Die nachträgliche Berichtigung des Tenors eines verkündeten sozialgerichtlichen Urteils durch Beschluss des Vorsitzenden nach § 138 Satz 2 SGG ist jedenfalls dann generell unzulässig, wenn sich eine solche Unrichtigkeit ausschließlich aus den Entscheidungsgründen des schriftlichen Urteils ergibt.
Auf die Beschwerde der Beklagten wird der Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 20.09.2022 aufgehoben.
Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe:
I.
In der Hauptsache stritten die Beteiligten über die Rechtmäßigkeit des Aufhebungs- und Erstattungsbescheides der Beklagten vom 25.06.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.02.2019 bezüglich der der Klägerin ursprünglich vom 01.08.2014 bis zum 30.09.2017 bewilligten Rente wegen voller Erwerbsminderung und der daher ausgezahlten Beträge in Höhe von insgesamt 27.575,37 €.
Nach Ermittlungen des Sozialgerichts (SG) in dem hierzu von der Klägerin zu S 18 R 232/19 geführten Klageverfahren und hierbei insbesondere nach Einholung zweier Gutachten von Amts wegen von dem Neurologen und Psychiater U. und dem Orthopäden Y. forderte das SG die Prozessbevollmächtigten der Klägerin auf, binnen vier Wochen nach Zustellung dieser Gutachten zu erklären, ob sie die Klage mit Rücksicht auf den Inhalt der Gutachten zurücknähmen. Weitere Ermittlungen von Amts wegen seien nicht beabsichtigt (Verfügung vom 10.05.2022). Nachdem hierzu auch auf Erinnerung eine Stellungnahme ausblieb, lud das SG die Klage zur mündlichen Verhandlung für den 16.08.2022. Ausweislich der über diesen Termin gefertigten und von der Vorsitzenden unterschriebenen Niederschrift verkündete die Vorsitzende nach geheimer Beratung im Namen des Volkes das Urteil durch Verlesen der folgenden Urteilsformel:
„Die Klage wird abgewiesen.
Eine Kostenerstattung findet nicht statt.“
Anschließend ist protokolliert, dass die wesentlichen Urteilsgründe mitgeteilt wurden. Der verkündete Tenor entsprach dem von der Vorsitzenden als Beratungsergebnis im Aktendeckel handschriftlich niedergelegten Tenor.
Mit Schreiben vom 18.08.2022 übersandte die Vorsitzende den Beteiligten das Sitzungsprotokoll sowie die schriftlichen Urteilsgründe und fügte für die Beteiligten ein Anhörungsschreiben folgenden Wortlautes bei:
„Das Gericht beabsichtigt, den Tenor und die Kostengrundentscheidung des Urteils gemäß der getroffenen Entscheidung der Kammer, der im Verkündungstermin dargelegten wesentlichen Urteilsgründe und im Urteil entsprechend dargelegten Entscheidungsgründe, die den Tenor der Klageabweisung und die Kostenentscheidung nicht tragen, von Amts wegen nach § 138 Sozialgerichtsgesetz (SGG) abzuändern.
Vielmehr sind der Tenor sowie die Kostenentscheidung wie folgt zu berichtigen:
Der Bescheid vom 25.06.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.02.2019 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
Wie bei der Darstellung der wesentlichen Urteilsgründe mitgeteilt, hat die Kammer erhebliche Zweifel im Hinblick auf das Verhalten der Klägerin, sieht aber es nicht als nachgewiesen an, dass die subjektiven Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X bezüglich der Rentengewährung in der Zeit von 2014 bis 2017 vorlagen. Damit war für die Beteiligten bereits offenbar, dass der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid der Beklagten die erforderlichen Voraussetzungen nach § 45 SGB X zur erforderlichen Überzeugung der Kammer nicht erfüllt und somit aufzuheben war.“
Gelegenheit zur Stellungnahme wurde bis zum 08.09.2022 gegeben.
Die schriftlichen Urteilsgründe enthielten den verkündeten Urteilstenor und in den Entscheidungsgründen Darlegungen dazu, warum die zulässige Klage begründet sei. Der Aufhebungsbescheid sei danach ebenso rechtswidrig wie die darauf basierende Erstattungsverfügung. Aufhebungs- und Erstattungsbescheid seien daher aufzuheben gewesen.
Mit Beschluss der Vorsitzenden vom 20.09.2022 wurde das Urteil vom 16.08.2022 unter Berufung auf § 138 SGG wegen offenbarer Unrichtigkeit berichtigt. Der Tenor wurde wie folgt gefasst:
„Der Bescheid vom 25.06.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.02.2019 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.“
Zur Begründung wurde ausgeführt, die Urteilsformel sei in all ihren Teilen der Berichtigung zugänglich. Stimme die Urteilsformel nicht mit dem Ergebnis der Beratung überein, könne der Tenor sogar bis in sein Gegenteil verkehrt werden. Bei der Darstellung der wesentlichen Urteilsgründe in der öffentlichen Sitzung am 16.08.2022 sei mitgeteilt worden, dass die Kammer es nicht als nachgewiesen ansehe, dass die subjektiven Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X bezüglich der Rentengewährung von 2014 bis 2017 vorgelegen hätten. Daher sei für die Beteiligten bereits offenbar und auf der Hand liegend gewesen, dass der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid der Beklagten die Voraussetzungen nach § 45 SGB X nicht erfülle. Dies habe auch dem Ergebnis der Beratung der Kammer entsprochen, welches sich aus den Entscheidungsgründen ergebe. Auch der im Akteninnendeckel niedergelegte Tenor entspreche nicht dem Ergebnis der Kammerberatung.
Gegen das sozialgerichtliche Urteil legte die anwaltlich vertretene Klägerin am 23.09.2022 zu L 14 R 763/22 vorsorglich Berufung ein. Sofern ein Berichtigungsbeschluss bezüglich des verkündeten Urteils ergehe, werde die Berufung zurückgenommen werden.
Mit Schreiben vom 21.02.2024 bat der Berichterstatter das SG um Mitteilung, ob ihm eine Beschwerde gegen den Berichtigungsbeschluss vom 20.09.2022 zugegangen sei. Im Senat sei – was zu diesem Zeitpunkt zutraf - ein Beschwerdeschreiben der Beklagten nicht bekannt. Mit Schriftsatz vom selben Tag nahm die Prozessbevollmächtigte der Klägerin die Berufung zurück, weil dort ein Rechtsmittel gegen den Berichtigungsbeschluss nicht bekannt sei.
Mit Schriftsatz vom 25.03.2024 hat die Beklagte dem Senat eine Kopie ihrer mit Schriftsatz vom 27.09.2022 beim SG eingelegten Beschwerde gegen den ihr am 26.09.2022 zugestellten Berichtigungsbeschluss vom 20.09.2022 übersandt. In ihrer Beschwerdeschrift trägt die Beklagte vor, die Voraussetzungen für eine Urteilsberichtigung seien nicht erfüllt. Das Urteil sei durch Verlesen der Urteilsformel verkündet worden. Ausgeschlossen sei eine Berücksichtigung erst nachträglich abgefasster Urteilsgründe, wenn sich für die Beteiligten und andere Außenstehende nicht erkennen lasse, ob eine falsche Urteilsformel dem wirklichen Willen des gerichtlichen Spruchkörpers im maßgeblichen Zeitpunkt der Beratung angepasst worden sei oder ob das Gericht seinen bei der Verkündung nicht richtig ausgedrückten Willen wegen anschließender Bedenken noch einmal geändert habe.
Die Beklagte und Beschwerdeführerin beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
den Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 20.09.2022 aufzuheben.
Die Klägerin beantragt,
die Beschwerde der Deutschen Rentenversicherung als unbegründet zurückzuweisen.
Sie meint, die Voraussetzungen für eine Berichtigung des Tenors nach § 138 SGG lägen vor. Diese Vorschrift ermögliche, einen mangelhaften Ausdruck des Willens zu korrigieren. Die Entscheidungsformel könne dann sogar bis ins Gegenteil korrigiert werden. Ein solcher Mangel im Ausdruck des Willens des SG liege vor. Bereits nach der mündlichen Urteilsverkündung sei deutlich geworden, dass der verkündete Tenor mit der Begründung nicht übereinstimme, was auch der damaligen Beklagten bewusst gewesen sein müsse. So habe sich die Vorsitzende nach der Verkündung der mündlichen Urteilsformel an die damalige Beklagte gewandt und mitgeteilt, dass es der Beklagten offenstehe, Rechtsmittel gegen das Urteil einzulegen, was bei einem Obsiegen der damaligen Beklagten obsolet gewesen wäre.
Die Beklagte hält daran fest, es sei nicht nachgewiesen, dass die am 16.08.2022 von der Kammer gewollte Entscheidung nicht mit dem übereinstimme, was tatsächlich ausgesprochen wurde bzw. dass das Urteil nicht mit dem Ergebnis der Beratung übereinstimme. Für die zuständige Sitzungsvertreterin sei aus der knappen mündlichen Urteilsbegründung auch nicht offenbar ersichtlich gewesen, dass diese im Widerspruch zu der ausgesprochenen Urteilsformel gestanden habe.
Auf Nachfrage des Vorsitzenden hat die Beklagte alsdann durch Vorlage der Eingangsbestätigung des Empfangsbekenntnisses den Eingang ihrer Beschwerde beim Sozialgericht Gelsenkirchen am 11.10.2022 nachgewiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der über das Beschwerdeverfahren geführten Prozessakte, der beigezogenen zu L 14 R 763/22 geführten Prozessakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Diese haben vorgelegen und sind Gegenstand der Beschlussfassung des Senats gewesen.
II.
Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht beim SG eingelegte Beschwerde (§ 173 Satz 1 SGG) ist begründet.
Zu Unrecht hat das SG mit dem angefochtenen Beschluss den Tenor seines am 16.08.2022 aufgrund mündlicher Verhandlung verkündeten Urteils im Wege der Berichtigung geändert, indem es ihn in sein Gegenteil verkehrt hat.
Denn die hierfür erforderlichen Voraussetzungen nach § 138 SGG liegen nicht vor. Nach dessen Satz 1 sind Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten im Urteil jederzeit von Amts wegen zu berichtigen, worüber der Vorsitzende – wie hier auch geschehen – gemäß § 138 Satz 2 SGG durch Beschluss entscheidet. Bei der Berichtigung handelt es sich formal um eine Durchbrechung der Bindung des Gerichts (vgl. § 202 SGG i.V.m. § 318 Zivilprozessordnung/ZPO), woraus deutlich wird, dass äußerst sorgfältig zu prüfen ist, ob es sich tatsächlich um ein offensichtliches Versehen handelt, um auszuschließen, dass der Vorsitzende alleine eine durch das gesamte Gericht gefällte Entscheidung abändert (Schütz in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Auflage 2022, Stand: 15.06.2022, Rn. 6 zu § 138 SGG). Gerade bei der Berichtigung des Tenors ist deshalb äußerste Zurückhaltung geboten (Wolf-Dellen in Fichte/Jüttner, SGG, 3. neubearbeitete und erweiterte Auflage 2020, Rn. 9 zu § 138 SGG). Zwar kann, wenn als Ergebnis dieser Prüfung die Voraussetzungen für eine Berichtigung vorliegen, auch eine Urteilsformel bis ins Gegenteil korrigiert werden (Bundesarbeitsgericht (BAG), Beschluss vom 29.08.2001, 5 AZB 32/00, Rn. 15 m.w.N. – juris), weshalb eine Urteilsberichtigung, wie sie das SG hier vorgenommen hat, nicht von vornherein ausgeschlossen ist. Unabdingbare Voraussetzung einer zulässigen Berichtigung ist jedoch, dass die Unrichtigkeit für alle Verfahrensbeteiligten offenkundig ist (Bundesgerichtshof (BGH), Urteil vom 14.11.1990, 3 StR 310/90, Rn. 6 – juris).
Die Unrichtigkeit der tatsächlich verkündeten gegenteiligen Urteilsformel war jedoch gerade nicht für alle Verfahrensbeteiligten offenkundig. Zweifel hieran ergeben sich bereits daraus, dass das SG nach Eingang der Sachverständigengutachten bei ausdrücklichem Hinweis auf den Abschluss der Ermittlungen von Amts wegen beim Klägerbevollmächtigten gerade eine Klagerücknahme angefragt hat, ohne zumindest später – aktenkundig – mit einem anderen Ansinnen an die Klägerseite heranzutreten. Überdies hat auch die Beklagte im Rahmen ihrer Beschwerdebegründung erklärt, dass sie aufgrund der – knappen – mündlichen Urteilsbegründung eine Unrichtigkeit des verkündeten Tenors nicht habe erkennen können.
Da überdies das im Aktendeckel von der Vorsitzenden handschriftlich festgehaltene Beratungsergebnis „Die Klage wird abgewiesen. Eine Kostenerstattung findet nicht statt.“ mit dem verkündeten Urteil übereinstimmt, kommen für die Beteiligten nur die späteren Entscheidungsgründe als Nachweis für die Unrichtigkeit der Urteilsformel in Betracht. Es bestehen jedoch grundsätzliche Bedenken dagegen, zum Beleg der Unrichtigkeit der Urteilsformel allein auf erst nach Verkündung dieser Formel niedergeschriebene Entscheidungsgründe zurückzugreifen. Ausgeschlossen ist dies jedenfalls dann, wenn sich selbst auf diese Weise für die Beteiligten und andere Außenstehende nicht erkennen lässt, ob eine falsche Urteilsformel dem wirklichen Willen des gerichtlichen Spruchkörpers angepasst wurde oder ob das Gericht seinen bei der Verkündung richtig ausgedrückten Willen wegen anschließender Bedenken noch einmal geändert hat (so auch BAG, a.a.O., Rn. 17 m.w.N.).
So aber liegt der Fall hier, weshalb eine Urteilsberichtigung ausgeschlossen ist. Auch aus dem Gesamtzusammenhang des schriftlichen Urteils lässt sich nicht erkennen, dass der wirkliche Wille der Kammer ein anderer war als der aus dem verkündeten Tenor zu entnehmende. Vielmehr geben die Entscheidungsgründe lediglich eine inhaltlich andere Entscheidung als die verkündete wieder. Hingegen wird durch keinerlei Anhaltspunkt – etwa in den Entscheidungsgründen – nach außen erkennbar, auf welchem Versehen die Unrichtigkeit der Urteilsformel beruhen soll. Zwar ist der Widerspruch der Entscheidungsgründe zur Urteilsformel offensichtlich, aber niemand außer der die schriftlichen Urteilsgründe allein abfassenden Vorsitzenden kann ersehen, ob schon bei der Urteilsverkündung ein Widerspruch von Erklärtem und Gewolltem vorlag. Zumindest in Fällen wie diesen ist eine Berichtigung der verkündeten Urteilsformel von § 138 SGG nicht gedeckt, zumal der Berichtigungsbeschluss – ebenso wie die schriftlichen Urteilsgründe – allein von der Vorsitzenden verfasst und unterzeichnet wurde.
Darüber hinaus ist der Senat der Auffassung, dass eine Berichtigung auch bei verkündeten Urteilen zumindest des Sozialgerichts generell unzulässig ist, wenn sich die Unrichtigkeit ausschließlich aus den Entscheidungsgründen ergibt. Hintergrund ist, dass die Entscheidungsgründe erst nach der Verkündung abgefasst werden. Es bestünde daher die Gefahr, dass sich das Gericht nachträglich von seiner Entscheidung distanziert oder etwas hinzufügt, was nicht Gegenstand der Beratung gewesen ist. Dies ist gerade in Verfahren mit ehrenamtlichen Richtern äußerst problematisch. Schließlich werden die Entscheidungsgründe von diesen nicht unterzeichnet und in den Tatsacheninstanzen noch nicht einmal zur Kenntnis genommen. Gerade in den Kammern der Sozialgerichte, wo das Besetzungsverhältnis dazu führt, dass die ehrenamtlichen Richter den nachträglich das Urteil abfassenden Berufsrichter überstimmen können, erscheint es nicht sachgerecht, eine Unrichtigkeit des Tenors als berichtigungsfähig anzusehen, wenn sich die Unrichtigkeit ausschließlich aus einem Widerspruch mit den schriftlichen Entscheidungsgründen ergibt. Denn in diesem Falls bestünde die Gefahr, dass im Nachhinein durch die Urteilsabfassung die Entscheidung des Gerichts verändert wird (Schütz in jurisPK-SGG, a.a.O., Rn. 18 zu § 138 SGG m.w.N.)
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar (§ 177 SGG).