S 15 AL 2084/24 ER

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Freiburg (BWB)
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
15
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 15 AL 2084/24 ER
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

Eine nach der Bewilligungsentscheidung erfolgte Meinungsänderung der Arbeitsagentur hinsichtlich der Beurteilung der Leistungsfähigkeit des Arbeitslosen bewirkt grundsätzlich keine wesentliche Änderung in den tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X.

 

Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Widerspruchsbescheid vom 30.07.2024 wird angeordnet.

 

Die Antragsgegnerin hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin dem Grunde nach zu erstatten.

 

 

 

 

 

Gründe

 

I.

 

Die Antragstellerin begehrt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen die Entscheidung über die Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch (SGB III).

 

Die 2001 geborene Antragstellerin war zuletzt bis zum 15.12.2022 als Kinderbetreuerin tätig und wurde am 29.04.2024 aus dem Krankengeldbezug nach Erschöpfung des 78-wöchigen Leistungsanspruchs ausgesteuert. Nachdem sie sich am 23.04.2024 mit Wirkung zum 30.04.2024 bei der Antragsgegnerin arbeitslos gemeldet und einen Anspruch auf Arbeitslosengeld gestellt hatte, holte die Antragsgegnerin eine sozialmedizinische gutachtliche Stellungnahme ein. Im Rahmen der Stellungnahme vom 28.05.2024 (Bl. 25 der Verwaltungsakte) wurde eine vollschichtige Leistungsfähigkeit der Antragstellerin festgestellt. Daraufhin bewilligte die Antragsgegnerin der Antragstellerin mit Bescheid vom 21.06.2024 Arbeitslosengeld ab dem 30.04.2024 mit einer Anspruchsdauer von 300 Kalendertagen und einem Leistungsbetrag in Höhe von täglich 7,27 Euro.

 

Nachdem eine weitere gutachtliche Stellungnahme vom 24.06.2024 (Bl. 43 der Verwaltungsakte) ergab, dass die Antragstellerin voraussichtlich bis zu sechs Monaten täglich weniger als drei Stunden leistungsfähig ist, hob die Antragsgegnerin ohne vorherige Anhörung die Bewilligung von Arbeitslosengeld mit Bescheid vom 25.06.2024 ab dem 01.07.2024 auf und gab zur Begründung an, die Antragstellerin stehe der Arbeitsvermittlung aus gesundheitlichen Gründen bis zu sechs Monaten nicht zur Verfügung. Den hiergegen mit Schreiben vom 17.07.2024 erhobenen Widerspruch der Antragstellerin wies die Antragsgegnerin mit Widerspruchsbescheid vom 30.07.2024 als unbegründet zurück.

 

Mit Schreiben vom 31.07.2024 hat die Antragstellerin Klage zum Sozialgericht Freiburg erhoben (S 15 AL 2085/24) und mit weiterem Schreiben vom 02.08.2024 die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes beantragt (S 15 AL 2084/24 ER).

 

Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,

 

die aufschiebende Wirkung ihrer Klage vom 31.07.2024 gegen den Widerspruchsbescheid vom 30.07.2024 anzuordnen.

 

Die Antragsgegnerin beantragt,

 

         den Antrag abzulehnen.

 

 

 

II.

 

Der zulässige Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ist begründet.

 

Der einstweilige Rechtsschutz richtet sich im vorliegenden Fall nach § 86b Abs. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Danach ist der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung statthaft, wenn Widerspruch oder Anfechtungsklage entgegen der Grundregel des § 86a Abs. 1 SGG nicht schon kraft Gesetzes wegen aufschiebende Wirkung haben. Die aufschiebende Wirkung entfällt u.a. gem. § 86a Abs. 2 Nr. 2 SGG in Angelegenheiten der Bundesagentur für Arbeit bei Verwaltungsakten, die eine laufende Leistung entziehen oder herabsetzen. Laufend ist dabei eine wiederkehrende (nicht einmalige) Leistung aufgrund einer einmaligen, grundsätzlich zukunftsgerichteten Bewilligung (Richter, in: jurisPK-SGG, 2. Aufl. 2022, § 86a Rn. 37 m.w.N.). Die mit Bescheid vom 21.06.2024 bewilligte Leistung fällt damit unter § 86a Abs. 2 Nr. 2 SGG, so dass Widerspruch und Klage gegen die Aufhebungsentscheidung vom 25.06.2024 bzw. den Widerspruchsbescheid vom 30.07.2024 keine aufschiebende Wirkung entfalten.

 

Nach § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Das Gericht nimmt eine eigenständige Abwägung der Beteiligungsinteressen vor. Es wägt das öffentliche Interesse am sofortigen Vollzug und das private Aufschubinteresse ab. Dabei sind die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache zu berücksichtigen. Denn im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes sollen keine Positionen eingeräumt werden, die im Hauptsacheverfahren erkennbar nicht standhalten. Bei offensichtlicher Rechtswidrigkeit des Bescheides ist die aufschiebende Wirkung anzuordnen, bei offensichtlicher Aussichtslosigkeit des Rechtsbehelfs die Anordnung hingegen abzulehnen. Bei der Anordnung der aufschiebenden Wirkung in den Fällen des § 86a Abs. 2 Nr. 1 bis 4 SGG, in denen wie hier der Rechtsbehelf von Gesetzes wegen keine aufschiebende Wirkung hat, ist diese Entscheidung des Gesetzgebers, den abstrakten öffentlichen Interessen den Vorrang einzuräumen, zu beachten. In analoger Anwendung des § 86a Abs. 3 S. 2 SGSG sind Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs nur zu berücksichtigen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes bestehen, wenn also ein Obsiegen des Antragstellers in der Hauptsache wahrscheinlicher ist als ein Unterliegen (vgl. zu alledem LSG Baden-Württemberg, Beschl. v. 01.08.2024 - L 4 KR 2228/24 ER-B, Rn. 5).

 

Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben war die aufschiebende Wirkung der mit Schriftsatz vom 31.07.2024 erhobenen Klage der Antragstellerin gegen den Widerspruchsbescheid vom 30.07.2024 anzuordnen. Nach der im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes allein gebotenen summarischen Prüfung ist ein Erfolg des Rechtsbehelfs in der Hauptsache derzeit wahrscheinlicher als seine Erfolglosigkeit. Es bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Aufhebungsbescheides vom 24.06.2024 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.07.2024.

 

Die in der Hauptsache angegriffene Aufhebungsentscheidung erweist sich zwar nicht als formell rechtswidrig, obwohl vor Erlass des Bescheides vom 24.06.2024 die nach § 24 Abs. 1 S. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) erforderliche Anhörung nicht vorgenommen wurde. Denn nach § 41 Abs. 1 Nr. 3 SGB X ist eine Verletzung von Verfahrens- oder Formvorschriften, die nicht den Verwaltungsakt nach § 40 nichtig macht, unbeachtlich, wenn die erforderliche Anhörung eines Beteiligten nachgeholt wird. Hier hatte die Antragstellerin sowohl im Widerspruchsverfahren als auch im gerichtlichen Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ausreichend Gelegenheit, zur Sach- und Rechtslage vorzutragen, so dass der Anhörungsmangel als geheilt gilt.

 

Die Aufhebungsentscheidung ist nach derzeitiger Sach- und Rechtslage jedoch materiell-rechtlich zu beanstanden. Nach § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung (nur dann) mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt.

 

Es kann dabei offen bleiben, ob und in welchem Umfang die Antragstellerin tatsächlich leistungsfähig ist und ob - wie von ihr geltend gemacht - ein Anspruch auf Zahlung von Arbeitslosengeld nach § 145 SGB III besteht. Denn es fehlt bereits am Eintritt einer wesentlichen Änderung in den zum Zeitpunkt des Erlasses der Bewilligungsentscheidung vorliegenden tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen i.S.d. § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X.

 

Vor Erlass des Bewilligungsbescheides vom 21.06.2024 war von der Antragsgegnerin eine Prognoseentscheidung unter anderem dahingehend zu treffen, ob und in welchem Umfang die Leistungsfähigkeit der Antragstellerin voraussichtlich mehr als sechs Monate gemindert sein würde. Anlass hierzu bestand insbesondere deshalb, weil die Antragstellerin im Rahmen der Antragstellung auf ihre gesundheitlichen Einschränkungen und die erfolgte Aussteuerung aus dem Krankengeldbezug hingewiesen hatte. Die Prognoseentscheidung ist hier vor Erlass des bewilligenden Bescheides vom 21.06.2024 getroffen wurden in dem Sinne, dass die Antragsgegnerin unter Zugrundelegung der ersten sozialmedizinischen Stellungnahme vom 28.05.2024 entschieden hat, dass die Leistungsfähigkeit der Antragstellerin nicht gemindert sein werde.

 

Vorliegend hat die Antragsgegnerin dann nach Erlass des Bewilligungsbescheides eine erneute Beurteilung der Leistungsfähigkeit der Antragstellerin vorgenommen und damit eine zweite Prognoseentscheidung - diesmal mit einem anderen, auf die zweite sozialmedizinische Stellungnahme vom 24.06.2024 gestützten Ergebnis - getroffen. Damit hat die Antragsgegnerin lediglich ihre Meinung innerhalb weniger Wochen geändert. Eine nachträgliche Meinungsänderung stellt aber keine wesentliche Änderung i.S.d. § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X dar und berechtigt damit nicht zur Aufhebung des Bewilligungsbescheides (LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 14.03.2008 - L 8 AL 1601/07, Rn. 24; LSG Bayern, Urt. v. 21.06.2018 - L 9 AL 27/16, Rn. 74; Aubel, in: jurisPK-SGB III, 3. Aufl. 2023, § 145 Rn. 25).

 

Etwas anderes gilt nur, wenn eine Änderung der gesundheitlichen Einschränkungen der Antragstellerin vorgelegen hätte. Dass zwischen dem Zeitpunkt der Bewilligungsentscheidung am 21.06.2024 und dem Zeitpunkt der Aufhebungsentscheidung am 25.06.2024 eine Änderung der gesundheitlichen Einschränkungen der Antragstellerin eingetreten sein soll, ist jedoch nicht erkennbar und wird von der Antragsgegnerin soweit ersichtlich auch nicht ernsthaft behauptet. Folgerichtig regeln die Fachlichen Weisungen der Antragsgegnerin zu § 145 SGB III (Stand 03/2022) unter Ziffer 145.4.2.5 in diesem Zusammenhang, dass endgültige Bewilligungen nicht (auch nicht für die Zukunft) aufgehoben werden können, wenn die ärztliche Begutachtung ergibt, dass eine Leistungsminderung von bis zu sechs Monaten vorliegt und keine Änderung in den gesundheitlichen Verhältnissen eingetreten ist (LSG Bayern, Urt. v. 21.06.2018 - L 9 AL 27/16, Rn. 75).

 

Auf die Frage, ob die Angelegenheit tatsächlich eilbedürftig ist, kommt es hiernach nicht entscheidungserheblich an (LSG Sachsen, Beschl. v. 12.11.2010 - L 7 AS 593/10 B ER, Rn. 18; Burkiczak, in: jurisPK-SGG, 2. Aufl. 2022, § 86b Rn. 195).

 

Mit der ausgesprochenen Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs lebt der ursprüngliche Bewilligungsbescheid vom 21.06.2024 wieder auf mit der Folge, dass der Antragstellerin rückwirkend ab dem 01.07.2024 Arbeitslosengeld zu zahlen ist.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Rechtskraft
Aus
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