Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts BerlinBrandenburg vom 9. November 2022 aufgehoben.
Es wird festgestellt, dass die mit Beschluss des Beklagten vom 27. November 2015 in der Fassung des Änderungsbeschlusses vom 21. Januar 2016 vorgenommene Änderung der Anlage XII der Arzneimittel-Richtlinie zur Nutzenbewertung des Wirkstoffs Ivermectin unwirksam ist.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
G r ü n d e :
I
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Im Streit steht die Nutzenbewertung des Arzneimittels Soolantra®.
2
Die Klägerin ist ein pharmazeutischer Unternehmer und vertreibt seit dem 1.6.2015 das Fertigarzneimittel Soolantra® mit dem Wirkstoff Ivermectin in Deutschland. Dieses wurde in Deutschland vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte am 29.4.2015 zur topischen Behandlung von Hauterkrankungen (entzündliche Läsionen der <papulopustulösen> Rosazea) bei Erwachsenen zugelassen, unterlag der Verschreibungspflicht und erhielt Unterlagenschutz.
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Zuvor war mit dem Arzneimittel Stromectol® erstmals ein Humanarzneimittel mit dem Wirkstoff Ivermectin 1999 in Frankreich zur Behandlung ua der Krätze zugelassen worden und 2003 in den Niederlanden.
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Der beklagte Gemeinsame Bundesausschuss forderte die Klägerin zur Einreichung eines Dossiers auf, weil der Wirkstoff Ivermectin erstmals in Deutschland in einem Arzneimittel in den Verkehr gebracht werde (Schreiben vom 12.5.2015). Der Beklagte beschloss, nachdem die Klägerin kein Dossier eingereicht hatte, eine Änderung der Arzneimittel-Richtlinie Anlage XII Beschlüsse über die Nutzenbewertung von Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen nach § 35a SGB V Ivermectin. Nach dieser gilt nach § 35a Abs 1 Satz 5 SGB V ein Zusatznutzen für Soolantra® gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie als nicht belegt (Beschluss vom 27.11.2015, BAnz AT 22.12.2015 B2; Tragende Gründe vom 27.11.2015; geändert durch Beschluss vom 21.1.2016, BAnz AT 19.4.2016 B3; Tragende Gründe vom 21.1.2016).
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Nachfolgend einigten sich die Klägerin und der GKV-Spitzenverband auf eine Erstattungsbetragsvereinbarung nach § 130b SGB V für Soolantra® (Vereinbarung vom 10.5.2016). Die Klägerin hielt gleichwohl an ihrem Rechtsstandpunkt fest, dass die gesetzlichen Voraussetzungen einer Vereinbarung nicht gegeben seien.
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Bereits vor dem Zustandekommen dieser Vereinbarung hatte die Klägerin gegen den Gemeinsamen Bundesausschuss Klage auf Feststellung der Unwirksamkeit des Nutzenbewertungsbeschlusses erhoben und sich darauf berufen, dass der Wirkstoff Ivermectin nicht dem Nutzenbewertungsverfahren nach § 35a Abs 1 SGB V unterliege. Das LSG wies die Klage als unzulässig ab, weil sie nach § 35a Abs 8 Satz 1 SGB V ausgeschlossen sei (Urteil im Verfahren L 1 KR 558/15 KL). Auf die von ihm zugelassene Revision der Klägerin hob der Senat dieses Urteil auf, weil das LSG die Klage zu Unrecht als unzulässig abgewiesen habe, und wies die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurück (Urteil im Verfahren B 3 KR 11/19 R).
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Das LSG hat nach Zurückverweisung die Klage abgewiesen: Der Beklagte habe das Arzneimittel Soolantra® zu Recht einer Nutzenbewertung unterzogen. In Deutschland sei es als erstes Arzneimittel mit dem Wirkstoff Ivermectin 2015 in den Verkehr gebracht worden. Ein Unterlagenschutz sei zuvor nicht abgelaufen gewesen, weil diesen im vorliegenden Regelungszusammenhang nur in oder für Deutschland zugelassene und erstattungsfähige Arzneimittel vermitteln könnten, nicht aber in nur einem Mitgliedstaat der Europäischen Union zugelassene Arzneimittel. 2015 sei Ivermectin ein neuer Wirkstoff gewesen, weil das Arzneimittel Soolantra® auf einer neuen Wirkung eines bekannten Wirkstoffs beruhe (Urteil vom 9.11.2022).
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Mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung zum einen von § 35a Abs 1 Satz 1 SGB V iVm § 3 Nr 1, § 2 Abs 1 AM-NutzenV. Der von ihr mit Soolantra® erstmals in Deutschland in den Verkehr gebrachte Wirkstoff Ivermectin sei 2015 kein neuer Wirkstoff mehr gewesen, nachdem der europarechtlich harmonisierte Unterlagenschutz des 1999 in Frankreich erstmalig zugelassenen Arzneimittels mit Ivermectin nach zehn Jahren bereits abgelaufen gewesen sei. Produkt- statt wirkstoffbezogene Neuheitsaspekte könnten eine obligatorische Nutzenbewertung nicht begründen. Die unrechtmäßige Einbeziehung von Soolantra® in die Nutzenbewertung verletze die Klägerin in ihren Rechten. Zum anderen rügt sie als Verfahrensmangel eine Überraschungsentscheidung des LSG.
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Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 9. November 2022 aufzuheben und festzustellen, dass die mit Beschluss des Beklagten vom 27. November 2015 in der Fassung des Änderungsbeschlusses vom 21. Januar 2016 vorgenommene Änderung der Anlage XII der Arzneimittel-Richtlinie zur Nutzenbewertung des Wirkstoffs Ivermectin unwirksam ist.
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Der Beklagte verteidigt die angegriffene Entscheidung und beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II
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Die zulässige Revision der Klägerin ist begründet (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG). Entgegen der Auffassung des erstinstanzlich zuständigen LSG Berlin-Brandenburg (§ 29 Abs 4 Nr 3 SGG) ist der Nutzenbewertungsbeschluss des beklagten Gemeinsamen Bundesausschusses schon deshalb rechtswidrig und unwirksam, weil mangels Neuheit des Wirkstoffs über eine Nutzenbewertung des Arzneimittels nicht zu beschließen war. Auf die Verfahrensrüge der Klägerin kam es danach nicht an.
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1. Streitgegenstand des Revisionsverfahrens ist neben dem Urteil des LSG der Nutzenbewertungsbeschluss des Beklagten vom 27.11.2015/21.1.2016. Streitig ist zwischen den Beteiligten allein, ob das Arzneimittel Soolantra® mit dem Wirkstoff Ivermectin der obligatorischen Nutzenbewertung nach § 35a Abs 1 SGB V unterlag.
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2. Der Senat ist an einer Sachentscheidung nicht gehindert. Die Feststellungsklage isoliert gegen den Nutzenbewertungsbeschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses bei Abschluss einer Erstattungsbetragsvereinbarung mit dem GKV-Spitzenverband ist zulässig (dazu im Einzelnen BSG vom 10.9.2020 B 3 KR 11/19 R SozR 42500 § 35a Nr 6 RdNr 15 ff, 36 ff).
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Kein Sachentscheidungshindernis ist, dass eine echte notwendige Beiladung (§ 75 Abs 2 Alt 1 SGG) des GKV-Spitzenverbands unterblieben ist. Diese war rechtlich nicht geboten, weil dieser an dem streitigen Rechtsverhältnis Rechtsstreit zwischen pharmazeutischem Unternehmer und Gemeinsamen Bundesausschuss über die Einbeziehung eines Arzneimittels in die obligatorische Nutzenbewertung nicht derart beteiligt ist, dass die Entscheidung auch ihm gegenüber nur einheitlich ergehen kann. Dem GKV-Spitzenverband gegenüber gelten lediglich die Rechtsfolgen sowohl eines wirksamen Nutzenbewertungsbeschlusses (Grundlage einer Erstattungsbetragsvereinbarung) als auch der Feststellung seiner Unwirksamkeit (Wegfall der Grundlage einer Erstattungsbetragsvereinbarung). Diese normativen Wirkungen allein begründen indes keine unmittelbare Beteiligung des von ihnen betroffenen GKV-Spitzenverbands am Rechtsstreit zwischen pharmazeutischem Unternehmer und Gemeinsamen Bundesausschuss über die Rechtmäßigkeit der Einbeziehung eines Arzneimittels in die Nutzenbewertung.
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3. Gerichtlich zu überprüfen ist ein Nutzenbewertungsbeschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses auf einen Feststellungsantrag darauf, ob durch den Gemeinsamen Bundesausschuss als Normgeber die Zuständigkeits- und Verfahrensbestimmungen sowie die gesetzlichen Vorgaben im Zeitpunkt der Beschlussfassung nachvollziehbar und widerspruchsfrei Beachtung gefunden haben, um den Gestaltungsspielraum auszufüllen (vgl zuletzt BSG vom 22.2.2023 B 3 KR 14/21 R BSGE 135, 266 = SozR 42500 § 35a Nr 8, RdNr 16, 35).
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Ausgehend von den einschlägigen Rechtsgrundlagen (dazu 4.) hat der Gemeinsame Bundesausschuss mit seinem Nutzenbewertungsbeschluss den ihm als Normgeber zustehenden Gestaltungsspielraum überschritten, denn Soolantra® ist kein Arzneimittel mit einem neuen Wirkstoff, das der obligatorischen Nutzenbewertung unterliegt (dazu 5.), weil maßgeblich für die Neuheit der Ablauf des Unterlagenschutzes für das erstmalig mit dem Wirkstoff zugelassene Arzneimittel zumindest in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union ist (dazu 6. bis 9.). Einer weitergehenden Auslegung des in Gesetz und Verordnung bestimmten Anwendungsbereichs der obligatorischen Nutzenbewertung steht Verfassungsrecht entgegen (dazu 10. und 11.), sodass der streitige Nutzenbewertungsbeschluss rechtswidrig und unwirksam ist (dazu 12.).
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4. Rechtsgrundlagen für die Bewertung des Nutzens von Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen enthalten das SGB V, die AM-NutzenV und die Verfahrensordnung des Gemeinsamen Bundesausschusses (VerfOGBA).
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a) Gesetzlicher Ausgangspunkt ist § 35a SGB V (hier für den streitigen Nutzenbewertungsbeschluss vom 27.11.2015 idF des 14. SGB V-ÄndG vom 27.3.2014, BGBl I 261). Danach bewertet der Gemeinsame Bundesausschuss den Nutzen von erstattungsfähigen Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen (Abs 1 Satz 1).
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b) Nach § 35a Abs 1 Satz 6 SGB V regelt das Bundesministerium für Gesundheit durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrats das Nähere zur Nutzenbewertung. Was darin insbesondere festzulegen ist, bestimmt § 35a Abs 1 Satz 7 SGB V.
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Auf dieser Verordnungsermächtigung beruht die AM-NutzenV (hier für den streitigen Nutzenbewertungsbeschluss vom 27.11.2015 idF des 14. SGB VÄndG vom 27.3.2014, BGBl I 261). Nach § 3 Nr 1 AMNutzenV wird die Nutzenbewertung nach § 35a Abs 1 SGB V durchgeführt für erstattungsfähige Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen und neuen Wirkstoffkombinationen, die ab dem 1.1.2011 erstmals in den Verkehr gebracht werden, sofern erstmals ein Arzneimittel mit diesem Wirkstoff in den Verkehr gebracht wird. Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen im Sinne der AM-NutzenV sind Arzneimittel, die Wirkstoffe enthalten, deren Wirkungen bei der erstmaligen Zulassung in der medizinischen Wissenschaft nicht allgemein bekannt sind (§ 2 Abs 1 Satz 1 AMNutzenV). Ein Arzneimittel mit einem neuen Wirkstoff im Sinne der AM-NutzenV gilt solange als ein Arzneimittel mit einem neuen Wirkstoff, wie für das erstmalig zugelassene Arzneimittel mit dem Wirkstoff Unterlagenschutz besteht (§ 2 Abs 1 Satz 2 AMNutzenV).
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c) Nach § 35a Abs 1 Satz 8 SGB V regelt der Gemeinsame Bundesausschuss weitere Einzelheiten erstmals innerhalb eines Monats nach Inkrafttreten der AMNutzenV in seiner Verfahrensordnung (vgl auch § 1 Satz 2 AMNutzenV).
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Auf dieser Ermächtigung beruht das 5. Kapitel VerfOGBA (hier für den streitigen Nutzenbewertungsbeschluss vom 27.11.2015 idF des Beschlusses vom 18.12.2014, BAnz AT 15.4.2015 B2). Dessen Regelung über die Durchführung der Nutzenbewertung im 5. Kapitel § 1 Abs 2 Nr 1 VerfOGBA entspricht § 3 Nr 1 AM-NutzenV, die Begriffsbestimmungen der Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen im 5. Kapitel § 2 Abs 1 Satz 1 und 2 VerfOGBA entsprechen § 2 Abs 1 AM-NutzenV.
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5. Das Fertigarzneimittel Soolantra® mit dem Wirkstoff Ivermectin ist ein zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung erstattungsfähiges Arzneimittel (§ 35a Abs 1 Satz 1 SGB V; vgl zum Begriff der Erstattungsfähigkeit Axer in Becker/Kingreen, SGB V, 8. Aufl 2022, § 35a RdNr 21), das nach dem 1.1.2011 erstmals in Deutschland in den Verkehr gebracht wurde und mit dem auch erstmals ein Arzneimittel mit diesem Wirkstoff in Deutschland in den Verkehr gebracht wurde (§ 3 Nr 1 AM-NutzenV). Es ist indes kein Arzneimittel mit einem neuen Wirkstoff im Sinne des § 35a Abs 1 Satz 1 SGB V und § 3 Nr 1 AM-NutzenV.
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Den im Gesetz nicht definierten Begriff der Neuheit bestimmt § 2 Abs 1 AM-NutzenV ermächtigungskonform näher. Danach waren die Wirkungen des Wirkstoffs Ivermectin im Sinne des § 2 Abs 1 Satz 1 AM-NutzenV bei der erstmaligen Zulassung eines Humanarzneimittels mit diesem Wirkstoff in der medizinischen Wissenschaft nicht allgemein bekannt und der Wirkstoff war in diesem Sinne neu. Abzustellen ist hierfür auf die erstmalige Zulassung des Arzneimittels Stromectol® mit dem Wirkstoff Ivermectin 1999 in Frankreich, nicht auf die Zulassung von Soolantra® 2015 in Deutschland. § 2 Abs 1 Satz 1 AM-NutzenV bezieht sich nach seinem Wortlaut auf die Wirkungen von in Arzneimitteln enthaltenen Wirkstoffen bei der erstmaligen Zulassung eines Arzneimittels mit einem neuen Wirkstoff, ohne dies explizit auf eine erstmalige Zulassung in oder für Deutschland zu beschränken.
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Ein Arzneimittel mit dem Wirkstoff Ivermectin galt nach § 2 Abs 1 Satz 2 AM-NutzenV solange als ein Arzneimittel mit einem neuen Wirkstoff, wie für das erstmalig zugelassene Arzneimittel mit dem Wirkstoff Unterlagenschutz bestand. Abzustellen ist auch hierfür auf die erstmalige Zulassung des Arzneimittels Stromectol® mit dem Wirkstoff Ivermectin 1999 in Frankreich, nicht auf die Zulassung von Soolantra® 2015 in Deutschland, die eine neue Zulassung mit neuem Unterlagenschutz begründete. Auch § 2 Abs 1 Satz 2 AMNutzenV bezieht sich sowohl nach seinem Wortlaut als auch seinem systematischen Zusammenhang mit § 2 Abs 1 Satz 1 AMNutzenV nur auf die erstmalige Zulassung eines Arzneimittels mit einem neuen Wirkstoff, nicht auf seine erstmalige Zulassung in oder für Deutschland.
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6. Angeknüpft ist mit dem für die Neuheit im Sinne der Nutzenbewertung zentralen Begriff "Unterlagenschutz" in § 2 Abs 1 Satz 2 AM-NutzenV an den europarechtlich determinierten Begriff des Unterlagenschutzes (zum Begriff s amtliche Überschrift des § 24b AMG; vgl zum Unterlagenschutz näher Meier in Meier/von Czettritz/Gabriel/Kaufmann, Pharmarecht, 3. Aufl 2023, § 4 RdNr 186 ff; s inzwischen auch das 5. Kapitel § 1a VerfOGBA). Aus dieser Anknüpfung folgt rechtssystematisch, dass es für § 2 Abs 1 AM-NutzenV auf die erstmalige Zulassung eines Arzneimittels mit einem neuen Wirkstoff zumindest in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union ankommt (vgl Meier aaO RdNr 188 f, 195 f), nicht auf die erstmalige Zulassung eines Arzneimittels mit dem Wirkstoff in oder für Deutschland (s § 24b Abs 1 Satz 1 Halbsatz 2 AMG). Diese kann zugleich die erstmalige Zulassung des Arzneimittels mit dem neuen Wirkstoff in der Europäischen Union sein; sie ist es aber nicht, wenn ein Arzneimittel mit dem Wirkstoff bereits zuvor in zumindest einem Mitgliedstaat der Europäischen Union zugelassen worden war. Maßgeblich für die Neuheit ist in letzterer Konstellation nicht ein Unterlagenschutz des neu in Deutschland in den Verkehr gebrachten Arzneimittels, sondern der Unterlagenschutz des Arzneimittels, das mit dem Wirkstoff des neu in Deutschland in den Verkehr gebrachten Arzneimittels erstmalig in der Europäischen Union zugelassen worden war (vgl so bereits Schickert/Schmitz, PharmR 2011, 217, 219).
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Für ein hiervon abweichendes Erfordernis der krankenversicherungsrechtlichen Erstattungsfähigkeit des erstmalig in der Europäischen Union zugelassenen Arzneimittels mit dem Wirkstoff in Deutschland, um hier im Rahmen der Nutzenbewertung einen Unterlagenschutz begründen zu können, bieten die Begriffsbestimmungen in § 2 Abs 1 AM-NutzenV keinen genügenden normativen Anknüpfungspunkt. Anders als § 35a Abs 1 Satz 1 SGB V und § 3 AMNutzenV für der Nutzenbewertung in Deutschland unterliegende Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen als Grundlage der Erstattungsbetragsvereinbarung (§ 130b SGB V) knüpft der zulassungsrechtliche Unterlagenschutz nach § 2 Abs 1 Satz 2 AM-NutzenV als Merkmal für die Begrenzung der Dauer der Neuheit eines Wirkstoffs nach § 2 Abs 1 Satz 1 AMNutzenV nicht an die Erstattungsfähigkeit des einen Unterlagenschutz begründenden Arzneimittels mit dem Wirkstoff zulasten der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung an, sondern an seine erstmalige Zulassung in zumindest einem Mitgliedstaat der Europäischen Union. Unerheblich ist daher in diesem Zusammenhang, ob das erstmalig in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union mit dem Wirkstoff zugelassene Arzneimittel in Deutschland im Wege des Einzelimports nach § 73 Abs 3 AMG rechtmäßig beschafft werden konnte (vgl zu den Begrenzungen dieses Beschaffungswegs BSG vom 18.5.2004 B 1 KR 21/02 R BSGE 93, 1 = SozR 42500 § 31 Nr 1, juris RdNr 17, 29).
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Angeknüpft wird mit dem Tatbestandsmerkmal des Unterlagenschutzes für das erstmalig zugelassene Arzneimittel mit dem Wirkstoff in § 2 Abs 1 Satz 2 AM-NutzenV allein an den europarechtlich harmonisierten zulassungsrechtlichen Unterlagenschutz, der grundsätzlich für zehn Jahre besteht und um ein weiteres Jahr verlängert werden kann (sog 8+2+1-Formel; vgl im Einzelnen unter Hinweis auf Art 10 Abs 1 RL 2001/83/EG, Art 14 Abs 11 VO <EG> 726/2004 und § 24b Abs 1 AMG Meier in Meier/von Czettritz/Gabriel/Kaufmann, Pharmarecht, 3. Aufl 2023, § 4 RdNr 189 ff). Ein europarechtlich determinierter Unterlagenschutz galt auch bereits vor Inkrafttreten der geltenden Unterlagenschutzbestimmungen nach altem Recht und bestand für nationale Zulassungen, die von Frankreich gewährt wurden, für zehn Jahre (vgl Meier aaO RdNr 195 f; vgl zur Regelungsgeschichte Kortland in Kügel/Müller/Hofmann, AMG, 3. Aufl 2022, § 24b RdNr 6; Krüger/Sander, PharmR 2024, 156, 156 f; s auch Übergangsregelung in § 141 Abs 5 AMG iVm § 24a AMG in der bis 5.9.2005 geltenden Fassung und dazu Kortland aaO RdNr 67 f).
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7. Durch § 2 Abs 1 Satz 2 AM-NutzenV ist damit unter Bezugnahme auf den in anderen Normen als denen zur Nutzenbewertung bestimmten Unterlagenschutz als zeitlich befristeten Schutz der Zulassungsunterlagen eines pharmazeutischen Unternehmers schlicht eine Frist bestimmt, mit der die Geltung eines Arzneimittels mit einem neuen Wirkstoff im Sinne des § 2 Abs 1 Satz 1 AMNutzenV als ein Arzneimittel mit einem neuen Wirkstoff, was Voraussetzung für die Einbeziehung von Arzneimitteln mit diesem Wirkstoff in die obligatorische Nutzenbewertung nach § 35a Abs 1 SGB V ist, endet (vgl so auch Fiekas, PharmR 2019, 145, 146 f). Darauf, ob das erstmalig zugelassene Arzneimittel mit dem neuen Wirkstoff und das Arzneimittel, um dessen Nutzenbewertung es geht, im Sinne des § 24b AMG im Verhältnis von Referenzarzneimittel und Generikum zueinander stehen, kommt es für die Übernahme allein der Unterlagenschutzfrist aus dem Zulassungsrecht in das Recht der Nutzenbewertung nicht an.
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Dieses aus Wortlaut und Systematik sich ergebende formale Verständnis der Dauer der Geltung eines Arzneimittels als eines mit einem neuen Wirkstoff im Sinne des § 35a Abs 1 Satz 1 SGB V iVm § 3 Nr 1, § 2 Abs 1 AM-NutzenV entspricht auch den Regelungsabsichten des Verordnungsgebers, wie sie der nichtamtlichen Verordnungsbegründung entnommen werden können (Verordnungsbegründung S 12: "Allgemein bekannt ist ein Wirkstoff, wenn er seit mindestens zehn Jahren in der Europäischen Union allgemein medizinisch verwendet wird. Damit verknüpft ist der Zeitraum des Unterlagenschutzes nach § 24b des Arzneimittelgesetzes, wonach ein Generikum grundsätzlich erstmals nach Ablauf von zehn Jahren nach der Zulassung des Referenzarzneimittels in den Verkehr gebracht werden darf. Auf diese Frist, die nicht zusätzlich eine allgemeine medizinische Verwendung voraussetzt, wird im Interesse der Beteiligten zur Gewährleistung von Rechtssicherheit abgestellt. Arzneimittel mit Wirkstoffen, die nicht mehr unter den Unterlagenschutz fallen, können damit nicht mehr Gegenstand einer Nutzenbewertung nach § 35a Absatz 1 oder Absatz 6 SGB V sein.").
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Dem so bestimmten Regelungsgehalt des § 2 Abs 1 AM-NutzenV stehen nicht die vom Beklagten bezeichneten Grundsätze der rangkonformen Auslegung von Rechtsnormen entgegen. Die Bestimmungen des § 2 Abs 1 AM-NutzenV definieren den Begriff der erstattungsfähigen Arzneimittel mit "neuen" Wirkstoffen in § 35a Abs 1 Satz 1 SGB V, was es nicht gebietet, dass das erstmalig zugelassene Arzneimittel mit dem neuen Wirkstoff ein in Deutschland zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung "erstattungsfähiges" Arzneimittel gewesen sein muss (vgl insofern zur Unergiebigkeit des Normprogramms des § 35a SGB V bereits BSG vom 10.9.2020 B 3 KR 11/19 R SozR 42500 § 35a Nr 6 RdNr 21, 26 f).
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8. Nur auf den zulassungsrechtlichen Unterlagenschutz für das erstmalig zugelassene Arzneimittel mit dem neuen Wirkstoff in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union als formales einzelfallunabhängiges Kriterium kommt es für die Dauer der Geltung als ein Arzneimittel mit einem neuen Wirkstoff an.
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Rechtlich unerheblich ist danach, ob das 2015 in Deutschland neu zugelassene Arzneimittel Soolantra® mit dem Wirkstoff Ivermectin bezogen auf das zugelassene Anwendungsgebiet auf neu bekannt gewordenen (noch nicht allgemein bekannten) Wirkungen des 2015 bereits bekannten Wirkstoffs beruht. Unbeachtlich ist danach in diesem Zusammenhang auch, ob daher für Soolantra® Verschreibungspflicht besteht und für das Arzneimittel eine neue Zulassung mit einem neuen Unterlagenschutz erteilt worden ist. Hierauf stellt § 2 Abs 1 AMNutzenV für den Begriff des Arzneimittels mit neuen Wirkstoffen nicht explizit ab.
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Soweit sich ein Bezug zur mit dem zulassungsrechtlichen Unterlagenschutz (§ 24b AMG) nicht identischen arzneimittelrechtlichen Verschreibungspflicht (§ 48 AMG; AMVV; zu dieser Verschreibungspflicht als Bestandteil des Sicherheitsrechts Hofmann in Kügel/Müller/Hofmann, AMG, 3. Aufl 2022, § 48 RdNr 7 ff) der nichtamtlichen Verordnungsbegründung entnehmen lässt (S 12: "Neue Wirkstoffe im Sinne dieser Vorschrift sind Wirkstoffe, die erstmals als Arzneimittel zugelassen wurden und deren Wirkungen bei der erstmaligen Zulassung durch die zuständige Bundesoberbehörde oder der Genehmigung durch die Europäische Kommission in der medizinischen Wissenschaft nicht allgemein bekannt sind und die daher der Verschreibungspflicht unterliegen (§ 48 Absatz 1 Satz 1 Nr. 3 Arzneimittelgesetz AMG sowie die Verordnung EG 726/2004)."), hat dieser arzneimittelsicherheitsrechtliche Aspekt keinen Eingang in den Verordnungstext gefunden (vgl zur Bedeutung nichtamtlicher Verordnungsbegründungen BSG vom 9.8.2018 B 14 AS 1/18 R SozR 44200 § 12a Nr 2 RdNr 21 f), während der Bezug in der Verordnungsbegründung (S 12) auf den zulassungsrechtlichen Unterlagenschutz sich auf das erstmalig zugelassene Arzneimittel mit dem neuen Wirkstoff bezieht, was dem Verordnungstext entspricht.
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Anderes ergibt sich auch nicht aus den Gesetzesmaterialien. Soweit danach neue Wirkstoffe im Sinne des § 35a Abs 1 SGB V Wirkstoffe sind, deren Wirkung(en) bei der erstmaligen Zulassung durch die zuständige Bundesoberbehörde oder durch die Europäische Kommission der medizinischen Wissenschaft nicht allgemein bekannt sind (BT-Drucks 17/2413 S 20), entspricht dies vorliegend der Regelungswirkung des § 2 Abs 1 AM-NutzenV, nach der hier indes nach Ablauf des Unterlagenschutzes für Stromectol® bereits zuvor der Wirkstoff Ivermectin bei der erstmaligen Zulassung von Soolantra® durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte 2015 nicht mehr als neu galt. Soweit nach den Gesetzesmaterialien (BT-Drucks 17/2413 S 20) zudem an die arzneimittelrechtliche Verschreibungspflicht angeknüpft wird, hat diese Erwägung in den Gesetzesmaterialien Eingang weder in den Normtext des § 35a Abs 1 SGB V, der schon keine Bestimmung des Begriffs der neuen Wirkstoffe enthält, noch in die AMNutzenV gefunden, die allein auf den zulassungsrechtlichen Unterlagenschutz abstellt. Dieser findet wiederum in den AMNOG-Gesetzesmaterialien (BTDrucks 17/2413 und BTDrucks 17/3698) bezogen auf die Nutzenbewertung keine Erwähnung.
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9. Besteht der europarechtlich determinierte Unterlagenschutz für das erstmalig in zumindest einem Mitgliedstaat der Europäischen Union zugelassene Arzneimittel mit dem neuen Wirkstoff nicht mehr, ist die obligatorische Nutzenbewertung eines Arzneimittels mit diesem Wirkstoff ausgeschlossen.
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Ist ein zunächst nach Maßgabe von § 2 Abs 1 Satz 1 AM-NutzenV neuer Wirkstoff nach Maßgabe von § 2 Abs 1 Satz 2 AM-NutzenV nicht mehr neu, ist nach Ablauf des europarechtlich determinierten Unterlagenschutzes für das erstmalig mit dem Wirkstoff zugelassene Arzneimittel ein neu in Deutschland zugelassenes Arzneimittel mit diesem Wirkstoff ein Arzneimittel mit einem Wirkstoff, der kein neuer Wirkstoff im Sinne des § 35a Abs 1 Satz 1 SGB V, § 3 Nr 1, § 2 Abs 1 AM-NutzenV ist. Ein in diesem Sinne bekannter Wirkstoff kann nach Maßgabe dieser Regelungen nicht mehr wieder zu einem neuen Wirkstoff im Sinne der Vorschriften zur obligatorischen Nutzenbewertung werden, auch wenn neue Wirkungen des Wirkstoffs erkannt worden sind, die bei der erstmaligen Zulassung in der medizinischen Wissenschaft nicht allgemein bekannt gewesen sind. Eben die Unabhängigkeit des formalen Merkmals des zulassungsrechtlichen Unterlagenschutzes für das erstmalig zugelassene Arzneimittel mit dem Wirkstoff von den Entwicklungen der medizinischen Erkenntnisse zu Wirkungen von Wirkstoffen war ausweislich der nichtamtlichen Verordnungsbegründung erkennbar Anlass für den Verordnungsgeber, ermächtigungskonform in § 2 Abs 1 Satz 2 AM-NutzenV allein auf dieses Merkmal für die Begrenzung der Dauer der Neuheit eines Wirkstoffs nach § 2 Abs 1 Satz 1 AM-NutzenV abzustellen.
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10. Der Senat hat nicht zu entscheiden, ob eine obligatorische Nutzenbewertung beim erstmaligen Inverkehrbringen von Soolantra® mit dem Wirkstoff Ivermectin in Deutschland sachgerecht gewesen wäre, weil es fernliegend und systemwidrig gewesen wäre, wenn das den Unterlagenschutz vermittelnde erste Arzneimittel mit diesem Wirkstoff auch ein nicht in Deutschland, sondern in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union zugelassenes Arzneimittel sein könnte, dessen Anwendungsbereich zudem auf anderen Wirkungen des Wirkstoffs des Arzneimittels beruht haben könnte. Entscheidend ist vorliegend allein, dass für eine Nutzenbewertung nach § 35a Abs 1 Satz 1 SGB V zum Zeitpunkt des erstmaligen Inverkehrbringens von Soolantra® in Deutschland die zu diesem Zeitpunkt durch das Gesetz und die das Gesetz ermächtigungskonform konkretisierende AM-NutzenV bestimmten formalen rechtlichen Voraussetzungen nicht vorgelegen haben.
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11. Dagegen, diese Bestimmungen mit Blick auf die mit dem AMNOG verfolgten Ziele (vgl BT-Drucks 17/2413 S 15) weniger streng anders auszulegen und anzuwenden, sprechen die Grundrechtsrelevanz der obligatorischen Nutzenbewertung nach § 35a Abs 1 SGB V und der hieran anschließenden Erstattungsbetragsvereinbarung nach § 130b SGB V für die pharmazeutischen Unternehmer (vgl zu verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten bereits BSG vom 10.9.2020 B 3 KR 11/19 R SozR 42500 § 35a Nr 6 RdNr 28 ff; BSG vom 12.8.2021 B 3 KR 3/20 R BSGE 133, 1 = SozR 42500 § 130b Nr 5, RdNr 55 ff) sowie die verfassungsrechtlichen Vorgaben an Richtlinienbestimmungen des als Normgeber tätig werdenden Gemeinsamen Bundesausschusses (zum Richtliniencharakter der Nutzenbewertungsbeschlüsse § 35a Abs 3 Satz 6 SGB V; zur gesetzlichen Ermächtigung zum Beschluss der Arzneimittel-Richtlinie § 92 Abs 1 Satz 2 Nr 6 SGB V). Die verfassungsrechtliche Legitimation der Normsetzungsbefugnis des Gemeinsamen Bundesausschusses erfordert eine durch das Gesetz vorgegebene hinreichend dichte Anleitung (vgl dazu BVerfG vom 10.11.2015 1 BvR 2056/12 BVerfGE 140, 229 = SozR 4-2500 § 92 Nr 18, RdNr 22). Sind ausreichend bestimmte rechtliche Vorgaben festgelegt, sind diese einzuhalten; dem steht der dem Gemeinsamen Bundesausschuss zuzubilligende Gestaltungsspielraum als Normgeber nicht entgegen (vgl zuletzt zu verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten BSG vom 22.2.2023 B 3 KR 14/21 R BSGE 135, 266 = SozR 42500 § 35a Nr 8, RdNr 37).
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12. Unterlagenschutz für das 1999 in Frankreich erstmalig mit dem Wirkstoff Ivermectin zugelassene Arzneimittel Stromectol® bestand im Zeitpunkt der streitigen Nutzenbewertung 2015 nicht mehr. 2015 war Ivermectin kein neuer Wirkstoff mehr im Sinne der Vorschriften zu der obligatorischen Nutzenbewertung in Deutschland unterliegenden Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen, sodass der streitige Nutzenbewertungsbeschluss rechtswidrig und unwirksam ist.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 154 Abs 1, § 162 VwGO.