L 9 AL 5/23

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 57 AL 91/18
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 9 AL 5/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

 

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 28.05.2019 wird zurückgewiesen.

 

Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 

Die Revision wird zugelassen.

 

 

Tatbestand

 

Der Kläger begehrt höheres Arbeitslosengeld vom 01.03.2018 bis 31.12.2018.

 

Der 0000 geborene Kläger ist schwerbehindert mit einem GdB von 50. Er war zuletzt als Regionaldirektor Mitarbeiter der I.. Am 31.01.2012 schloss er mit dem Arbeitgeber einen Altersteilzeitvertrag im Blockmodell ab, der eine Arbeitsphase vom 01.03.2012 bis 28.02.2015 und eine Freistellungsphase vom 01.03.2015 bis 28.02.2018 vorsah. Der Kläger wurde aus gesundheitlichen Gründen ab dem 01.07.2012 unter Fortzahlung seiner Bezüge von der Arbeit freigestellt. Er erhielt das Gehalt, das er bei regulärer Durchführung des Altersteilzeitvertrages erhalten hätte inklusive der bei der Altersteilzeit vorgesehenen Zuschläge.

 

Der Kläger meldete sich am 04.12.2017 bei der Beklagten mit Wirkung zum 01.03.2018 arbeitslos und beantragte Arbeitslosengeld. Zu Beginn des Jahres 2018 war für ihn die Lohnsteuerklasse 1 eingetragen. Ein Kind iSd § 149 Nr. 1 SGB III hatte der Kläger nicht. Nach der Arbeitsbescheinigung des Arbeitgebers betrug das tatsächliche Entgelt von März 2017 bis Februar 2018 insgesamt 42.061,50 €. Ohne die Reduzierung der Arbeitszeit hätte der Kläger im gleichen Zeitraum 76.380 € verdient. Der Kläger konnte Altersrente für schwerbehinderte Menschen mit Abschlägen von 10,8% ab dem 01.02.2018 und ohne Abschläge ab dem 01.02.2021 beanspruchen. Die Regelaltersgrenze erreichte er am 01.02.2023.

 

Die Beklagte bewilligte dem Kläger mit Bescheid vom 28.12.2017 Arbeitslosengeld vom 01.03.2018 bis 29.02.2020 (720 Kalendertage) iHv täglich 43,07 €. Dem Betrag liegt ein Bemessungsentgelt von täglich 115,24 € (1/365 von 42.061,50 €) zugrunde.

 

Der Kläger legte gegen Bescheid am 04.01.2018 Widerspruch ein. Er habe Anspruch auf höheres Arbeitslosengeld auf der Grundlage eines fiktiven Arbeitsentgelts von 76.380 €. Zwar habe er aufgrund seiner Schwerbehinderung bereits zum 01.03.2018 eine Altersrente beziehen können. Dies sei jedoch mit erheblichen Abschlägen von 10,5% verbunden, die ihm nicht zumutbar seien.

 

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 23.01.2018 zurück. Zwar erhöhe sich nach § 10 Abs. 1 Satz 1 AltTZG das Bemessungsentgelt, das sich nach den Vorschriften des SGB III ergebe, bis zu dem Betrag, der als Bemessungsentgelt zugrunde zu legen wäre, wenn der Arbeitnehmer seine Arbeitszeit nicht im Rahmen der Altersteilzeit vermindert hätte. Das gelte jedoch gem. § 10 Abs. 1 Satz 2 AltTZG nicht, sobald der Arbeitnehmer eine Rente wegen Alters in Anspruch nehmen könne. Das sei bei dem Kläger ab dem 01.03.2018 der Fall. Dabei handele es sich nicht um eine Diskriminierung aufgrund der Behinderung des Klägers, denn nach dem AltTZG sei eigentlich vorgesehen, dass Arbeitnehmer nach dem planmäßigen Ende des Altersteilzeitverhältnisses nahtlos in die Altersrente übergehen und somit gar kein Arbeitslosengeld in Anspruch nehmen müssen.

 

Der Kläger hat am 31.01.2018 Klage erhoben. Er habe Anspruch auf Arbeitslosengeld auf der Grundlage eines täglichen Bemessungsentgelts iHv 209,26 €. Es sei gem. § 10 Abs. 1 AltTZG das fiktive Arbeitsentgelt iHv 76.380 € zugrunde zu legen, das er erzielt hätte, wenn er seine Arbeitszeit nicht durch den Altersteilzeitvertrag reduziert hätte. Die Rückausnahme in § 10 Abs. 1 Satz 2 AltTZG sei nicht anwendbar. Die Altersrente wegen Schwerbehinderung ab dem 01.03.2018 könne er nur mit erheblichen Abschlägen beanspruchen. Wenn man ihn darauf verweisen wolle, würde er wegen seiner Behinderung diskriminiert.

 

Der Kläger hat beantragt,

 

den Bescheid vom 28.12.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.01.2018 teilweise aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm höhere Arbeitslosengeld nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

 

Die Beklagte hat beantragt,

 

die Klage abzuweisen.

 

Die Beklagte hat die angefochtenen Bescheide für rechtmäßig gehalten.

 

Mit Bescheid vom 18.04.2018 hat die Beklagte die Bewilligung des Arbeitslosengeldes wegen der Anrechnung von Nebeneinkommen auf den täglichen Leistungsbetrag iHv 33,57 € geändert. Mit Bescheid vom 25.04.2018 hat die Beklagte die Anrechnung wieder aufgehoben und wieder täglich 43,07 € bewilligt.

 

Seit dem 01.01.2019 bezieht der Kläger Altersrente für schwerbehinderte Menschen, weshalb die Beklagte mit Bescheid vom 05.01.2019 die Bewilligung des Arbeitslosengeldes aufgehoben hat.

 

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Sozialgerichts ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil ohne mündliche Verhandlung vom 28.05.2019, dem Kläger zugestellt am 05.06.2019, abgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf höheres Arbeitslosengeld. Der Bemessung sei das tatsächlich erzielte Arbeitsentgelt zugrunde zu legen. Die Regelung in § 10 Abs. 1 AltTZG gelange nicht zur Anwendung, da der Kläger ab dem 01.02.2018 Altersrente für schwerbehinderte Menschen in Anspruch nehmen könne. Darauf sei er trotz der Abschläge zu verweisen. Eine Diskriminierung aufgrund seiner Behinderung sei damit nicht verbunden. Die Regelung gelte für alle Altersrenten, nicht nur für solche aufgrund einer Schwerbehinderung, so dass nicht an eine bestehende Behinderung angeknüpft werde. Darüber hinaus habe der Kläger die Möglichkeit gehabt, seine Altersteilzeitvereinbarung mit einem anderen Inhalt, insbesondere mit einem anderen Beendigungszeitpunkt abzuschließen.

 

Der Kläger hat am 28.06.2019 Berufung eingelegt. Er habe Anspruch auf höheres Arbeitslosengeld auf der Grundlage einer fiktiven Berechnung. Zugrunde zu legen sei das Arbeitseinkommen, das er erzielt hätte, wenn er den Altersteilzeitvertrag nicht abgeschlossen hätte. § 10 Abs. 1 Satz 2 AltTZG stehe dem nicht entgegen. Die Vorschrift sei so auszulegen, dass Renten für schwerbehinderte Menschen davon nicht erfasst würden.

 

Der Kläger beantragt,

           

das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 28.05.2019 zu ändern, den Bescheid vom 28.12.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.01.2018 teilweise aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm höhere Arbeitslosengeld nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

 

Die Beklagte beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Sie hält das Urteil des Sozialgerichts für zutreffend.

 

Die Beklagte hat auf Anforderung durch den Senat ein über den Kläger am 05.02.2018 erstelltes sozialmedizinisches Gutachten vorgelegt. Auf Nachfrage durch den Senat hat der Kläger den vollständigen Altersteilzeitvertrag vorgelegt und durch Vorlage der entsprechenden Verdienstmitteilungen belegt, dass er trotz der Freistellung von der Arbeit die bei der Altersteilzeit vorgesehen Zuschläge (§ 3 Abs. 1 AltTZG) erhalten hat.

 

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen sind.

 

 

Entscheidungsgründe

 

Die Berufung ist gemäß §§ 143, 144 SGG statthaft und auch sonst zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben worden (§§ 151 Abs. 1, 64 Abs. 2 SGG). Die Berufungssumme des § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG wird erreicht. Der Kläger begehrt Arbeitslosengeld auf der Grundlage eines täglichen Bemessungsentgelts iHv 209,26. Daraus errechnet sich ein Leistungsbetrag iHv ca. 69 € täglich. Bewilligt wurden 43,09 € täglich, so dass bei einem streitigen Zeitraum von 300 Leistungstagen (März 2018 bis Dezember 2018) ca. 7.800 € im Streit stehen.

 

Die Berufung ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat die Klage gegen den Bescheid vom 28.12.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.01.2018 zurecht abgewiesen. Der Bescheid ist nicht rechtswidrig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf höheres Arbeitslosengeld.

 

Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 28.12.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.01.2018, mit dem die Beklagte dem Kläger Arbeitslosengeld für den Zeitraum 01.03.2018 bis 29.02.2020 iHv täglich 43,07 € bewilligt. Gegenstand des Verfahrens ist außerdem der Bescheid vom 25.04.2018, der den Änderungsbescheid vom 18.04.2018, der gem. § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden ist, wieder aufhebt. In zeitlicher Hinsicht ist der Streitgegenstand auf die Monate März 2018 bis Dezember 2018 beschränkt. Der Kläger macht den Anspruch zutreffend mit der Anfechtungs- und Leistungsklage geltend (§ 54 Abs. 4 SGG).

 

Der Kläger erfüllt die Voraussetzungen für den Anspruch auf Arbeitslosengeld gem. §§ 136, 137 Abs. 1 SGB III. Er hatte das für die Regelaltersrente iSd SGB VI erforderliche Lebensalter noch nicht erreicht (§ 136 Abs. 2 SGB III), war arbeitslos (§ 138 SGB III), hatte sich bei der Agentur für Arbeit arbeitslos gemeldet (§ 141 SGB III) und die Anwartschaftszeit (§ 142 SGB III) erfüllt.

 

Nach § 149 Nr. 2 SGB III beträgt das Arbeitslosengeld nach dem im Fall des Klägers einschlägigen allgemeinen Leistungssatz 60 Prozent des pauschalierten Nettoentgelts (Leistungsentgelt), das sich aus dem Bruttoentgelt ergibt, das die oder der Arbeitslose im Bemessungszeitraum erzielt hat (Bemessungsentgelt). Der Bemessungszeitraum umfasst nach § 150 Abs. 1 SGB III die beim Ausscheiden aus dem jeweiligen Beschäftigungsverhältnis abgerechneten Entgeltabrechnungszeiträume der versicherungspflichtigen Beschäftigungen im Bemessungsrahmen. Der Bemessungsrahmen umfasst ein Jahr; er endet mit dem letzten Tag des letzten Versicherungspflichtverhältnisses vor der Entstehung des Anspruchs. Das Bemessungsentgelt ist nach § 151 Abs. 1 Satz 1 SGB III das durchschnittlich auf den Tag entfallende beitragspflichtige Arbeitsentgelt, das die oder der Arbeitslose im Bemessungszeitraum erzielt hat.

 

Der Bemessungsrahmen reicht vom 01.03.2017 bis zum 28.02.2018. An diesem Tag endete das Beschäftigungsverhältnis und das Entgelt war bis zu diesem Zeitpunkt abgerechnet.

 

Der Bemessungszeitraum umfasst gem. § 150 Abs. 1 Satz 1 SGB III die beim Ausscheiden aus dem jeweiligen Beschäftigungsverhältnis abgerechneten Entgeltabrechnungszeiträume der versicherungspflichtigen Beschäftigungen im Bemessungsrahmen. Der Kläger hat im Bemessungszeitraum beitragspflichtiges Arbeitsentgelt von 42.061,50 € erzielt. Die Ermittlung des Bemessungszeitraums richtet sich nicht nach § 150 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 SGB III. Nach dieser Vorschrift bleiben bei der Ermittlung des Bemessungszeitraums Zeiten außer Betracht, in denen die durchschnittliche regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit auf Grund einer Teilzeitvereinbarung nicht nur vorübergehend auf weniger als 80 Prozent der durchschnittlichen regelmäßigen Arbeitszeit einer vergleichbaren Vollzeitbeschäftigung, mindestens um fünf Stunden wöchentlich, vermindert war, wenn die oder der Arbeitslose Beschäftigungen mit einer höheren Arbeitszeit innerhalb der letzten dreieinhalb Jahre vor der Entstehung des Anspruchs während eines sechs Monate umfassenden zusammenhängenden Zeitraums ausgeübt hat. Der Kläger hat bereits seit dem 01.03.2012 in Teilzeit gearbeitet und war seit dem 01.07.2012 vollständig von der Arbeitspflicht freigestellt, weshalb die Regelung für ihn keine Anwendung findet.

 

Aus dem Bemessungsentgelt iHv 115,24 € folgt unter Zugrundelegung der für den Kläger maßgeblichen (§ 153 Abs. 2 Satz 1 SGB III) Lohnsteuerklasse 1 ein Leistungsentgelt iHv 71,79 € (§ 153 Abs. 1 SGB III in der für den Anspruch maßgeblichen 2018 gF; zur Berechnung im Einzelnen wird auf den Widerspruchsbescheid verwiesen). Hieraus ergibt sich bei einem Leistungssatz von 60 Prozent (§ 149 Nr. 2 SGB III) ein täglicher Leistungsbetrag iHv 43,07 € (§ 149 SGB III).

 

Ein höherer Anspruch auf Arbeitslosengeld ergibt sich nicht auf der Grundlage von § 10 Abs. 1 Satz 1 AltTZG.

 

Die Beklagte hat zutreffend das Bemessungsentgelt nach § 151 Abs. 1 Satz 1 SGB III anhand des tatsächlich im Bemessungszeitraum erzielten Entgeltes berechnet. Die Regelung des § 10 Abs. 1 Satz 1 AltTZG ist nicht anwendbar. Wenn ein Arbeitnehmer, der Altersteilzeitarbeit geleistet hat und für den der Arbeitgeber Leistungen nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 AltTZG erbracht hat, Arbeitslosengeld beansprucht, erhöht sich nach dieser Vorschrift das Bemessungsentgelt, das sich nach den Vorschriften des SGB III ergibt, bis zu dem Betrag, der als Bemessungsentgelt zugrunde zu legen wäre, wenn der Arbeitnehmer seine Arbeitszeit nicht im Rahmen der Altersteilzeit vermindert hätte.

 

Der Kläger hat von seinem Arbeitgeber nach der Freistellung zum 01.07.2012 weiter Leistungen nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 AltTZG erhalten. Nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 AltTZG setzt Altersteilzeitarbeit voraus, dass die Arbeitszeit auf die Hälfte der bisherigen wöchentlichen Arbeitszeit vermindert wird. Abweichende Regelungen sind für unterschiedliche wöchentliche Arbeitszeiten oder eine unterschiedliche Verteilung der wöchentlichen Arbeitszeit während der Altersteilzeitarbeit vorgesehen (§ 2 Abs. 2 und Abs. 3 AltTZG). Nach der Rechtsprechung des BAG sind Abweichungen von den gesetzlich ausdrücklich vorgesehenen Voraussetzungen nicht zulässig (BAG Urteil vom 22.05.2012 – 9 AZR 453/10). Nach der Rechtsprechung des BSG ist das Vorliegen von Altersteilzeitarbeit zweifelhaft, wenn mit Inkrafttreten des Vertrags eine sofortige vollständige Freistellung von der Arbeit erfolgt (BSG Urteil vom 22.09.2022 – B 11 AL 31/21 R). Hiervon unterscheidet sich der vorliegende Fall, weil der Kläger erst einige Monate nach dem Wirksamwerden des Vertrages von der Arbeit freigestellt worden ist.

 

Der Senat kann die sich hiernach stellende Frage, ob die Freistellung des Klägers von der Arbeitspflicht ab Juli 2012 der Annahme von Altersteilzeitarbeit iSd AltTZG entgegensteht, offenlassen. Denn die Anwendung des § 10 Abs. 1 Satz 1 AltTZG wird jedenfalls durch Satz 2 der Vorschrift ausgeschlossen. Danach ist eine fiktive Berechnung des Arbeitslosengeldes ab dem Tag ausgeschlossen, an dem der Arbeitnehmer eine Rente wegen Alters in Anspruch nehmen kann. Mithin ist von dem Tage an, an dem die Rente erstmals beansprucht werden kann, das Bemessungsentgelt maßgebend, das ohne die Erhöhung nach § 10 Abs. 1 Satz 1 AltTZG zugrunde zu legen wäre. Die Regelung des § 10 Abs. 1 Satz 2 AltTZG findet auch dann Anwendung, wenn eine Altersrente nur unter Inkaufnahme eines Abschlags vorzeitig in Anspruch genommen werden kann (BSG Urteil vom 15.12.2005 – B 7a AL 30/05 R; BT-Drucks. 13/4877, S. 29 f.). Auf die tatsächliche Inanspruchnahme der Rente kommt es nicht an.

 

Die Regelung in § 10 Abs. 1 Satz 2 AltTZG verstößt, auch soweit sie eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen erfasst, nicht gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG. Nach dieser Regelung darf niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Als subjektives Abwehrrecht umfasst Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG das Verbot unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung, also von Unterscheidungen mit benachteiligender Wirkung. Diese liegt nicht nur bei Regelungen und Maßnahmen vor, die die Situation von Behinderten verschlechtern, sondern auch bei einem Ausschluss von Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten durch die öffentliche Gewalt, der nicht hinlänglich kompensiert wird. Eine rechtliche Schlechterstellung von behinderten Menschen ist nur dann zu rechtfertigen, wenn sie unerlässlich ist, um behindertenbezogenen Besonderheiten Rechnung zu tragen (BVerfG Beschluss vom 16.12.2021 – 1 BvR 1541/20). Vorliegend ist bereits keine rechtliche Schlechterstellung von Menschen mit Behinderungen zu erkennen. Bei der verfassungsrechtlichen Prüfung einer Ungleichbehandlung (hier von Menschen mit und ohne Schwerbehinderung) sind nicht nur isoliert ihre nachteiligen, sondern ebenso ihre günstigen Folgen zu betrachten (BVerfG Nichtannahmebeschluss vom 14.06.2016 – 2 BvR 323/10; BSG Urteil vom 14.12.2017 – B 10 EG 7/17 R). Eine Benachteiligung kann durch eine auf die Behinderung bezogene Fördermaßnahme kompensiert werden (BVerfG Beschluss vom 11.01.2011 – 1 BvR 3588/08). Die Regelungen in §§ 37, 236a SGB VI stellen eine Privilegierung dar, indem sie es schwerbehinderten Menschen ermöglichen, bereits zwei Jahre vor der Regelaltersgrenze eine Rente zu beanspruchen, eine vorzeitige Inanspruchnahme (mit Abschlägen gem. § 77 SGB VI) ist fünf Jahre früher möglich. Im konkreten Fall wirkt sich die Möglichkeit der vorzeitigen Inanspruchnahme zwar nachteilig aus, bei einer Gesamtbetrachtung der Regelungen handelt es sich jedoch überwiegend um eine Privilegierung, so dass eine Benachteiligung aufgrund der Behinderung nicht gegeben ist (zum Tarifrecht abweichend BAG Urteil vom 25.08.2020 – 9 AZR 266/19).

 

Auch ein Verstoß gegen europäisches Recht liegt nicht vor. Die Richtlinie 2000/78/EG zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf vom 27.11.2000 (sog Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie; ABl EU L 303, S 16) ist auf das Arbeitslosengeld nicht anwendbar. Die Richtlinie gilt gem. Art. 3 Abs. 3 nicht für Leistungen jeder Art seitens der staatlichen Systeme oder der damit gleichgestellten Systeme einschließlich der staatlichen Systeme der sozialen Sicherheit oder des sozialen Schutzes (vgl. BSG Urteil vom 22.09.2022 – B 11 AL 31/21 R; LSG Baden-Württemberg Urteil vom 26.07.2006 – L 3 AL 1308/05; LSG Hessen, Beschluss vom 09.03.2018 – L 5 R 182/17).

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Der Senat hat die Revision wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).

 

 

Rechtskraft
Aus
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