L 2 R 3620/22

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
2.
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 16 R 3478/20
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 2 R 3620/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 1. Dezember 2022 und der Bescheid der Beklagten vom 20. April 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. November 2020 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung ausgehend von einem am 17. April 2018 eingetretenen Versicherungsfall ab 7. April 2020 auf Dauer zu gewähren.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.



Tatbestand

Streitig ist die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.

Der 1981 geborene Kläger absolvierte im Jahr 2002 erfolgreich eine Ausbildung zum Industriemechaniker (Bl. 88, 301 VA) und von September 2004 bis Juni 2006 eine Umschulung zum Kaufmann im Einzelhandel (Bl. 88, 303 VA). Im Anschluss hieran war er mit Unterbrechungen zunächst in seinem Umschulungsberuf und dann in seinem erlernten Ausbildungsberuf versicherungspflichtig beschäftigt. Zuletzt war der Kläger von Juni 2011 bis September 2015 als Industriemechaniker versicherungspflichtig beschäftigt (Bl. 17, 89 VA, Versicherungsverlauf vom 05.01.2023, Bl. 36 ff. Senats-Akte). Er bezog vom 01.10.2015 bis 30.09.2016 Arbeitslosengeld I (Bl. 305 VA, Bl. 37 Senats-Akte). Seit 01.10.2016 bezieht er Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (Bl. 306, 366 VA, Bl. 37/38, 70 Senats-Akte). Vom 17.04.2018 durchgehend bis 17.09.2019 sind in seinem Versicherungskonto Zeiten von „Krankheit oder Gesundheitsmaßnahme ohne Beitragszahlung“, vom 18.09.2019 bis 20.11.2019 Pflichtbeiträge und vom 21.11.2019 bis 31.12.2019 erneut „Krankheit (…) ohne Beitragszahlung“ gespeichert. Wegen der Einzelheiten der rentenrechtlichen Zeiten wird auf den Versicherungsverlauf vom 05.01.2023 (Bl. 36 ff. Senats-Akte) Bezug genommen.

Der Kläger wurde vom 17.04.2018 bis 15.05.2018 stationär in der GRN-Klinik S1 behandelt, nachdem er von seiner Mutter auf dem Boden liegend in seiner Wohnung und initial bewusstlos - neben ihm ein Spritzbesteck - aufgefunden und vom Rettungsdienst bei Verdacht auf (V.a.) Heroinintoxikation eingeliefert und dort auf der Intensivstation aufgenommen wurde (Ärztlicher Bericht der GRN-Klinik vom 14.05.2018, Bl. 3 f. VA). Die Ärzte diagnostizierten einen
ischämischen Muskelinfarkt im rechten Unterarm, ein Kompartmentsyndrom im rechten Unterarm bei schwerem Liegetrauma (12 Stunden) mit Rhabdomyolyse und äußerten den V.a. eine unklare Intoxikation sowie einen Zustand nach (Z. n.) V.a. Mischintoxikation im August 2017 und führten eine Fasziotomie im Bereich des rechten Unterarmes, eine Neurolyse des Nervus (N.) medianus, des N. ulnaris und des N. radialis und eine Spaltung des Ligamentum carpi transversum durch (vgl. Ärztlicher Bericht der GRN-Klinik vom 14.05.2018, Bl. 4 ff. VA).

Der den Kläger behandelnde R1 gab in seinem Befundbericht vom 17.05.2018 (Bl. 8 ff. VA) an, dass der Kläger seit 16.05.2018 arbeitsunfähig erkrankt und eine Entwöhnungsbehandlung angezeigt sei, ihm aber die Krankheitseinsicht fehle. Der Kläger sei am 17.04.2018 infolge einer Methadonintoxikation gestürzt und durch die mehrstündige Bewusstlosigkeit und das Liegen auf der rechten Seite sei die Blutzufuhr im rechten Unterarm unterbrochen worden. Die Beweglichkeit des rechten Handgelenks sei eingeschränkt (Daumen nicht opponierbar) und der Kläger habe ein Taubheitsgefühl in allen Fingern und der Handfläche rechts. Mit der rechten Hand könne er max. 300 g heben.

Der Kläger befand sich erneut vom 27.07. bis 18.09.2019 in stationärer Behandlung im GRN-Klinikum S1, nachdem er am 27.07.2019 somnolent vom Notarzt in die Klinik gebracht wurde (vgl. - auch zum Folgenden - Ärztlicher Bericht des GRN-Klinikums vom 03.09.2019, Bl. 54 ff. VA). Er wurde zuvor von seinen Eltern auf dem Boden liegend in einer hilflosen Situation aufgefunden, nachdem er seit dem 26.07.2019 um 19:00 Uhr nicht mehr gesehen und am 27.07.2019 um 15:00 Uhr vorgefunden wurde (max. Liegezeit 20 Stunden). Die Klinik-Ärzte diagnostizierten eine traumatische Muskelischämie der oberen Extremitäten beidseits und ein ausgeprägtes Liegetrauma bei Mischintoxikation (Benzodiazepine, Methadon, Cannabinoide) mit Kompartmentsyndrom der Unterarme beidseits. Am 29.07.2019 wurde eine Carpaltunnelspaltung bei Carpaltunnelsyndrom im Bereich der rechten Hand durchgeführt. Am 29.07.2019 wurde aufgrund eines progredienten Kompartmentsyndroms im Bereich des linken Unterarmes eine Kompartmentspaltung im Bereich des gesamten linken Unterarmes (komplett offenchirurgisch) durchgeführt mit Carpaltunnelspaltung, Neurolyse des N. medianus, des N. radialis und des N. ulnaris und anschließender Vacuumversiegelung der Wunde. Das Drogen-Screening ergab eine Intoxikation mit Benzodiazepin, Methadon und Cannabinoiden. Während des stationären Aufenthaltes von etwa acht Wochen erfolgten nahezu wöchentlich VAC-Wechsel und die Spalthauttransplantation an beiden Unteramen vom rechten Oberschenkel. Aufgrund der Kompartmentsyndrome entwickelte sich eine deutliche Kontraktur aller Fingergelenke beider Hände, links größer rechts. Die Ärzte gingen letztendlich von einer Radialisschädigung mit Partialläsion des N. ulnaris und N. medianus beidseits aus. Trotz physiotherapeutischer Beübung der Hände konnte eine Extension der Finger nicht erreicht werden. Zuletzt konnte der Kläger eine partielle Beugung der Finger ausüben ohne Erreichen eines vollständigen Faustschlusses.

Der Kläger befand sich vom 18.09.2019 bis 20.11.2019 zur neurologisch-stationären Anschlussheilbehandlung in den R2 Kliniken S2. Im Reha-Entlassungsbericht vom 28.11.2019 (Bl. 34 ff. VA) gaben die behandelnden Ärzte (u.a. R3) als Diagnosen Paresen beider Hände bei peripherer Nervenschädigung, ausgeprägtes Liegetrauma bei Mischintoxikation mit Kompartmentsyndrom der Unterarme beidseits, Kompartmentspaltung im Bereich des gesamten linken Unterarmes, Z. n. Mischintoxikation bei V. a. Drogenabusus und eine depressive Anpassungsstörung an. Zudem führten sie aus, der Kläger könne seinen zuletzt ausgeübten Beruf als Industriemechaniker nur noch unter drei Stunden täglich verrichten, der Kläger werde als arbeitsunfähig entlassen und innerhalb der nächsten 12 Monate werde der Kläger voraussichtlich bei weiterhin regulärem Heilungsverlauf eine vollschichtige Leistungsfähigkeit (sechs Stunden und mehr) für leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes erlangen. Es bestünden folgende qualitative Einschränkungen: - wegen der noch bestehenden eingeschränkten psychischen Belastbarkeit - keine Tätigkeit mit besonderer Anforderung an Reaktionsvermögen und Aufmerksamkeit; - wegen der Sensibilitätsstörungen - keine besonderen Anforderungen an die Sensibilität der Hände; - wegen der Paresen beider Hände - keine mittelschweren Tätigkeiten, keine besondere Anforderung an die Feinmotorik der rechten und linken Hand, keine besondere Anforderung an die Kraft der rechten und linken Hand sowie - aus orthopädischer Sicht - kein Heben, Tragen und Bewegen von Lasten über fünf kg, keine Arbeiten mit längerem Armvorhalt unter Belastung, kein Arbeiten mit erhöhter Anforderung an die Feinmotorik sowie an die Kraft beider Arme und Hände, keine diadochokinetischen Bewegungen beider Hände. Da der endgültige Verlauf jedoch noch nicht absehbar sei und weitere Verbesserungen möglich seien, werde eine sozialmedizinische Verlaufskontrolle in 12 Monaten empfohlen.

F1 von der Bundesagentur für Arbeit gelangte in seiner sozialmedizinischen gutachterlichen Stellungnahme nach Aktenlage vom 22.01.2020 (Bl. 103 f. VA) zu der Einschätzung, der Kläger sei aufgrund einer Beeinträchtigung des Gesamtorganismus mit Einschränkungen der körperlichen und psychischen Belastbarkeit nur noch weniger als drei Stunden täglich und dies voraussichtlich über sechs Monate leistungsfähig.

Der Medizinische Dienst der Krankenkasse (MDK) erstattete am 27.02.2020 ein Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit (Bl. 114 ff. VA), in dem die G1 aufgrund des beim Kläger bestehenden Pflegebedarfs die Anerkennung des Pflegegrades 3 vorschlug. Der Kläger könne öffentliche Verkehrsmittel nicht eigenständig nutzen (z.B. keine Fahrkarten lösen, nicht bezahlen) und Türen teilweise nicht selbständig öffnen aufgrund der eingeschränkten Handfunktion. Auch sei er beim Einkaufen für den täglichen Bedarf, bei der Zubereitung einfacher Mahlzeiten, einfachen Aufräum- und Reinigungsarbeiten unselbständig.

Vom 09.03. bis 12.03.2020 befand sich der Kläger in stationärer Behandlung in der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik L1 (BGU) wegen der fehlenden Opposition des rechten Daumens (Diagnose: Intrinsische Thumb in palm deformity [Tonkins 1] mit Kontraktur Musculus adduktor pollicis und 1. Interosseus dorsalis rechts nach Kompartmentsyndrom beidseits 07/2019 mit Volkmankontraktur) zur Z-Plastik erste Zwischenfingerfalte (vgl. Ärztlicher Bericht BGU vom 12.03.2020, Bl. 106 f. VA).

Der Kläger beantragte am 06.04.2020 Rente wegen Erwerbsminderung (Bl. 264 ff. VA), die die Beklagte mit Bescheid vom 20.04.2020 (Bl. 356 ff. VA) ablehnte.

Zur Begründung seines hiergegen eingelegten Widerspruchs legte der Kläger u.a. das ärztliche Attest seines behandelnden S3 vom 25.05.2020 (Bl. 130 VA) vor, wonach beim Kläger immer noch eine massive Funktionsminderung beider Arme und Hände mit ausgedehnter Narbenbildung und Muskelverlust an beiden Unterarm beugeseitig, eine kontrakte Beugestellung der Langfingermittelgelenke der linken Hand mit daraus folgender unmöglicher Fingerstreckung und unmöglichem Faustschluss und nur andeutbaren Spitzgriff zum Daumen vorliege. Auch an der rechten Hand bestehe eine Streckhemmung im Bereich der Langfingergrundgelenke vom Zeigefinger bis zum Kleinfinger zunehmend, ein kraftloser unvollständiger Faustschluss sowie die Unfähigkeit, einen Gegendruck mit dem Daumen auszuüben, um eine Griffstellung zu erreichen. Es bestünden erhebliche Einschränkungen bereits im Alltag bei der Körperpflege, aber auch bei der Unfähigkeit ein Fahrzeug zu führen und öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, da schon das Lösen einer Fahrkarte mit den Händen nicht möglich sei. Unter den jetzt gegebenen Umständen und des bisherigen Verlaufs sehe er auf einen Zeitraum von mindestens 12 Monaten keine Möglichkeit, dass der Kläger auch nur in geringfügigstem Ausmaß leichte Tätigkeiten auf einem virtuellen oder tatsächlichen allgemeinen Arbeitsmarkt durchführen könne.

Bei der Vorstellung des Klägers in der BGU am 24.06.2020 wurde noch ein Extensionsdefizit des Mittel- und Ringfingers links diagnostiziert, während der Kläger angab im Alltag mit der rechten Hand zurecht zu kommen und die Krallenstellung bei endgradiger Extension links als störend zu empfinden, vor allem beim in-die-Hose-stecken der linken Hand (Ärztlicher Befundbericht vom 02.07.2020, Bl. 177 f. VA).

Auf Veranlassung der Beklagten erstattete der B1 das Gutachten vom 02.09.2020 (Bl. 141 ff. VA). B1 stellte nach Untersuchung des Klägers am 19.08.2020 folgende Diagnosen: erhebliche Bewegungseinschränkungen im Bereich der Hände/Finger beidseits bei wiederholt im Rahmen von Liegetraumen aufgetretenem Kompartmentsyndrom im Bereich der Unterarme und nachfolgender Volkmann’scher Kontraktur - wiederholt operiert; vorbeschriebene Polytoxikomanie (vom Kläger ausdrücklich verneint, müsse dies in Zusammenschau aus Aktenlage und Anamnese vermutet werden); akzentuierte Persönlichkeitszüge. In der Zusammenschau - so B1 - würden sich nervenärztliche überdauernde quantitative Leistungseinschränkungen nicht herleiten lassen. Die sicherlich deutlichen qualitativen Leistungseinschränkungen (bezogen auf die Volkmann-Kontrakturen) seien vorrangig orthopädisch-chirurgisch zu beurteilen. Chronische drogentoxische, etwas psychopathologische Folgeschäden ergäben sich nicht; der Kläger sei geschäftsfähig und selbstverantwortlich; angesichts ausdrücklich verneinter Problematik sowie bislang nicht wahrgenommener Behandlungs- und Beratungsmöglichkeiten sei bei gleichwohl anzunehmender Problematik eine medizinische Reha nach Art einer Entwöhnung aktuell nicht sinnvoll zu begründen. Mit der anzunehmenden Drogenproblematik seien keine überdauernden quantitativen Leistungseinschränkungen zu begründen. Zu vermeiden seien Tätigkeiten auf Leitern oder Gerüsten, an unmittelbar gefährdenden Maschinen sowie mit besonderen Anforderungen an das Verantwortungsbewusstsein.

Während eines stationären Aufenthalts in der BGU erfolgte am 18.09.2020 eine partielle Resektion des Spalthauttransplantationsareals distaler Unterarm links, eine langstreckige Tenolyse und Neurolyse, ein Z-Lengthening des Flexor digitorum profundus III- und IV-Sehne um 1,5 cm sowie eine Resektion des vernarbten Flexor digitorum superficialis III-Sehnenstumpfes (vgl. vorläufiger Arztbrief BGU vom 25.09.2020, Bl. 133 f. SG-Akte).

Gestützt auf das Gutachten des B1 und den letzten Reha-Entlassungsbericht wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers durch Widerspruchsbescheid vom 10.11.2020 (Bl. 384 ff. VA) zurück.

Bereits zuvor ab 04.11.2020 (bis 09.12.2020) befand sich der Kläger zur stationären Anschlussheilbehandlung in der Rehaklinik H1, , aus der er mit den Diagnosen ausgeprägte Funktionseinschränkung der Hände beidseits bei Z. n. Liegetrauma 04/2018 und 07/2019 mit Kompartmentsyndrom und Z. n. Polytoxikomanie, Z. n. CTS-OP beidseits 2018 und 2019, Z. n. Hepatitis C, Nikotinkonsum (fünf
Zigaretten pro Tag) und alimentäre Hypercholesterinämie entlassen wurde (Reha-Entlassungsbericht vom 16.12.2020, Bl. 183 ff. VA). Die dort behandelnden Ärzte führten im Reha-Entlassungsbericht aus, dass das Leistungsvermögen des Klägers aufgrund der ausgeprägten Funktionseinschränkung der Hände beidseits bezugnehmend auf den allgemeinen Arbeitsmarkt aktuell unter drei Stunden täglich betrage. Zur Erstellung eines prospektiven Leistungsbildes sei die Heilungsbewährung abzuwarten.

Der Kläger hat am 09.12.2020 Klage zum Sozialgericht (SG) Heilbronn erhoben.

Die Beklagte hat zum Reha-Entlassungsbericht vom 16.12.2020 die sozialmedizinische Stellungnahme der B2 vom 28.01.2021 (Bl. 41 f. SG-Akte) übersandt, wonach die Leistungseinschätzung im Reha-Entlassungsbericht nicht nachvollziehbar sei, da die im Bericht für den Kläger dokumentierten Funktionseinschränkungen der aktuell nicht operierten rechten Hand unverändert eine ausreichende Restgebrauchsfähigkeit seiner Haupthand erkennen lassen würden (Faustschluss fast vollständig komplett, Spitzgriff des Daumens zu den Langfingern abgesehen vom 4. Finger möglich). Auch für das rechte Handgelenk werde im Reha-Entlassungsbericht vom 16.12.2020 eine ausreichende Restfunktion beschrieben. Trotz der zweifelsfrei vorhandenen Kraftminderung (Atrophie der Unterarm- und Handmuskulatur) sei dem Kläger bei diesen Untersuchungsbefunden das gelegentliche, wenn auch nicht häufige oder ständig wiederkehrende Zugreifen mit der rechten Hand möglich, ebenso wie er gelegentlich Tasten am PC oder an einem Telefon bedienen könne, wie es z. B. als Pförtner erforderlich sei. Auch bestünden „selbstverständlich“ keine Hindernisse beim Lösen einer Fahrkarte an einem Fahrkartenautomaten, so dass dem Kläger die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel uneingeschränkt möglich und zumutbar sei. Das Leistungsvermögen des Klägers für seinen erlernten Beruf als Industriemechaniker und für seinen Umschulungsberuf zum Kaufmann im Einzelhandel liege zwar unter drei Stunden, ebenso auch sein Leistungsvermögen für typische, qualifizierte Büroarbeiten. Für andere leichte Tätigkeiten, wie z. B. für die bereits genannten Tätigkeiten eines Pförtners oder einer Museumsaufsicht, sei eine zeitliche Leistungsminderung bei ihm nicht zu erkennen. Aus chirurgisch-sozialmedizinischer Sicht verbleibe es für den Kläger unverändert bei einem Leistungsvermögen von sechs Stunden und mehr.

Das SG hat die den Kläger behandelnden Ärzte schriftlich als sachverständige Zeugen befragt. S3 hat mit Schreiben vom 01.03.2021 (Bl. 53 f. SG-Akte) mitgeteilt, der Kläger könne aufgrund der Bewegungseinschränkung beider Hände und Daumenfehlstellung rechts nach Kompartmentsyndrom beider Unterarme bei Liegetrauma leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes bis max. drei Stunden pro Tag verrichten. Einfache Handfunktionen seien durchführbar. Allerdings sei die erhebliche Krafteinschränkung und die rasche Ermüdbarkeit beider Hände zu beachten, was zu dem erheblich eingeschränkten Zeitansatz führe. Qualitative Einschränkungen bestünden für Arbeiten in Nässe oder Zugluft, für Überkopftätigkeiten, für feinmotorische Tätigkeiten und Tätigkeiten mit Kraft und Ausdauer. Am ehesten seien leichte Tätigkeiten mit geringem manuellen Einsatz, z.B. Telefondienst, möglich. Diese Einschränkungen bestünden seit Juli 2019. Der Kläger sei in der Lage, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen und Wegstrecken von über 500 Metern vier Mal täglich zurückzulegen.
Die G2 hat mit Schreiben vom 01.03.2021 (Bl. 86 f. SG-Akte) mitgeteilt, der Kläger sei aufgrund der erheblich eingeschränkten Gebrauchsfähigkeit der Hände, der gestörten Grob- und Feinmotorik sowie der massiven Beeinträchtigung des Greifens von Gegenständen, des Hebens und Tragens von Lasten bei deutlicher Minderung der Muskelkraft sowie der Geschicklichkeit nur noch unter drei Stunden täglich leistungsfähig. Eine weitere Stabilisierung vorausgesetzt, sei eine leichte körperliche Tätigkeit in Wechselschicht denkbar ohne besondere Beanspruchung der Hände und ohne hohe Anforderung an Geschicklichkeit und Feinmotorik der Hände und Finger sowie der Muskelkraft der oberen Extremität beidseits. Bei der Bewältigung des Weges zu und von einer Arbeitsstelle bestünden erhebliche Einschränkungen. Der Kläger könne nicht selbst mit dem Pkw fahren. Die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel sei nur schwer möglich. Mit den Händen könne er sich nicht adäquat festhalten auf dem Weg zum Sitzplatz oder gar im Stehen. Es bestünde eine erhöhte Sturzgefahr. Für das Lösen und Entwerten einer Fahrkarte fehle die nötige Fingerfertigkeit. Das Zurücklegen von Wegstrecken über 500 Meter zu Fuß sei möglich. Diese Leistungsfähigkeit bestehe spätestens seit Abschluss der stationären Reha-Maßnahme im Dezember 2020, in der deutlich geworden sei, dass trotz der Operationen an der rechten Hand im März 2020 sowie am linken Unterarm im September 2020 und der regelmäßigen Beübung der Hände im Rahmen von Physio- und Ergotherapie eine Besserung der Funktionalität nur in sehr kleinen Schritten zu erreichen sei. Der Auskunft beigefügt war u.a. ein Befundbericht des D1 vom 05.12.2019 (Bl. 121 f. SG-Akte: Diagnosen: „komplexe Schädigung aller drei peripheren Nerven am Unterarm beidseits, rechts > links; Polytoxikomanie, Z. n. Kompartmentsyndrom Unterarm beidseits; Beurteilung: Bei klinisch auffälligem Befund nach Kompartmentsyndrom beidseits am Unterarm zeigten sich elektrophysiologisch ausgeprägte komplexe Schädigungen aller dreier peripheren Nerven am Unterarm mit deutlicher Rechtsbetonung).

Der K1, BGU, hat mit Schreiben vom 19.04.2021 (Bl. 184 ff. SG-Akte) ausgeführt, dass aktuell ein untervollschichtiges Leistungsvermögen beim Kläger bestehe. In Zusammenschau der Befunde seien durch den Kläger auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt leichte körperliche Tätigkeiten, ständig stehende, sitzende oder gehende Tätigkeiten in allen Schichtformen für sechs Stunden und mehr durchführbar. Aufgrund der deutlich reduzierten Kraft in beiden Armen und Händen sei ein ständiges Heben und Tragen oder Bewegen von Lasten über fünf kg nicht für diese Dauer durchführbar. Arbeiten mit längerem Armvorhalt unter Belastung und Arbeiten mit erhöhter Anforderung an die Feinmotorik sowie an die Kraft beider Arme und Hände seien nicht durchführbar. Die diadochokinetische Bewegung beider Hände sei nicht regelrecht durchführbar, daher seien diese im Rahmen der Tätigkeit nicht umsetzbar. In Zusammenschau sei eine Tätigkeit als Industriemechaniker nicht sinnvoll umsetzbar. Nach Umschulung zum Einzelhandelskaufmann sei eine Umsetzung in diesem Bereich mit leichten körperlichen Tätigkeiten, wie beschrieben, sechs Stunden täglich oder ggf. länger möglich. Ein Großteil der bestehenden Minderung werde voraussichtlich dauerhaft verbleiben. Der Kläger sei fähig, Wegstrecken von über 500 Meter zu Fuß zurückzulegen. Laut Vorbefunden bestehe eine Einschränkung bezüglich der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel. Explizit würden Probleme beim Lösen einer Fahrkarte beschrieben. Diese seien bei Verwendung z.B. einer Monatskarte oder Ähnlichem zu lösen. Daher bestehe keine Einschränkung öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen. Aufgrund mehrfacher Operationen und Rehabilitationsmaßnahmen sei die oben beschriebene Leistungsfähigkeit in dem beschriebenen Ausmaß seit dem 26.09.2020 anzunehmen. Zwischen dem erlittenen Liegetrauma im Jahr 2018 und dem 26.09.2020 habe eine über das beschriebene Maß hinausgehende Einschränkung vorgelegen.

Der Kläger hat das Gutachten des MDK vom 24.02.2021 (Bl. 143 ff. SG-Akte) übersandt, in der die J1 das Vorliegen des Pflegegrad 3 weiterhin bestätigt hat.

Die Beklagte ist den Auskünften der behandelnden Ärzte mit der sozialmedizinischen Stellungnahme von B2 vom 02.07.2021 (Bl. 202 f. SG-Akte) entgegengetreten, wonach in den sachverständigen Zeugenauskünften keine Gründe vorgetragen worden seien, die beim Kläger gegen die Verrichtung einer überwiegend aufsichtsführenden Tätigkeit ohne ständig oder häufige Beanspruchung der Hände, wie z. B. als Museumsaufsicht oder Pförtner sprächen.

Das SG hat am 19.10.2021 einen Termin zur Erörterung der Sach- und Rechtslage durchgeführt (Protokoll, Bl. 215 f. SG-Akte).

Das SG hat von Amts wegen das Gutachten des G3 vom 31.01.2022 (Bl. 225 ff. SG-Akte) eingeholt, der nach Untersuchung des Klägers am 18.01.2022 folgende Diagnosen gestellt hat: Volkmann‘sche Kontraktur beider Unterarme mit deutlicher Funktionseinschränkung der Hände; leichte Skoliose, Facettensyndrom; degenerative Veränderungen der Brustwirbelsäule (BWS) mit multisegmentalen Osteochondrosen, Arthrose des Schultereckgelenkes rechts, erstgradige Instabilität des rechten Sprunggelenkes, Hepatitis C, Polytoxikomanie. G3 hat ausgeführt, dass die für die Erwerbsfähigkeit limitierende Funktionseinschränkung aufgrund der Volkmann-Kontraktur und der Einschränkung der Handfunktionen bestünden. Alle anderen erwähnten und festgestellten Gesundheitsstörungen würden eine vollschichtige Tätigkeit mit leichter körperlicher Belastung von mehr als sechs Stunden zulassen, so dass im Folgenden nur noch auf die eingeschränkte Handfunktion eingegangen werde. Eine Erwerbsfähigkeit im erlernten Beruf des Industriemechanikers bestehe nicht mehr. Bei entsprechenden organisatorischen Voraussetzungen sei eine berufliche Leistungsfähigkeit des Klägers im Beruf als Einzelhandelskaufmann von drei bis sechs Stunden täglich möglich. Eine Leistungsfähigkeit von über sechs Stunden täglich bestehe bei folgenden Tätigkeiten: Beratungs- und Verkaufsgespräche mit Kunden, Büroarbeit, Schreibtischarbeit, Online-Bestellbearbeitung, Prüfung und Bearbeitung von Reklamationen, Aufsichtsarbeiten, Planung der Gestaltung von Verkaufsräumen, Marktbeobachtung, Gestaltung von Webseiten. Eine Leistungsfähigkeit von drei bis sechs Stunden täglich bestehe bei folgenden Tätigkeiten: aktiver Verkauf in Verkaufsräumen oder Verkaufsständen, Ein- und Ausräumen kleiner Gegenstände im Lager und in Verkaufsräumen mit einem Gewicht von maximal zehn kg (zum Beispiel Spielwaren, Elektronikgeräte). Hierbei sei zu beachten, dass evtl. einige Tätigkeiten mit geringer Geschwindigkeit und geringer Ausdauer ausgeübt würden, aber doch möglich und zumutbar seien.
Ein positives qualitatives Leistungsvermögen für leichte körperliche Arbeiten bestehe wie folgt: relevante Einschränkungen bezüglich der unteren Extremität bestünden nicht. Die Sprunggelenksdistorsion sei nur vorübergehend und würde folgenlos ausheilen. Im Einzelnen könnten deshalb Gehstrecken von mehreren Kilometern mit entsprechenden Pausen auf ebener Erde problemlos gemeistert werden. Auch Treppengehen oder Bergauf- und Bergabgehen seien problemlos möglich. Diese Gehstrecken könnten sowohl in Räumen als auch im Freien durchgeführt werden. Trotz der leichten Skoliose sei ein Sitzen, Gehen und Stehen sowie ein Wechsel zwischen sitzender und stehender Tätigkeit von mehr als sechs Stunden täglich möglich. Bis auf die leichte Schultereckgelenksarthrose seien keine Vorerkrankungen im Bereich der Schulter und der Ellenbogengelenke bekannt und relevant. Das Greiforgan, die Hand, könne somit beidseits im Raum positioniert werden. Von Seiten der Hand- und Greiffunktion könnten mit der rechten Hand kleinere bis mittelgroße Gegenstände mit reduzierter Kraft gegriffen und gehalten werden. Auch wenn die Opposition des Daumens zum Zeigefinger eingeschränkt sei, so sei diese Funktion nicht völlig aufgehoben und leichtes Greifen unter Einsatz des Daumens bedingt möglich und zumutbar. Auch bezüglich der linken Hand sei eine Greiffunktion noch möglich. Das Heben und das Tragen kleinerer bis mittelgroßer Gegenstände mit einem Gewicht von bis zu maximal zehn kg sei bedingt noch möglich. Das Bedienen von Tastaturen, aber auch das Bedienen eines Smartphones und eines iPads seien möglich. Ebenso sei das Bedienen einer Telefonanlage, unter Umständen mit Headset, möglich. Mit den entsprechenden Hilfsmitteln und Arbeitsplatzvorkehrungen seien das Bedienen einer Maus, einer Tastatur sowie kleinere Schreibarbeiten durchführbar. Das Bedienen und Handhaben leichter Werkzeuge und leicht gehender Steuerhebel und Kontroller sei ebenso möglich und zumutbar.
Einschränkungen bezüglich der kardiopulmonalen Belastungsfunktion sowie der Sinnesfunktionen (sehen, hören) bestünden nicht. Bezüglich der psycho-mentalen Funktionen sowie der psychischen Stabilität (fraglicher Drogenkonsum) verweise er auf den bekannten neuro-psychiatrischen Befund.
Qualitative Leistungseinschränkungen bestünden für das Heben und das Tragen schwerer Lasten. Leichte Tätigkeiten wie zuvor beschrieben seien bei dauerhafter Belastung ohne die entsprechenden Pausen eventuell schneller ermüdend. Insgesamt würden die zuvor beschriebenen Tätigkeiten unter Umständen langsamer als bei einem Gesunden durchgeführt werden.
Feinmotorische Arbeiten wie z.B. das Eindrehen kleiner Schrauben, das Hindurchfädeln eines Fadens durch ein Nadelöhr, usw. seien nicht möglich. Tätigkeiten, bei denen eine erhöhte Verletzungsgefahr bestehe sowie Tätigkeiten mit heißen und kalten Gegenständen oder in Kühlräumen seien aufgrund der eingeschränkten Sensibilität im Bereich der Hände abzulehnen.
Ein positives quantitatives Leistungsvermögen für leichte körperliche Arbeiten unter Berücksichtigung des beschriebenen qualitativen Leistungsvermögens bestehe über einen Zeitraum von drei bis sechs Stunden mit den entsprechenden Pausen. Für einzelne Tätigkeiten bestehe auch ein längeres quantitatives Leistungsvermögen von über sechs Stunden. Bei einem entsprechenden Wechsel von leichter manueller Tätigkeit und Büroarbeiten, Beraterfunktionen, Telefonkonferenzen usw. bestehe auch ein positives quantitatives Leistungsvermögen von über sechs Stunden für leichte körperliche Arbeiten.
Bei entsprechender Motivation bestehe auch die Möglichkeit, dass ein Führerschein erworben werden könne und somit das Fahren eines PKWs trotz der bekannten Einschränkungen im Bereich beider Hände möglich werde (Außendiensttätigkeit). Limitierend hierfür sei der bekannte Drogenkonsum.
Insgesamt schließe er – G3 - sich der Einschätzung von K1 an, dass leichte körperliche Arbeiten bei entsprechenden Voraussetzungen vollschichtig über sechs Stunden täglich mögliche seien. Dies treffe auch für einzelne Bereiche des Einzelhandels zu.
Im Allgemeinen bestehe ein positives Leistungsvermögen im Umfang von mehr als sechs Stunden täglich für Berufsbilder, welche eine leichte körperliche Arbeitsschwere beinhalten und hauptsächlich mit Bürotätigkeit und Beraterfunktion einhergehen würden, des Weiteren alle Berufsbilder, bei denen hauptsächlich eine Überwachung, Supervision und Kontrolltätigkeiten im Vordergrund stehe (Versicherungs-, Büro-, Bankkaufmann, Reisebüro; Bibliothekar, Aufsicht im z.B. Museum, Telefonzentrale mit Headset).
Vom 17.04.2018 bis zum 31.12.2020 habe keine Leistungsfähigkeit bestanden. Ab dem 01.01.2021, spätestens aber ab dem 19.04.2021 sei von oben beschriebenem gemindertem Leistungsvermögen auszugehen.

Das SG hat von Amts wegen das Gutachten des L2 vom 07.10.2022 (Bl. 280 ff. SG-Akte) eingeholt, der den Kläger am 13.09.2022 untersucht hat. L2 hat in seinem Gutachten ausgeführt, bei dem Kläger bestehe eine Polytoxikomanie mit Konsum von THC, Methadon und Cannabis sowie eine rechtsbetonte körperferne Schädigung aller Handnerven beidseits mit Muskel- und Kraftminderungen sowie subjektiven Beschwerden (Gefühlsstörungen). Der körperliche Befund habe (rechtsbetont) erhebliche mechanische Bewegungseinschränkungen beider Hände gezeigt, frei zu bewegen seien lediglich die Finger I und II links. Bei der klinisch-neurologischen Untersuchung hätten sich wie auch schon in mehreren neurologischen Vorbefunden (deutlich rechtsbetont) Schädigungen aller drei Handnerven mit subjektiven Beschwerden (Gefühlsstörungen) gezeigt, wobei mit der rechten Hand lediglich grobe Greifbewegungen durchgeführt werden könnten, links Daumen und Zeigefinger hingegen weitgehend normal eingesetzt werden könnten. Die elektrophysiologischen Untersuchungen würden rechts höhergradige Schädigungen der Handnerven bestätigen und links hingegen inzwischen Normalbefunde ergeben.
Das toxikologische Drogenscreening habe im Urin THC, Methadon und Benzodiazepine nachgewiesen. Es bestehe also entgegen der Mitteilung des Klägers ein fortgesetzter Drogenkonsum und es sei insofern weiterhin eine Polytoxikomanie zu diagnostizieren. Hingegen sei in den laborchemischen Blutuntersuchungen die als regelmäßig eingenommen berichtete Medikation weitestgehend nicht nachweisbar gewesen, sodass hier einerseits eine fehlende Therapiecompliance bestehe, andererseits erhebliche Zweifel am schmerzbedingten Leidensdruck entstünden.
Der aktuelle psychische Befund habe einen im Kontakt freundlichen und zugewandten Kläger von nivellierter Stimmung, eher gleichgültig wirkend und ohne tiefergreifende depressive Erlebensweisen gezeigt. Die bei der fachpsychologischen Untersuchung erreichten Ergebnisse des Klägers seien bei unzureichender Leistungsmotivation, wie in dafür kontrollierenden Verfahren festgestellt werden müsse, nicht im Krankheitssinne zu interpretieren. Kognitive Leistungseinschränkungen seien insofern beim Kläger nicht nachzuweisen. Auch die in der standardisierten Befindlichkeitserhebung geltend gemachten Beschwerden seien bei deutlichen negativen Antwortverzerrungen diagnostisch nicht verwertbar. Es müsse diagnostisch also bei der Verhaltensbeobachtung und klinischen Befunderhebung verbleiben. Bezüglich der Polytoxikomanie bestehe ausgeprägt bagatellisierendes Verhalten und Verleugnung, eine Veränderungsbereitschaft und Therapiemotivation seien bisher beim Kläger nicht erkennbar. Zur Verfügung stünde erfolgversprechend eine suchtpsychiatrische Behandlung mit Entzugs- und Motivationsbehandlung zunächst unter stationären Bedingungen und weitere ambulante Betreuung. Das beim Kläger außergewöhnliche Schmerzen vorlägen, sei weder aus der Verhaltensbeobachtung noch den laborchemischen Untersuchungen zu bestätigen, sodass diesbezüglich eine quantitative Leistungseinschränkung nicht festgestellt werden könne.
Auf neurologisch-psychiatrischen Fachgebiet seien beim Kläger keine Gesundheitsstörungen festzustellen, die ihn nicht ohne Gefährdung seiner Gesundheit eine leichte körperliche Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch mindestens sechs Stunden täglich ausüben ließen.
Der Kläger sei aus neurologisch-psychiatrischer Sicht noch in der Lage, leichte körperliche Arbeiten mit Heben, Tragen und Bewegen von Lasten ohne Hilfsmittel bis fünf kg zu verrichten. Grund für die qualitative Leistungseinschränkung seien die höhergradigen Funktionseinschränkungen (rechtsbetont) beider Hände. Die Arbeiten könnten dabei überwiegend im Gehen, Stehen oder Sitzen erfolgen, auch gegen häufiges Bücken oder Arbeiten in Zwangshaltungen, sofern diese nicht die Arme beträfen, seien dem Kläger zuzumuten. Der Kläger könne hingegen keine Arbeiten mehr verrichten, die höhere Anforderungen an die Feinmotorik der Hände stellten wie Montagearbeiten. Auch Arbeiten, die kräftiges Zugreifen und regelhaftes beidhändiges Arbeiten erfordern, seien aus neurologischer Sicht infolge der Nervenschädigungen ausgeschlossen. Dem Kläger sei dabei die Bedienung von Geräten mittels Touchscreen durchaus zuzumuten. Aus psychiatrischer Sicht blieben dem Kläger infolge der Polytoxikomanie einerseits Arbeiten unter besonders hohem Zeitdruck (wie Akkord- und Fließbandarbeiten) verschlossen, andererseits aber auch Arbeiten, die Zugang zu Suchtstoffen ermöglichen (wie in Apotheken oder anderen medikamentenverarbeitenden Einrichtungen). Ebenfalls aufgrund der Polytoxikomanie seien dem Kläger unter prophylaktischen Gesichtspunkten hinsichtlich der Arbeitsorganisation Nachtschichten verschlossen, Tag- und Wechselschichten hingegen blieben ihm weiterhin zuzumuten. Arbeiten im Freien sowie Arbeiten unter Einfluss von Staub, Gasen und Dämpfen könnten bei entsprechender Schutzbekleidung verrichtet werden. Arbeiten bei Nässe, Kälte und Hitze hingegen blieben dem Kläger aufgrund der Nervenschädigungen bei Gefahr einer Verschlechterung verschlossen. Keine Einschränkungen seien den aktuellen Befunderhebungen nach für Arbeiten mit besonderen Anforderungen an das geistige Leistungsvermögen zu formulieren, hingegen infolge der Polytoxikomanie Arbeiten mit besonderen Anforderungen an die Verantwortung.
An Berufsbildern kämen neben den bereits in der Akte benannten eines Pförtners oder einer Aufsichtsperson z.B. im Museum auch Berufsbilder in (insbesondere elektronisch verwalteten) Archiven oder Bibliotheken, dazu könne der Kläger Hilfsarbeiten im Bürobereich und Telefonistentätigkeiten, sofern Touchscreen und Headset zur Verfügung stünden, verrichten.
Die (qualitativen) Leistungseinschränkungen würden sich der vorgelegten Akte nach seit 04/2018 nachweisen lassen.
Die Minderungen bestünden dauerhaft. Die Gründe lägen darin, dass hinsichtlich der Nervenschädigung eine wesentliche Verbesserung aus neurologischer Sicht nicht mehr erwartet werden dürfe. Gleichzeitig gründeten die aus psychiatrischer Sicht zu formulierenden qualitativen Leistungseinschränkungen im Wesentlichen auf prophylaktischen Faktoren, die ebenfalls auf Dauer zu beachten blieben.
Aus neurologisch-psychiatrischer Sicht bestünden keine Einschränkungen hinsichtlich der Fähigkeit des Klägers, die üblichen Wege zu und von der Arbeitsstelle zurückzulegen.

Den Gutachten von G3 und L2 ist der Kläger mit Schreiben vom 13.11.2022 (Bl. 322 ff. SG-Akte) entgegengetreten.

Mit Gerichtsbescheid vom 01.12.2022 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass der Kläger keinen Anspruch auf die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung habe, da er in der Lage sei, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich im Rahmen einer Fünf-Tage-Woche erwerbstätig zu sein.
Der Kläger leide zwar nach Überzeugung des Gerichts an einer Volkmann‘schen Kontraktur beider Unterarme mit deutlicher Funktionseinschränkung der Hände, leichter Skoliose, Facettensyndrom, degenerativen BWS-Veränderungen mit multisegmentalen Osteochondrosen, Arthrose des Schultereckgelenkes rechts, erstgradiger Instabilität des rechten Sprunggelenkes, Hepatitis C sowie Polytoxikomanie. Dies bedinge qualitative Leistungseinschränkungen (kein Heben und Tragen schwerer Lasten, keine feinmotorischen Arbeiten wie z.B. das Eindrehen kleiner Schrauben, das Hindurchfädeln eines Fadens durch ein Nadelöhr usw., keine Tätigkeiten mit erhöhter Verletzungsgefahr, keine Tätigkeiten mit heißen und kalten Gegenständen oder in Kühlräumen; keine Arbeiten, die kräftiges Zugreifen und regelhaftes beidhändiges Arbeiten erfordern; keine Arbeiten unter besonders hohem Zeitdruck wie Akkord- und Fließbandarbeiten; keine Arbeiten, die Zugang zu Suchtstoffen ermöglichten wie in Apotheken oder anderen medikamentenverarbeitenden Einrichtungen; keine Nachtschichten, keine Arbeiten bei Nässe, Kälte und Hitze, keine Arbeiten mit besonderen Anforderungen an die Verantwortung). Zudem sei der Kläger nach Überzeugung des Gerichts auch nicht mehr in der Lage, seinen Beruf als Industriemechaniker in einem Umfang von mindestens drei Stunden täglich auszuüben. In Bezug auf leichte körperliche Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sei der Kläger jedoch nach Überzeugung des Gerichts in der Lage, mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein.
Das Gericht stütze sich dabei insgesamt auf die Gutachten der Sachverständigen G3 und L2 und mache sich diese zu eigen.
Der Sachverständige G3 habe unter Berücksichtigung der von ihm erhobenen Befunde schlüssig und nachvollziehbar ausgeführt, dass erhebliche Funktionseinschränkungen der Hände bestünden, die - unter Berücksichtigung von qualitativen Einschränkungen - jedoch nicht zu einer Einschränkung des Leistungsvermögens in zeitlicher Hinsicht führten.
Die Ausführungen des Sachverständigen würden letztlich auch durch den K1 bestätigt. Auch der behandelnde S3 habe, bei abweichender Leistungseinschätzung, ausgeführt, dass dem Kläger die Durchführung einfacher Handfunktionen möglich seien. Auch diese Aussage spreche letztlich - unter Berücksichtigung der sich hieraus ergebenden qualitativen Einschränkungen - gegen eine Einschränkung in zeitlicher Hinsicht bezogen auf leichte körperliche Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.
Der Sachverständige L2 habe völlig überzeugend dargelegt, dass auch auf dem neurologischen und psychiatrischen Fachgebiet keine Einschränkungen bestünden, die eine quantitative Leistungsminderung begründeten. Die von L2 erhobenen Befunde würden letztlich die Ausführungen und Einschätzungen des Sachverständigen G3 bestätigen. Die Ausführungen und Einschätzungen des Sachverständigen L2 würden auch durch das im Verwaltungsverfahren eingeholte Gutachten des B1 bestätigt.

Der Kläger hat am 27.12.2022 gegen den seinen Prozessbevollmächtigten gegen Empfangsbekenntnis am 05.12.2022 zugestellten Gerichtsbescheid Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt.
Zur Begründung hat der Kläger im Wesentlichen vorgetragen, der Gerichtsbescheid sei fehlerhaft, wenn das Ausgangsgericht trotz Anerkennung der Funktionsbeeinträchtigungen davon ausgehe, dass er in Bezug auf leichte körperliche Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch in der Lage sei, mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Das SG habe sich ausschließlich auf die Gutachten des G3 und des L2 „kapriziert“ und die Einlassungen der übrigen sachverständigen Zeugen S3, K1, F1, G2 und insbesondere des L3 nicht bzw. nicht ausreichend in die Entscheidungsfindung einbezogen. Wenn das SG, bezogen auf die Ausführung des G3 beschreibe, welche Hand- und Greiffunktionen beider Hände noch möglich seien, werde völlig außer Acht gelassen, dass diese Tätigkeiten im Rahmen des allgemeinen Arbeitsprozesses zu bewerten seien. Die lediglich theoretische Möglichkeit des Bedienens von technischen Geräten allein sei hierfür nicht ausreichend. Im Arbeitsprozess müssten diese Vorgänge konkurrenzfähig verrichtet werden, d. h. in einem für die Arbeitswelt üblichen zeitlichen Tempo, lesbar und auf längere Dauer. Davon sei er
- der Kläger - weit entfernt. Ausweislich des Gutachtens von L2 habe er - der Kläger -
vorgeblich unter „Drogeneinfluss" gestanden und deshalb hätten sich „die berufliche Leistungsfähigkeit einschränkende kognitiven Einbußen weder nachweisen noch widerlegen" lassen. Diese Einschätzung als wahr unterstellt, hätte L2 das Gutachten zu diesem Zeitpunkt nicht erstellen dürfen, da alle Ausführungen zu der beruflichen Leistungsfähigkeit damit wertlos geworden seien.
Zudem werde auf das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 26.03.2010 - L 4 R 3765/08 - verwiesen, wonach der rechte Arm des dortigen Klägers wegen Kraftminderung und Bewegungseinschränkungen nicht mehr voll einsatzfähig gewesen sei und das LSG den Kläger diesbezüglich einem „Einarmigen" gleichgestellt habe mit der Folge, dass dieser nicht auf die Tätigkeit eines Pförtners, Telefonisten oder Museumswärter verwiesen werden konnte.
Darüber hinaus werde auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG Beschluss des Großen Senats vom 19.12.1996, BSGE 80,24) „rekurriert“, wonach die Pflicht der Beklagten zur Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit bestehe, wenn eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorliege. Hierzu zählten Einschränkungen der Arm- und Handbeweglichkeit wie sie bei ihm aufgrund der Einschränkung der Hand- und Greiffunktion beider Hände, vermehrt der Rechten, bestehe, sodass diese funktional nicht mehr voll einsatzfähig seien. Das Leistungsvermögen entspreche funktionellen Einschränkungen, sodass er nicht auf Tätigkeiten eines Pförtners, eines Telefonisten oder Museumswärters verwiesen werden könne, wobei die Berufungsbeklagte die Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit vorwerfbar unterlassen habe.
Diesbezüglich werde darauf hingewiesen, dass der Arbeitsmarkt für ihn aufgrund der anerkannten Funktionsbeeinträchtigungen verschlossen sei.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 1. Dezember 2022 sowie den Bescheid der Beklagten vom 20. April 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. November 2020 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung seit dem 7. April 2020 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hat mit Schriftsatz vom 18.09.2023 (Bl. 53 f. Senats-Akte) als für den Kläger in Betracht kommende Verweisungstätigkeiten jene des Museumsaufsehers und Telefonisten benannt und hierzu Tätigkeitsbeschreibungen inklusive Anforderungsprofilen übersandt (Bl. 55/68 Senats-Akte).
Den Verweisungstätigkeiten ist der Kläger mit Schreiben vom 01.10.2023 (Bl. 75 ff. Senats-Akte) entgegengetreten.

Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet (Bl. 90, 91 Senats-Akte).

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Beteiligtenvorbringens wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz und die vorgelegten Verwaltungsakten Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die gemäß den §§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Berufung des Klägers, über die der Senat auf Grund des Einverständnisses der Beteiligten nach § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist begründet.

Das SG hat die statthafte kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und Abs. 4 SGG) zu Unrecht abgewiesen. Der Kläger hat Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung. Der Bescheid vom 20.04.2020 in Gestalt des Widerspruchsescheides vom 10.11.2020 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Die Beklagten hat die Gewährung der Rente zu Unrecht abgelehnt.

Anspruchsgrundlage für die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung ist § 43 Abs. 2 Satz 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI). Danach haben Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze, wenn sie voll erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit zurückgelegt und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI). Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung haben Versicherte gemäß § 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze, wenn sie - neben der Erfüllung der besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen - teilweise erwerbsgemindert sind. Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein, § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI.

Eine volle Erwerbsminderung liegt nach der Rechtsprechung des BSG auch dann vor, wenn der Versicherte täglich mindestens drei bis unter sechs Stunden erwerbstätig sein kann, der Teilzeitarbeitsmarkt aber verschlossen ist (Gürtner in KassKomm, Stand 118. EL Mai 2022, SGB VI, § 43 Rn. 58 und 30 ff.).

Nach § 43 Abs. 3 SGB VI ist generell nicht erwerbsgemindert, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

Zwar ist der Kläger zur Überzeugung des Senats unter Berücksichtigung der bei ihm bestehenden Gesundheitsstörungen noch in der Lage, berufliche Tätigkeiten mindestens sechs Stunden täglich im Rahmen einer Fünf-Tage-Woche zu verrichten, denn ein Absinken seines geistigen und körperlichen Leistungsvermögens auf unter sechs Stunden täglich ist zur Überzeugung des Senats zu keinem Zeitpunkt nachgewiesen.

Jedoch ist der Kläger infolge seiner Erkrankungen der Hände/Unterarme und der Polytoxikomanie nicht in der Lage, Tätigkeiten unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes auszuüben, weshalb er einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung hat. Denn bei dem Kläger liegt zur Überzeugung des Senats eine schwere spezifische Leistungseinschränkung vor, für die die Beklagte keine adäquate Verweisungstätigkeit benannt hat.

Der Schwerpunkt der Erkrankungen des Klägers, die hier maßgeblich rentenrelevant sind, sind jene der Hände/Unterarme (auf orthopädischem und auch neurologischem Fachgebiet) sowie die - vom Kläger zwar bis zuletzt geleugnete, dennoch aufgrund der Laborbefunde nachweislich bestehende - Suchterkrankung (auf psychiatrischem Fachgebiet).

Dies ergibt sich für den Senat aus der Gesamtwürdigung aller ärztlichen Unterlagen, einschließlich und insbesondere aus den Sachverständigengutachten des G3 und des L2, ergänzend auch des Gutachtens des B1, das der Senat im Wege des Urkundsbeweises verwertet, sowie aus den Auskünften der behandelnden Ärzte.

Bei dem Kläger liegen zum einen Spätfolgen der - infolge der Stürze im April 2018 und im Juli 2019 mit anschließender Bewusstlosigkeit - erlittenen Kompartmentsyndrome beider Unterarme mit Schäden aller drei peripheren Nerven an den Unterarmen (mit deutlicher Rechtsbetonung), des Muskelgewebes beidseits und einer Volkmann’sche Kontraktur links (Krallenhand) vor.

Die Spätfolgen äußern sich in einer deutlich eingeschränkten Beweglichkeit und Kraftminderung sowie Sensibilitätsstörungen beider Hände und in einem Muskelabbau in beiden Unterarmen. Dies ergibt sich aus den seit den Stürzen und vor allem auch seit Rentenantragstellung bis zuletzt erhobenen Befunden an beiden Händen und Unterarmen (S3 Mai 2020 [Bl. 139 VA]: massive Funktionsminderung beider Arme und Hände mit ausgedehnter Narbenbildung und Muskelverlust an beiden Unterarmen beugeseitig, kontrakte Beugestellung der Langfingermittelgelenke der linken Hand mit daraus folgender unmöglicher Fingerstreckung und unmöglichem Faustschluss und nur andeutbaren Spitzgriff zum Daumen, auch an der rechten Hand Streckhemmung im Bereich der Langfingergrundgelenke vom Zeigefinger bis zum Kleinfinger zunehmend, kraftloser unvollständiger Faustschluss sowie Unfähigkeit, einen Gegendruck mit dem Daumen auszuüben, um eine Griffstellung zu erreichen; BGU Juni 2020 [Bl. 178 ff. eVA]: rechtes Handgelenk Extension/Flexion 50-0-35°; regelrechter Faustschluss; Daumen kann bis zum rechten Mittelfinger erreichen mit ausreichender Kraft, sodass Haltung eines Stiftes adäquat möglich; linkes Handgelenk Extension/Flexion 45-0-30°, bei endgradiger Extension des Handgelenkes Krallenstellung des Mittel- und Ringfinger bei Sehnen-/Muskelkontraktur der Flexor-digitorum-profundus-Sehnen 3 und 4; BGU September 2020 [Bl. 134 ff. SG-Akte]: links deutlich eingeschränkte Handgelenksbeweglichkeit Extension/Flexion 45-0-30° mit Krallenstellung des Mittel- und Ringfinger bei endgradiger Extension des Handgelenks - bei Entlassung vollständige Streckung von Mittel- und Ringerfinger auch bei endgradiger Handgelenksextension; Reha-Klinik H1 Dezember 2020 [Bl. 183 ff. eVA]: an beiden Unterarmen deutlicher Muskelabbau beidseits, links mehr als rechts, linkes Handgelenk: weiterhin deutliche Atrophie der Unterarm-, Hand- und Fingermuskulatur sowie Dysästhesie der Finger und im Handbereich, endgradig eingeschränkte Dorsalextension und endgradig leicht eingeschränkte Volarflexion, Streckdefizit in den DIP-Gelenken D III und IV sowie inkompletter Faustschluss bei D III und IV mit jeweils -2,5 cm, Faustschluss der anderen Finger komplett, Fingerspreizen gut möglich, Handkraft links vier kg; rechtes Handgelenk: nahezu unveränderte Atrophie der Unterarm- und Handmuskulatur, Extension/Flexion 30/40-0-10°, Steifigkeit, Hohlhandstellung, Streckdefizit der Langfinger, eingeschränkte Beweglichkeit des Daumens, Fingerspitzgriff bis auf die IV durchführbar, Faustschluss annähernd komplett; persistierende Sensibilitätsstörungen, Handkraft rechts 24-28 kg; G3 Januar 2022 [Bl. 233 ff. SG-Akte]: links im Bereich des körperfernen Unterarmes deutlicher Muskeldefekt, beidseits Atrophie der Daumenballenmuskulatur, rechts deutlich stärker als links; rechts: Verschmächtigung der Handbinnenmuskulatur; Daumen wird in Adduktionsstellung gehalten, Grundgelenk ist gebeugt, Endgelenk gestreckt, Langfinger im Grundgelenk circa 45° gebeugt, Mittel- und Endgelenke gestreckt; links leichte Beugestellung der Langfinger vom Zeige- zum Kleinfinger zunehmend; bei Belastung regelrechter Muskeltonus der Unterarmmuskulatur, eingeschränkte Beweglichkeit - insbesondere der Handgelenksbeugung - Streckung/Beugung 55-0-10° und Radial-/Ulnaduktion 5-0-5°, leichte Einschränkung der Unterarmeinwärtsdrehung - Auswärtsdrehen/Einwärtsdrehen 80-0-65°, Daumen in Adduktionsstellung gehalten - aktive
Ab-/Adduktion nur wenige Winkelgrade möglich, insgesamt fast vollständiger Kraftgriff möglich, bei Opposition des Daumens kann lediglich das Mittelglied des Zeigefingers aktiv erreicht werden - Schlüsselgriff somit eingeschränkt möglich, ebenso der Dreipunktegriff für mittelgroße Gegenstände [z.B. Murmel], Spitzgriff für kleinere Gegenstände [z.B. Nadel] nicht demonstrierbar; Schreibgriff rechts nicht demonstriert, ein Stift zwischen dem Zeige- und Mittelfinger gehalten; Schreiben des Namens nur zögerlich vorgeführt, prinzipiell mit Einschränkungen aber möglich, Fingerkuppen-Hohlhand-Abstand 0-0-0-0cm, Fingerstreckung deutlich eingeschränkt; in Handgelenkbeugung und in Handgelenkstreckung Grundgelenke aufgrund von Verwachsungen 45° gebeugt, Fingernagel-Tisch-Abstand in Handgelenkstreckung 6-5-5-6 cm, Handspanne vom Daumen zum Kleinfinger 12 cm, intrinsische Handmuskulatur und Daumenballenmuskulatur deutlich verschmächtigt, Atrophie der Thenarmuskulatur, Daumenopposition nur bedingt möglich, abgeschwächte Abspreizbewegung der Langfinger [Intrinsische Handmuskulatur - N. ulnaris], Messung des Schlüsselgriffes mit dem Pinchdynamometer mit dem rechten Daumen Wert von zwei kg; linke Hand: Handgelenksbeweglichkeit Streckung/Beugung 45-0-35°, Radial-/Ulnaduktion 5-0-15°, Auswärtsdrehen/Einwärtsdrehen 85-0-80°, kein vollständiger Faustschlag demonstrierbar, Beugedefizit des Mittel- und Ringfingers, Daumenfunktion deutlich besser - hier z.B. noch Abspreizbewegung des Daumens von 60° in der Handebene möglich, ebenso Bewegungsumfang von 35° im Bereich des Daumengrundgelenkes -, Opposition des Daumens bis auf den Kleinfinger zu allen dreigliedrigen Finger möglich; zuvor beschriebene Greifformen links mit weniger Einschränkungen demonstrierbar, Fingerkuppen-Hohlhand-Abstand 0-2-2-0 cm, Hand kann in Handgelenkbeugung vollständig geöffnet werden, lediglich im Bereich des Zeigefinger Endgelenkes Streckdefizit von 5°, in Handgelenkstreckung ebenso Beugestellung der Langfinger aufgrund von Verwachsungen und Narben wie rechts, allerdings geringer ausgeprägt, Fingernagel-Tisch-Abstand in Handgelenkstreckung 3-3-3-3 cm, Handspanne vom Daumen zum Kleinfinger 19 cm, im Bereich des linken Unterarmes ellenbogennah deutliche Muskeldefekte, Messung des Schlüsselgriffes mit dem Pinchdynamometer mit dem linken Daumen Wert von 2,5 kg; L2 September 2022 [Bl. 287 SG-Akte]: Kraftentfaltung beim Faustschluss bei Rechtshändigkeit am Dynamometer rechts fünf, links vier kg, dabei auch erheblich mechanisch bedingt, Kraftminderungen für alle Finger der rechten Hand vom KG 3-4/5, links hingegen für die
Finger I und II in den Einzelprüfungen normale Kraftgrade, auch Froment- und Flaschenzeichen negativ, für die übrigen Langfinger links (III-V) eingeschränkte Kraftentwicklung (KG 4/5), auch mechanisch bedingt).

Darüber hinaus liegt bei dem Kläger seit (mindestens) April 2018 eine Suchterkrankung in Form einer Polytoxikomanie (Pschyrembel Online: Gebrauch von mehr als einer Droge oder Drogenart, sowohl gleichzeitig als auch nacheinander mit der Absicht der Beschleunigung, Potenzierung oder Entgegenwirkung des Effektes anderer Drogen/ Störung durch multiplen Substanzgebrauch) vor. Dies ergibt sich sowohl aus den Berichten der GRN-Klinik von 2018 und 2019 als auch aus den Gutachten von B1 und  L2, wonach bei der Untersuchung durch L2 - wie bereits in der GRN-Klinik im Juli 2019 - im Laborbefund des klägerischen Urins THC, Methadon und Benzodiazepine nachgewiesen worden sind. Im Übrigen gab der Kläger, wenn auch sonst von ihm bei jeder Untersuchung geleugnet, zumindest bei der Untersuchung durch B1 an (Bl. 150, 156, 158 eVA), dass im Falle einer Laboruntersuchung evtl. THC nachgewiesen werden könnte; er habe zuletzt „vielleicht“ vor ca. zwei Wochen gekifft.

Diese festgestellten Spätfolgen und damit einhergehenden Funktionsdefizite an beiden Händen/Unterarmen sowie die Polytoxikomanie führen - wie sich aus dem Gesamtergebnis der medizinischen Ermittlungen ergibt - zu folgenden qualitativen Leistungseinschränkungen des Klägers, d.h. es sind folgende Tätigkeiten ausgeschlossen:
Tätigkeiten mit besonderen Anforderungen an die Feinmotorik, Kraft und Ausdauer beider Hände,
Heben und Tragen von Lasten über 5 kg bzw. von über 10 kg,
Tätigkeiten mit längerem Armvorhalt unter Belastung,
Tätigkeiten mit diadochokinetischen Bewegungen beider Hände (Pschyrembel online:
Diadochokinese ist die Fähigkeit, rasch aufeinanderfolgende antagonistische Bewegungen koordiniert auszuführen wie z.B. beim Einschrauben einer Glühbirne),
Tätigkeiten auf Leitern und Gerüsten oder an unmittelbar gefährdenden Maschinen,
Tätigkeiten in Kälte, Nässe, Zugluft, Hitze, keine Überkopfarbeiten,
Tätigkeiten mit erhöhter Verletzungsgefahr,
Tätigkeiten mit heißen und kalten Gegenständen.

Dies ergibt sich aus der Gesamtschau der medizinischen Unterlagen, insbesondere dem Reha-Entlassungsbericht der R2Kliniken aus dem Jahr 2019, den ärztlichen Auskünften der S3 und G2 und K1 sowie den Gutachten der B1, G3 und L2. Die von diesen Ärzten genannten qualitativen Leistungseinschränkungen sind für den Senat aufgrund der ärztlicherseits erhobenen und zuvor oben vom Senat festgestellten Funktionsdefizite der Hände/Unterarme nachvollziehbar und daher überzeugend.

Darüber hinaus bestehen aufgrund der Suchterkrankung folgende qualitative Leistungseinschränkungen für folgende Tätigkeiten:
Tätigkeiten mit besonderer Anforderung an Reaktionsvermögen und Aufmerksamkeit,
Tätigkeiten mit besonderen Anforderungen an das Verantwortungsbewusstsein und an die Verantwortung,
Tätigkeiten unter besonders hohem Zeitdruck (wie Akkord- und Fließbandarbeiten),
Tätigkeiten, die Zugang zu Suchtstoffen ermöglichen,
Tätigkeiten in Nachtschicht.

Dies entnimmt der Senat sowohl dem Reha-Entlassungsbericht der R2 Kliniken von 2019 als auch den Gutachten der B1 und L2.

Klarstellend, wenn auch nicht entscheidungserheblich, weist der Senat darauf hin, dass nach seiner Auffassung eine Einschränkung der Fähigkeit, die üblichen Wege von und zur Arbeit vier Mal täglich zu Fuß und mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht vorliegt. Die insoweit anders lautende Einschätzung im Pflegegutachten des MDK vom 27.02.2020 und von G2 bzgl. der Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln überzeugt den Senat nicht und wird im Übrigen auch nicht von dem gerichtlichen Sachverständigen G3 bestätigt. Auch die in diesem Pflegegutachten dargestellten alltäglichen Einschränkungen sind in diesem Ausmaß für den Senat unter Berücksichtigung der von G3 erhobenen Befunde nicht nachvollziehbar.

Der Senat verkennt insgesamt nicht, dass sowohl B1 als auch G3 und L2 während der gutachterlichen Untersuchungen gewisse Beschwerdeausgestaltungen des Klägers im Rahmen der Befunderhebungen festgestellt haben. Indes führen diese zur Überzeugung des Senats nicht dazu, dass die festgestellten qualitativen Leistungseinschränkungen nicht nachweislich bestünden. Denn die Gutachter selbst gehen von deren Vorliegen, auch unter Berücksichtigung der Beschwerdeausgestaltung, aus.

Trotz der zuvor festgestellten Erkrankungen und Funktionsdefizite ist der Kläger noch mindestens sechs Stunden täglich für leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes - allein diese und nicht der erlernte und zuletzt ausgeübte Beruf sind aufgrund des Geburtsjahrgangs des Klägers maßgeblich (vgl. § 240 SGB VI) - leistungsfähig.
Dies ergibt sich zur Überzeugung des Senats aus den Gutachten von G3, aber auch aus jenen von B1 und L2. Alle Gutachter kommen übereinstimmend und für den Senat nachvollziehbar zu der Auffassung, dass der Kläger auch und gerade unter Berücksichtigung der qualitativen Leistungseinschränkungen in einem zeitlichen Umfang von (jedenfalls) sechs Stunden täglich für leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes leistungsfähig ist.

Soweit die ambulant behandelnden Ärzte S3 und G2 und auch - zumindest für einen Teilzeitraum die behandelnden Ärzte in den Reha-Kliniken  R2 (bis November/Dezember 2020) und H1 (aktuell noch im Dezember 2020 bis zum Ablauf der Heilungsbewährung) sowie G3 (vom 17.04.2018 bis 31.12.2020/18.04.2021) hingegen zu der Auffassung gelangt sind, dass aufgrund der funktionellen Einschränkungen beider Hände/Unterarme nur noch ein zeitliches Leistungsvermögen von unter drei Stunden täglich im Rahmen einer Fünf-Tage-Woche bestünde, überzeugt dies den Senat nicht ohne Weiteres.

Jedoch Fall stellen die festgestellten qualitativen Leistungseinschränkungen zur Überzeugung des Senats unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des hier vorliegenden Einzelfalles eine schwere spezifische Leistungseinschränkung im Sinne der ständigen Rechtsprechung des BSG, aufgrund derer eine Einsatzfähigkeit des Klägers unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes gerade nicht (mehr) gegeben ist.

Zwar kann nach der ständigen Rechtsprechung des BSG für den Regelfall davon ausgegangen werden, dass ein Versicherter, der nach seinem verbliebenen Restleistungsvermögen noch körperlich leichte bis mittelschwere Tätigkeiten (wenn auch mit qualitativen Einschränkungen) täglich mindestens sechs Stunden verrichten kann, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter dessen üblichen Bedingungen erwerbstätig sein kann. Denn dem Versicherten ist es mit diesem Leistungsvermögen in der Regel noch möglich, diejenigen Verrichtungen auszuführen, die in ungelernten Tätigkeiten in der Regel gefordert werden, wie z.B. das Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Bedienen von Maschinen, Kleben, Sortieren, verpacken, Zusammensetzen von Teilen usw. (BSG Urteile 11.12.2019 - B 13 R 7/18 R -, juris Rn. 28 ff., vom 09.05.2012
B 5 R 68/11 R -, juris Rn. 17 ff. und vom 19.10.2011 - B 13 R 78/09 R -, juris Rn. 31 ff.). Nach der Rechtsprechung des BSG liegt eine volle Erwerbsminderung jedoch ausnahmsweise selbst bei einer mindestens sechsstündigen Erwerbsfähigkeit vor, wenn der Arbeitsmarkt wegen besonderer spezifischer Leistungseinschränkungen als verschlossen anzusehen ist. Dem liegt zugrunde, dass eine Verweisung auf die verbliebene Erwerbsfähigkeit nur dann möglich ist, wenn nicht nur die theoretische Möglichkeit besteht, einen entsprechenden Arbeitsplatz zu erhalten (vgl. BSG Urteil vom 11.12.2019 - B 13 R 7/18 R -, juris Rn. 28 ff., Urteil vom 30.11.1983 - 5a RKn 28/82 -, juris Rn. 27 ff.). Erwerbsfähigkeit im Sinne des § 43 SGB VI setzt mithin nicht nur voraus, dass der Versicherte in der Lage ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes eine Tätigkeit zur verrichten, sondern darüber hinaus, dass er damit in der Lage ist, „erwerbstätig“ zu sein, d.h. unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes ein Erwerbseinkommen zu erzielen. Während der „allgemeine Arbeitsmarkt“ in diesem Sinne jede nur denkbare Tätigkeit, die es auf dem Arbeitsmarkt gibt, umfasst und das Merkmal „allgemein“ lediglich den Arbeitsmarkt von Sonderbereichen, wie beispielsweise Werkstätten für Behinderte und anderen geschützten Einrichtungen abgrenzt, ist unter den „üblichen Bedingungen“ im Sinne des § 43 SGB VI das tatsächliche Geschehen auf dem Arbeitsmarkt und in den Betrieben zu verstehen, d.h. unter welchen Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt die Entgelterzielung üblicherweise tatsächlich erfolgt. Üblich sind dabei Bedingungen dann, wenn sie nicht nur in Einzel- oder Ausnahmefällen anzutreffen sind, sondern in nennenswertem Umfang und in beachtlicher Zahl (BSG Urteil vom 19.10.2011 - B 13 R 78/09 R -, juris Rn. 27 ff.).

Das verbliebene Restleistungsvermögen des Klägers lässt gerade nicht eine im Sinne dieser Rechtsprechung (BSG Urteil vom 11.12.2019 - B 13 R 7/18 R -, juris Rn. 32, Urteil vom 09.05.2012 - B 5 R 68/11 R -, juris Rn. 25) relativ „schnelle“ Zuordnung von Arbeitsfeldern bzw. typischen Verrichtungen zu, die nur mit körperlich leichten Belastungen einhergehen, wie z.B. Sortier- und Montagetätigkeiten, Boten- und Bürodienste bzw. Bedienen von Maschinen oder Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen, Messen, Prüfen, Überwachen, (Qualitäts-)Kontrolle von Produktionsvorgängen (BSG Urteile vom 11.12.2019 und 09.05.2012, a.a.O.). Solche abstrakten Handlungsfelder lassen sich für den Kläger aufgrund der vom Senat festgestellten qualitativen Einschränkungen, die aufgrund der Funktionsdefizite an Händen/Unterarmen und der Suchterkrankung bestehen, nicht beschreiben. Vielmehr versperren sie dem Kläger ein weites Feld an Einsatzmöglichkeiten und stellen eine schwere spezifische Leistungsbehinderung dar (vgl. BSG zum Vorliegen einer möglichen schweren spezifischen Leistungsbehinderung bei Einschränkungen der Arm- und Handbeweglichkeit Urteil vom 28.08.1991 - 13/5 RJ 47/90 -, SozR 3 - 2200 § 1247 Nr. 8 S. 17 ff. und bei Einarmigkeit Urteil vom 27.04.1982 - 1 RJ 132/80 -, juris Rn. 17, Urteil vom 09.05.2012 - B 5 R 68/11 R -, juris Rn. 28, Urteil vom 11.12.2019 - B 13 R 7/18 R -, juris Rn. 34).

Soweit G3 Büroarbeit, Schreibtischarbeit, Online-Bestellbearbeitung, Prüfung und Bearbeitung von Reklamationen, Planung und Gestaltung von Verkaufsräumen und die Gestaltung von Webseiten - ebenfalls körperlich leichte Tätigkeiten - beim Kläger grundsätzlich für möglich hält und dies (sogar) in einem Umfang von über sechs Stunden, überzeugt dies den Senat nicht. Denn zum einen bedeuten solche Tätigkeiten, die gerade von umfassender und andauernder Arbeit mit den Händen geprägt sind, besondere Anforderungen an die Ausdauer beider Hände, die wiederum (auch) nach seiner eigenen Einschätzung und vor allem nach den Feststellungen des Senats (s.o.) ausgeschlossen sind. So hat er auch dargelegt, dass lediglich „kleinere Schreibarbeiten“ möglich seien. Zum anderen hat G3 selbst darauf hingewiesen, dass auch bei dauerhafter Belastung der Hände/Arme ohne entsprechende Pausen eine schnellere Ermüdbarkeit der Hände eintrete. Die rasche Ermüdbarkeit der Hände hat auch S3 in seiner sachverständigen Zeugenauskunft bestätigt. Das wiederum bedeutet in der Konsequenz, dass der Kläger im Vergleich zu konkurrenzfähig arbeitenden gesunden Versicherten mehrere Pausen zur Erholung und Erhaltung der (Rest-)Einsatzfähigkeit seiner Hände einlegen müsste, was wiederum nicht den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes gerecht wird. Mithin sind jedenfalls Schreibarbeiten in einem in der Arbeitswirklichkeit gewöhnlich geforderten Tempo ausgeschlossen. Im Übrigen ist auch die die Beklagte beratende B2 in ihrer sozialmedizinischen Stellungnahme vom 28.01.2021 davon ausgegangen, dass ein Leistungsvermögen für typische Büroarbeiten nicht gegeben ist und nur das gelegentliche Tippen von Tasten am PC und Bedienen des Telefons zumutbar ist.

Liegt - wie hier - eine schwere spezifische Leistungseinschränkung vor, hat der Rentenversicherungsträger eine geeignete Verweisungstätigkeit konkret zu benennen (BSG Urteil vom 11.12.2019 - B 13 R 7/18 R -, juris Rn. 40). Es ist dann das körperliche, geistige und kognitive Leistungsvermögen mit dem beruflichen Anforderungsprofil zu vergleichen. Hierbei ist auch zu fragen, ob die/der Versicherte die fachlichen Qualifikationen hat bzw. ob sie/er sie in drei Monaten erlernen kann. Nicht verwiesen werden darf auf Tätigkeiten, die die Voraussetzungen der sog. (Seltenheits-)Katalogfälle Nr. 3 bis 7 (Nr. 3: Einsetzbarkeit nur in einem Teilbereich des Tätigkeitsfeldes, Nr. 4: Einsetzbarkeit nur auf Schonarbeitsplätzen, Nr. 5: Einsetzbarkeit nur auf Arbeitsplätzen, die an Berufsfremde nicht vergeben werden dürfen, Nr. 6: Einsetzbarkeit in Aufstiegspositionen, Nr. 7: Einsetzbarkeit auf Arbeitsplätzen, die in ganz geringer Zahl auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vorkommen) erfüllen (BSG Urteil vom 11.12.2019 - B 13 R 7/18 R -, juris Rn. 17, 40). Kann der Versicherte die Verweisungstätigkeit nicht ausüben, ist er auch dann (voll) erwerbsgemindert, wenn sein zeitliches Leistungsvermögen uneingeschränkt ist.

Die Beklagte hat hier als Verweisungstätigkeiten jene der Museumsaufsicht und des Telefonisten benannt und hierzu berufliche Anforderungsprofile vorgelegt, die von der Bundesagentur für Arbeit als Berufsinformation (abrufbar unter www.berufenet.de) erstellt wurden. Diesen Anforderungsprofilen wird das Restleistungsvermögen des Klägers indes zur Überzeugung des Senats nicht gerecht.

Aus dem Anforderungsprofil zum Museumsaufseher ergibt sich u.a. Folgendes (Bl. 62/68 Senats-Akte):
„Arbeitssituation: Museumsaufseher/innen führen in den Räumen von Museen oder Bibliotheken überwachende Aufgaben aus und erteilen Auskünfte. Meist tragen sie einheitliche Dienstkleidung. Sie sind viel im Stehen und Gehen tätig. Bei populären Ausstellungen kann großer Besucherandrang herrschen, dann kann es in den Räumen eng, warm und mitunter lauter werden. Die Arbeitszeiten richten sich nach den Öffnungszeiten der Einrichtungen. Schichtarbeit und Arbeit an Wochenenden ist möglich.
Museumsaufseher/innen beweisen im Umgang mit den Besuchern gute Umgangsformen und Serviceorientierung. Ein gepflegtes Äußeres ist wichtig. Sie müssen jedoch auch durchsetzungsfähig sein, z. B. wenn sich Besucher/innen nicht an die Vorschriften halten. Sie müssen - auch bei großem Besucherandrang - sehr aufmerksam darauf achten, dass Gefährdungen und Beschädigungen der Ausstellungsgegenstände unterbleiben. In Not- bzw. Gefahrensituationen reagieren sie besonnen und leiten entsprechende Maßnahmen ein.
Arbeitsbedingungen im Einzelnen: Arbeit in Ateliers/Studios (z.B. in Museumssälen und Ausstellungsräumen), unregelmäßige Arbeitszeiten (in den Abendstunden, an Wochenenden und an Feiertagen), Schichtarbeit, Kundenkontakt (z.B. Museumsbesucher/innen Auskünfte zu einzelnen Sammlungsobjekten erteilen oder den Weg zu bestimmten Ausstellungsräumen weisen), Arbeit im Gehen und Stehen, Verantwortung für Sachwerte (z.B. Kunstwerke vor Berührungen oder Blitzlicht schützen, Diebstähle vermeiden)
Aufgaben und Tätigkeiten im Einzelnen: Aufsicht in Ausstellungsräumlichkeiten führen, Ein- und Ausgangskontrollen durchführen, ggf. Audioguides ausgeben; Sicherstellen, dass Besucher sich an die Hausordnung halten, z.B. Fotografierverbote beachten, Kunstgegenstände nicht berühren; ggf. Auskünfte zu ausgestellten Objekten geben, Besuchern den Weg weisen, z.B. zu bestimmten Sammlungen, Ausgängen oder Fahrstühlen; Aufgaben im Bereich Sicherheit übernehmen; Ausstellungsräume per Monitor überwachen; in Notfällen Besuchern Fluchtwege aus dem Gebäude zeigen bzw. Erste Hilfe leisten; nach der abendlichen Schließung Kontrollgänge und Schließkontrollen durchführen; ggf. die Arbeit von Reinigungskräften überwachen.“

Ein Abgleich dieses Anforderungsprofils mit den qualitativen Leistungseinschränkungen des Klägers zeigt, dass die Verweisungstätigkeit des Museumsaufsehers dem Restleistungsvermögen des Klägers nicht gerecht wird, da sie mit Schichtarbeit verbunden ist und der Museumsaufseher Verantwortung für Sachwerte trägt und Aufgaben im Sicherheitsbereich wahrnimmt, beim Kläger aber sowohl Tätigkeiten in Nachtschicht als auch solche mit besonderem Verantwortungsbewusstsein bzw. besonderer Verantwortung aufgrund seiner Suchterkrankung ausgeschlossen sind. Besonderes Verantwortungsbewusstsein ist auch und vor allem bei Aufgaben im Sicherheitsbereich erforderlich.

Aus dem Anforderungsprofil zum Telefonisten ergibt sich u.a. Folgendes (Bl. 55/61 Senats-Akte):
„Arbeitssituation: Telefonisten und Telefonistinnen bedienen die Telefonanlage und erledigen weitere Aufgaben am Computer, z.T. mit spezieller Software für die Termin- bzw. Personalverwaltung oder mit Datenbanken. Sie arbeiten in Büroräumen sowie im Empfangsbereich, meist im Sitzen. Schichtdienst ist möglich.
Stets wechselnde Anrufer und ggf. Besucher erfordern Flexibilität, Kunden- und Serviceorientierung, Kommunikationsstärke sowie gute Umgangsformen. Bei internationalen Unternehmen benötigen Telefonisten und Telefonistinnen Fremdsprachenkenntnisse.
Arbeitsbedingungen im Einzelnen: Bildschirmarbeit (einschlägige Software für die Bedienung der Telefonanlagen beherrschen; mit gängigen Büroprogrammen, mit spezieller Bestellsoftware oder Kundendatenbanken arbeiten), Arbeit in Büroräumen (in Büros, Studios oder im Empfangsbereich), Schichtarbeit (z.B. in Empfangsbereichen, die rund um die Uhr besetzt sein müssen), Kundenkontakt (z.B. Anrufe entgegennehmen, Auskünfte erteilen oder Termine per Telefon vereinbaren).
Arbeitsgegenstände/Arbeitsmittel: Büroausstattung und Zubehör, z.B.: PC, Internetzugang, Telefon, Headset; Unterlagen und Datenverwaltungssysteme, z.B.: Kundenkorrespondenz, Auftragsunterlagen, Terminpläne, Kundendatenbanken.
Aufgaben und Tätigkeiten im Einzelnen: Aufgaben in Telefonzentralen oder am Empfang von Unternehmen und Behörden übernehmen, z.B. Anrufe annehmen und weitervermitteln, Anrufern Auskünfte geben, Termine vereinbaren, Kundendaten in Datenbanken eingeben, telefonische Bestellungen annehmen; allgemeine Büroarbeiten erledigen z.B. Postein- und -ausgang bearbeiten, Ablage erledigen, Büromaterial verwalten; ggf. im Empfangsbereich Kunden und Besucher begrüßen und betreuen; ggf. Service-Dienstleistungen organisieren.“

Ein Abgleich dieses Anforderungsprofils mit den qualitativen Leistungseinschränkungen des Klägers zeigt, dass auch die Verweisungstätigkeit des Telefonisten dem Restleistungsvermögen des Klägers nicht gerecht wird, da Büroarbeiten für den Kläger - wie bereits oben dargelegt - wegen der damit verbundenen ausdauernden Belastung der Hände ausgeschlossen sind. Ebenfalls ausgeschlossen sind Tätigkeiten in Nachtschicht, die wiederum Telefonisten („z.B. in Empfangsbereichen, die rund um die Uhr besetzt sein müssen“) leisten müssen.

Soweit G3 und L2 diese (Verweisungs-)Tätigkeit noch für zumutbar halten, auch und vor allem in einem zeitlichen Umfang von sechs Stunden, überzeugt dies den Senat aus den bereits oben dargelegten Gründen zur fehlenden Einsatzfähigkeit des Klägers für Büroarbeiten (einem zeitlichen Umfang von sechs Stunden täglich) nicht. Darüber hinaus geht der Senat davon aus, dass L2 der Umstand, dass die Telefonistentätigkeit mit Nachtschichtarbeit verbunden ist, nicht bekannt gewesen ist. Nur so lässt sich erklären, dass er diese Tätigkeit für zumutbar gehalten hat bei gleichzeitigem Hinweis darauf, dass Nachtschichtarbeiten unzumutbar seien.

Nicht zuletzt wäre der Kläger entgegen der Annahme von B2 auch nicht als Pförtner einsetzbar. Zwar hat die Beklagte diesen Verweisungsberuf auf Anfrage des Senats nicht explizit benannt. Im Übrigen wird der Beruf des Pförtners in der Berufsinformation der Bundesagentur für Arbeit nicht (mehr) geführt (bei Eingabe des Berufs „Pförtner“ auf www.berufenet.de wird der Beruf „Sicherheitsmitarbeiter“ angezeigt). Ungeachtet dessen, käme die Tätigkeit des Pförtners für den Kläger nicht in Betracht, da auch der Pförtner Schreibarbeiten zu verrichten hat (vgl. dazu LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 26.03.2010 - L 4 R 3765/08 -, juris Rn. 26), die der Kläger - wie bereits dargelegt - in einem in der Arbeitswirklichkeit geforderten Tempo nicht leisten kann.

Mithin scheiden auch weitere Tätigkeiten, bei welchen Schreibarbeiten in einem in der Arbeitswirklichkeit gewöhnlich geforderten Tempo anfallen, als Verweisungsberufe aus.

Da die von der Beklagten benannten Verweisungstätigkeiten nicht mit den festgestellten qualitativen Leistungseinschränkungen des Klägers vereinbar sind, hat der Kläger unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BSG einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung.

Die Leistungsminderung besteht zur Überzeugung des Senats bereits seit 17.04.2018, dem ersten Liegetrauma des Klägers. Diese Überzeugung stützt der Senat sowohl auf die Gutachten des G3 und des L2 als auch auf die Auskunft des K1 und die Tatsache, dass der Kläger aufgrund der Folgen des ersten Sturzes durchgehend vom 17.04.2018 bis zum erneuten Sturz und Liegetrauma am 27.07.2019 sowie darüber hinaus arbeitsunfähig krankgeschrieben war (vgl. Daten im Versicherungsverlauf vom 05.01.2023).

Da nach allen ärztlichen Äußerungen, vor allem auch jenen der gerichtlichen Sachverständigen G3 und L2, eine so wesentliche Besserung im Gesundheitszustand des Klägers nicht zu erwarten ist, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit wieder behoben werden kann, besteht der Anspruch auf Rente auf Dauer, d.h. ohne zeitliche Befristung (vgl. § 102 Abs. 2 Satz 5 SGB VI).

Neben den medizinischen Voraussetzungen sind vorliegend auch die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen im Sinne des § 43 SGB VI erfüllt, d.h. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung sind drei Jahre mit Pflichtbeiträgen für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit belegt und vor Eintritt der Erwerbsminderung ist die die allgemeine Wartezeit (fünf Jahre, § 50 Abs. 1 SGB VI) erfüllt. Ausweislich des Versicherungsverlaufs vom 05.01.2023 sind die fünf Jahre vor Eintritt der Erwerbsminderung am 18.04.2018 (also vom 18.04.2013 bis 17.04.2018) mit insgesamt 42 Monaten Pflichtbeiträgen belegt. Auch ist die allgemeine Wartezeit erfüllt.

Die Rente ist grundsätzlich ab dem Monat der Antragstellung zu leisten (vgl. § 99 Abs. 1 Satz 2 SGB VI), hier angesichts des vom rechtskundig vertretenen Kläger ausdrücklich im Klage- und Berufungsverfahrens gestellten Antrags ab 07.04.2020.

Nach alledem war auf die Berufung des Klägers der Gerichtsbescheid des SG Heilbronn vom 01.12.2022 und die angefochtenen Bescheide der Beklagten aufzuheben und die Beklagte zur Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 07.04.2020 und auf Dauer zu verurteilen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG liegen nicht vor.  


 

Rechtskraft
Aus
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