen solle. Die Norm verweise auf § 46 SGB VI. Ergänzend wurde für die Klägerin noch klargestellt, dass sie für sich selbst keinen Antrag auf Erwerbsminderungsrente gestellt habe. Sie könne auch nicht erkennen, dass eine Voraussetzung der Erziehungsrente gemäß § 47 SGB VI die Zuerkennung oder Beantragung einer Erwerbsminderungsrente bei dem jeweiligen Antragssteller sei. Jedenfalls aus ihrer Sicht, so die Klägerin, seien unabhängig davon die Anspruchsvoraussetzungen für die begehrte Erziehungsrente erfüllt. Die Ablehnung durch die Beklagte sei insofern rechtwidrig; es wird antragsgemäße Entscheidung erbeten.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 08.09.2023 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.03.2024 zu verurteilen, ihr gemäß dem Antrag vom 12.07.2023 Erziehungsrente zu gewähren und darüber einen neuen Bescheid zu erteilen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hält ihre angefochtene Ablehnungsentscheidung weiterhin für zutreffend.
Das Gericht hat in der mündlichen Verhandlung vom 21.10.2024 die Klägerin informatorisch angehört. Dazu wird auf die Niederschrift der mündlichen Verhandlung im Sitzungsprotokoll vom 21.10.2024 vollumfänglich verwiesen.
Im Übrigen wird zu dem Sach- und Streitstand auf den Inhalt der elektronisch geführten Gerichtsakte und der Verwaltungsvorgänge der Beklagten betreffend die Klägerin Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung, Beratung und Entscheidungsfindung der Kammer gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist wie tenoriert begründet.Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 08.09.2023 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.03.2024 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG -), soweit er die Bewilligung von Erziehungsrente ab Antragstellung im Juli 2023 vollständig ablehnt, damit auch keine sachgerecht zu befristende Rentenleistung an die Klägerin für die Zeit bis zum Abschluss jedenfalls des Bachelor-Studiengangs des O. vorsieht.
Der Klageantrag ist im Wege der Auslegung (§ 123 SGG) in Gesamtschau mit dem streitbefangenen Sachverhalt eindeutig geeignet, die Leistungsdauer entsprechend zu umgrenzen, über die die Kammer hier zu ihrer vollen Überzeugung (§ 128 SGG) entscheiden hat.
Rechtsgrundlage der Entscheidung ist § 47 SGB SGB VI iVm § 46 SGB VI, soweit darauf für die Erziehungsrente verwiesen wird. Der Anspruch auf Erziehungsrente setzt in jedem Fall den Tod des geschiedenen Ehegatten voraus, ist jedoch eine Rente aus eigener Versicherung, BT-Drucksache vom 07.03.1989, 11/4124, S. 164 - Motive zum Entwurf des SGB VI. Dies bedeutet, dass für die Erfüllung der Wartezeit und die Höhe der Rente ausschließlich die eigenen, gegebenenfalls durch einen Versorgungsausgleich begründeten oder erhöhten, Rentenanwartschaften des überlebenden geschiedenen Ehegatten maßgebend sind, siehe ebenso Steidel, in Ruland (Hg.), Handbuch der gesetzlichen Rentenversicherung,S. 599. Während nach dem bis zum 31.12.1991 geltenden Recht eine Begrenzung auf das 25. Lebensjahr vorgesehen war, weil der Anspruch daran geknüpft war, dass das Kind wegen seines Gebrechens Waisenrente erhält, ist in Erweiterung des früheren Rechts nunmehr der Anspruch auf große Witwen-/Witwerrente ohne Einschränkung unabhängig vom Alter des behinderten Kindes möglich, vgl. BT-Drucks. 11/4124,a.a.O., dazu auch noch Gemeinsame Rechtliche Anweisungen zum SGB VI der Deutschen Rentenversicherung, § 46 iff. 8.6,www.rvrecht.deutsche-rntenversicherung.de/01_GRA_SGB/06_SGBVI,15.7.2021); Jahn/Lange, § 46 SGB VI Rn. 21 Zweng/Scheerer/Buschmann/Dörr,§ 46 SGB VI Rn. 34. Die Höhe der Erziehungsrente entspricht sodann nach Maßgabe der §§ 67 , 82 SGB VI der Höhe einer Rente wegen Alters der Versicherten.Die vormalige Unterscheidung zwischen kleiner und großer Erziehungsrente [Rechtsstand vor Inkrafttreten des SGB VI zum 1.1.1992 : §§ 1265 a I S. 2 RVO , 42 a I S. 2 AVG und 65 a I S. 2 RKG ] hat das ab 01.01.1992 anzuwendende SGB VI aufgegeben, vgl. zur Rechtänderung : Heilemann, FamRZ 1991, 1254-1259.
Der Anspruch auf Erziehungsrente erfordert gemäß § 47 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI zunächst, dass die Ehe der Versicherten nach dem 30. 6. 1977 geschieden wurde und der geschiedene. Ehegatte gestorben ist. Einer Ehescheidung stehen gemäß § 47 Abs. 2 SGB VI die Fälle gleich, in denen die Ehe für nichtig erklärt oder aufgehoben wurde. Die Ehescheidung nach dem 30. 06. 1977 von S. und R. ist hier im Juni 2022 erfolgt und der Tod des geschiedenen Ehegatten rund ein Jahr später, am 07.07.2023, eingetreten. Ehescheidung im Jahr 2022 und Tod des Vaters von O. im Juli 2023 stehen hier unstreitig fest.
Die versicherte Person muss zudem gemäß § 47 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI weiterhin ein eigenes Kind oder ein Kind des geschiedenen. Ehegatten erziehen.Auch dies ist hier im Einzelnen (vgl. dazu generell Landessozialgericht - LSG - Sachsen-Anhalt Urteil vom 12.05.2016 - L 3 R 157/15,juris, m.w.N.) zur Überzeugung der Kammer wie entschieden gegeben. Zudem muss die versicherte Person gem. § 47 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI weiterhin ein eigenes Kind oder ein Kind des geschiedenen. Ehegatten erziehen. Erfüllt sein muss dabei die Anspruchsvoraussetzung des § 47 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI für die Zeit, für die eine Erziehungsrente begehrt wird ( siehe ebenso Reinhard Ringkamp in: Hauck/Noftz SGB VI, 3. Ergänzungslieferung 2024, § 47 SGB VI).
Der Begriff „Erziehung“ wird in der gesetzlichen Rentenversicherung im tatsächlichen Sinn verstanden und weit ausgelegt. Dabei sind die Grundzüge des im Familienrecht verwendeten Begriffs der Erziehung zu beachten. Erziehung ist demnach die Sorge für die sittliche, geistige und seelische Entwicklung des Kindes; sie ist der Inbegriff aller Maßnahmen, durch die das Kind zur Mündigkeit (Erwachsensein) gelangen soll. Auf die unterhaltsrechtliche Beziehung zwischen dem Hinterbliebenen und dem Kind kommt es hingegen nicht ausschlaggebend an. Das Tatbestandsmerkmal Erziehung ist in der Regel immer dann als erfüllt anzusehen, wenn das Kind im Haushalt des Hinterbliebenen lebt. Es kommt jedoch nicht entscheidend auf eine häusliche Gemeinschaft an, solange konkrete Erziehungsmaßnahmen weiterhin möglich sind. Dies wird z.B. auch bei internatsmäßiger Unterbringung des Kindes angenommen. Wird die Erziehung dagegen faktisch nicht mehr von dem Hinterbliebenen ausgeübt, sondern beispielsweise von Großeltern, die das Kind bei sich aufgenommen haben, ist der Rentenanspruch ausgeschlossen ( vgl. zu alledem auch Bohlken in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 3. Aufl., § 46 SGB VI (Stand: 01.04.2021). |
Unbeschadet der Volljährigkeit mit Vollendung des 18. Lebensjahres des Kindes steht der Erziehung - bei richtiger Lesart eben auch ohne jede Altersbegrenzung - die in häuslicher Gemeinschaft ausgeübte Sorge für ein behindertes Kind ( rechtsentsprechend § 46 Abs. 2 Satz 3 SGB VI ) gleich. Das wird im Wege der Auslegung, u.-a. auch der Auswertung durchaus strukturverwandter Judikatur, gestützt Nicht explizit zu verlangen ist, dass für die Erziehungsrente gemäß § 47 SGB VI die Personensorge für das betroffene Kind und eventuell sogar ein räumliches Zusammenleben erfüllt sein müssten. Allenfalls bei minderjährigen Kindern bzw. Jugendlichen bis zur Volljährigkeit weist eine familiengerichtliche Entscheidung ( OLG Koblenz Beschluss vom 29.6.2022 - 13 UF 178/22, juris) in diese Richtung . Selbst wenn danach der Schwerpunkt der Betreuung - und Erziehung - eines Jugendlichen darin liegt, dass der Elternteil als verantwortlicher Ansprechpartner im Alltag zur Verfügung steht, den persönlichen Kontakt pflegt und damit die soziale Bindung festigt, wobei er entsprechende Hilfeleistungen organisiert oder selbst durchführt, wäre hier jedenfalls in der faktischen Betreuungssituation der Klägerin für den schwerstbehinderten Sohn O. weiterhin durchgängig elterliche (mütterliche) Sorge auch nach dem 18. Lebensjahr von O. gegeben.
Dem wiederum stehen, soweit ersichtlich, Entscheidungen anderer (Sozial-)Gerichte auch im höheren Instanzenzug – nicht entgegen. Im Gegenteil bezieht sich die erkennende Kammer auf frühere Rechtsprechung des Bundesozialgerichts (BSG) , zB BSG Beschluss vom 25.9.2002 - B 7 AL 142/02 B – juris Rn. 7; Urteil des BSG vom 29. 3.1978 (5 RJ 4/77), das noch zu § 1265 RVO ergangen ist, einer Vorgängervorschrift zu § 47 SGB VI. Aus der näheren Untersuchung der Entscheidung anhand der dortigen Ausführungen des BSG folgt, dass der Begriff der Erziehung auch in der höchstrichterlichen Judikatur zum Rentenversicherungsrecht von Anfang an im tatsächlichen Sinne verstanden wurde und dabei stets eine weite Auslegung erfahren hat: Die „Erziehung“ sei im Sinne einer faktischen Einwirkungsmöglichkeit zu verstehen. Und dies wiederum , so das BSG schon vor Jahrzehnte und seitdem auch nicht mehr aufgegeben, könne auch bei einer räumlichen Trennung vom Kind vorliegen (BSG Urteil vom 29.3.1978 - 5 RJ 4/77 - juris Rn 19).
Für diese Auslegung des Begriffs der Sorge für ein behindertes Kind in häuslicher Gemeinschaft bezieht sich die Kammer des Weiteren auf ausdrücklich allgemein akzeptierte Kommentar-Literatur. Insoweit gilt hier u.a. mit Pohl/Zarczek in: v. Koppenfels/Wenner (Hrsg.) SGB VI Kommentar Luchterhand/ Wolters Kluwer online , 2. Auflage 2022, § 47 SGB VI Rn. 15 – 18, mw.N. im tatbestandlichen Sinne Folgendes: Der Erziehung eines Kindes, das das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, gleichgestellt wird durch § 46 Abs. 2 Satz 3 SGB VI i.V.m. § 47 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI die in häuslicher Gemeinschaft ausgeübte Sorge für ein Kind, das wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außer Stande ist, sich selbst zu unterhalten, auch nach dessen vollendetem 18. Lebensjahr. Denn insoweit besteht dem Wortlaut nach auch der Anspruch auf eine große Witwen-/Witwerrente dann, wenn der überlebende Ehegatte für ein eigenes Kind oder für ein Kind des verstorbenen Versicherten sorgt. Die Gleichstellung der Stief-, Pflegekinder, Enkel und Geschwister durch den Satz 2 des § 46 Abs. 2 SGB VI bezieht sich nicht ausdrücklich auch auf die Regelung des Satzes 3. Es ist jedoch nach alledem zu Recht anerkannt, dass die Gleichstellung auch im Rahmen des § 46 Abs. 2 Satz 3 SGB VI vorzunehmen ist. Und die Regelung begrenzt den Anspruch nicht auf ein bestimmtes Alter des Kindes.
Sodann wird – auch noch ohne ausdrücklichen gesetzlichen Verweis – sachgerechterweise im Rahmen der Einheit der (Sozial-)rechtsordnung für den Begriff der Behinderung die Vorschrift des § 2 Abs. 1 SGB IX herangezogen. Danach sind Menschen dann behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen, ebenso zutreffend und überzeugend Pohl/Zarczek in v. Koppenfels-Spies / Wenner, SGB VI - Kommentar, 2. Auflage 2022, § 47 SGB VI, Rn. 15 f., mw.N.
Mithin bezeichnet der Begriff "Sorge" die tatsächliche Betreuung, Beaufsichtigung und Versorgung. Die Formulierung "in häuslicher Gemeinschaft" ausgeübte Sorge stellt klar, dass es für die Gleichstellung des Satzes 3 in § 46 Abs. 2 SGB VI nicht genügt, wenn das Kind auf Dauer und ständig in einem Heim untergebracht ist.. Hingegen steht der Sorge in häuslicher Gemeinschaft exemplarisch die Beschäftigung des Kindes in einer Werkstatt für behinderte Menschen oder eine vorübergehende Unterbrechung des Zusammenlebens durch die Teilnahme an einem Kursus in einem Berufsbildungswerk nicht entgegen. Außerstande, sich selbst zu unterhalten, ist ein behinderter Mensch, der seinen notwendigen Lebensbedarf nicht durch Arbeit verdienen kann.(Was zum notwendigen Lebensbedarf gehört, ergibt sich aus den Umständen des Einzelfalls. Dabei ist zu berücksichtigen, dass gerade auf Grund der Behinderung erhöhte Aufwendungen notwendig werden können. Die Rentenversicherungsträger nehmen die fehlende eigene Unterhaltsfähigkeit pauschalierend dann an, wenn das (tatsächliche oder mögliche) Nettoeinkommen 799,00 Euro nicht übersteigt. Maßstab dafür, ob der behinderte Mensch außer Stande ist, die entsprechenden Ausgaben selbst zu bestreiten, sind die medizinischen Gegebenheiten und nicht die tatsächliche Situation. Wer medizinisch in der Lage ist, die notwendigen Einkünfte durch eine Erwerbstätigkeit zu erzielen, ist rentenrechtlich auch dann in Lage, sich selbst zu unterhalten, wenn er keinen entsprechenden Arbeitsplatz innehat. Bekräftigt und reflektiert wird all dies zuletzt auch noch im Beschluss des BSG vom 10.05.2024 – B 5 R 173/23 B –, juris Rn. 9, 10. Das bezieht sich zudem richtigerweise auf die bereits benannten früheren Ausführungen des BSG, wonach der Begriff im Rentenversicherungsrecht von Anfang an im tatsächlichen Sinne verstanden worden sei und dabei stets eine weite Auslegung erfahren habe, sodass er im Sinne einer faktischen Einwirkungsmöglichkeit zu verstehen sei, die auch bei einer räumlichen Trennung vom Kind vorliegen könne (BSG Urteil vom 29.3.1978 - 5 RJ 4/77 - SozR 2200 § 1265 Nr 32, S 95 f = juris Rn 19).
Das BSG versteht den Erziehungsbegriff auch insoweit im tatsächlichen Sinn (vgl BSG Urteil vom 16.5.2001 - B 5 RJ 26/00 R - SozR 3-2600 § 243 Nr 8 RdNr 34) und bezieht sich dabei insoweit - für die gleichgelagerte Frage der „Erziehung“ bei der Witwenrente nach § 46 SGB VI - auf die Rechtsprechung zu § 1268 RVO als einer Vorgängervorschrift zu § 46 SGB VI. Danach sei zur Auslegung des Erziehungsbegriffs wegen des familienrechtlichen Bezugs auf die Regelungen des BGB zur elterlichen Sorge (§ 1626 Abs 1 BGB) und zur Personensorge (§ 1631 Abs 1 BGB) zurückzugreifen (vgl BSG Urteil vom 21.9.1983 - 4 RJ 83/82 - SozR 2200 § 1268 Nr 22, juris Rn 11 f). Unter Bezug auf den Inbegriff dieser Entscheidungen, auf die die Kommentarliteratur zu § 46 SGB VI zustimmend hinweist (vgl zB Bohlken in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 3. Aufl, § 46 SGB VI, Stand 1.4.2021, RdNr 61 ff; Gürtner in BeckOGK, Stand 1.12.2019, SGB VI § 46 RdNr 23 ff), wird der Anspruch der Klägerin nach dem Inbegriff des oben Ausgeführten eher gestützt als zu bezweifeln zu sein.
Da somit beim betroffenen Kind kein ausschließlich räumliches Zusammenleben vorausgesetzt wird, stützen die Angaben der Klägerin bei ihrer informatorischen Befragung vor der erkennenden Kammer im Termin zur mündlichen Verhandlung am 21.10.2024 maßgeblich auch in tatsächlicher Hinsicht den Anspruch gem. § 47 SGB VI. So erklärte die Klägerin u.a. nachvollziehbar, schlüssig und damit für das gericht insgesamt überzeugend: „Durch die Unterbringung von Studenten in studentenwohnheimähnlichen Rahmen in P. ist eine Vollpflege garantiert und gewährleistet. Die benötigt O. auch tatsächlich. .. Er ist aufgrund der Komplett-Lähmung infolge des spastischen Leidens körperlich quasi definitiv zu nichts in der Lage. Seine Hände kann er nicht bewegen. Er kann sich nicht einmal ein Brot schmieren. Er kann sich nicht selbst an- oder umkleiden, geschweige denn grundlegenden körperlichen Bedürfnissen nachzukommen oder etwa sich selbst reinigen etc. All dies muss von dritter Seite, also jemand anderem, geschehen. Er ist außer Stande, in allen Lebensbereichen all dies selber zu machen infolge umfassend beeinträchtigender spastischer Lähmungen. Die zwischenzeitliche Krankschreibung für die Uni in P. ist derzeit wieder beendet. O. setzt sein Hochschulstudium im Rahmen des ihm Möglichen weiter fort. Angestrebt ist als nächstes in seinem Studium der Abschluss als Bachelor im Bereich N. Geistig wird er den Studienanforderungen insoweit gerecht. Körperlich wäre er komplett außer Stande, sich am Studienort selbst zu versorgen.“ Der Sorge in häuslicher Gemeinschaft steht demgegenüber die Beschäftigung des Kindes in einer Werkstatt für behinderte Menschen oder eine vorübergehende Unterbrechung des Zusammenlebens durch die Teilnahme an einem Kursus in einem Berufsbildungswerk wie bereits ausgeführt, gerade nicht entgegen. Ausgehend davon bleibt es auch für die Kammer dabei, dass selbst bei vollpflegerischer Betreuung in der Vorlesungszeit in P. das behinderte „Kind“ O. dauerhaft außerstande bleiben wird, sich selbst zu unterhalten und neben der Studiensituation darauf angewiesen bleibt, angesichts der medizinischen Gegebenheiten tatsächlich von der Klägerin im umfassenden Sinne versorgt zu werden.
Für die Entscheidung zur Begrenzung des Anspruches auf dem Zeitstrahl („Befristung“ bzw. ungewisser Bedingungseintritt als Wegfallvoraussetzung) bis zum Erlangen des Bachelor-Abschlusses des Sohnes O. der Klägerin orientiert sich das Gericht dabei dann ebenso an gesetzgeberisch grundlegenden Wert(ungs)entscheidungen. Ausdrücklich wird z.B. auch die große Witwen- bzw. Witwerrente wegen Kindererziehung , vgl. § 46 Abs. 2 SGB VI, qua legem nach § 102 Abs. 3 Satz 1 SGB VI auf das Ende des Kalendermonats befristet, in dem die Kindererziehung voraussichtlich endet. Sind Renten befristet, enden sie nach § 102 Abs. 1 Satz 1 SGB VI mit Ablauf der Frist. Nach § 39 Abs. 2 SGB X bleibt ein Verwaltungsakt wirksam, solange und soweit er nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist.
Dies wird bei der Erziehungsrente ebenso wie bei der Großen Witwenrente in der Regel der Monat sein, in dem das Kind sein 18. Lebensjahr vollendet. Danach verlängert sich der Anspruchsdauer um die notwendige Zeit für eine berufliche etc. Ausbildung. Die Gewährung der Rente aufgrund der Sorge für ein behindertes Kind erfolgt andererseits sogar vollständig unbefristet, wenn mit einer Änderung der Verhältnisse ( überhaupt..) nicht zu rechnen ist (Bohlken in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 3. Aufl., § 243 SGB VI Rn. 143). Danach wiederum sind die Voraussetzungen einer Erziehungsrente in jedem Fall realistischerweise für die Zeit bis Abschluss des ersten berufsqualifizierenden Teils des Hochschulstudiums von O., hier der Erlangung seines Bachelor-Abschlusses, als vorliegend anzunehmen gewesen. Unabhängig von dem Gesichtspunkt, dass auch dann nicht sicher feststeht, ab welchem Zeitpunkt O. diesen Abschluss erlangt haben wird, hat er jedenfalls seit dem Sommer 2023 wieder seien rechtlichen Lebensmittelpunkt zurück zur Mutter nach B. verlegt. Er ist zugleich , jetzt wieder aktiv, Studierender an der Phillips Universität P.. Die Erziehungsrente steht der Klägerin sicher ab dem Zeitpunkt der Antragstellung im Juli 2023 zu. Denn , nochmals für alle Beteiligten und namentlich die Beklagte, zur ratio legis des § 47 SGB VI : Der Zweck der Erziehungsrente ist nicht eine Sicherstellung der Betreuung des behinderten Kindes, sondern der Ausgleich für die durch die Erziehung gar nicht oder nur eingeschränkt mögliche Erwerbstätigkeit des überlebenden Elternteils ( so bereits zutreffend Bohlken in: JurisPraxiskommentar SGB VI , 2. Aufl. 2013, § 46 Rn. 96). Damit kommt – für die Beklagte bei Gewährung der Erziehungsrente unter nachfrage nach den tatsächlichen Verhältnissen jedenfalls nach allgemeinen Regeln weiterhin rechtlich eine Aufhebung der Bewilligung nach § 48 SGB X aufgrund einer Änderung der Verhältnisse in Zukunft in Frage. Das genügt, um den Ausführungsbescheid aus diesem Urteil rechtlich-tatsächlich „unter Kontrolle“ zu halten. Die Leistung gemäß § 47 SGB VI ist in dem Rahmen und wie dargelegt ab Antragstellung im Juli 2023 nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften nun der Klägerin zu erbringen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.