L 10 KR 343/24 B ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 28 KR 223/24 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 10 KR 343/24 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

 

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 11.06.2024 aufgehoben.

 

Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, den Insolvenzantrag zu Lasten des Antragstellers beim Amtsgericht Essen vom 04.03.2024 zurückzunehmen.

 

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

 

Der Streitwert wird für beide Rechtszüge auf 27.293.38 € festgesetzt.

 

 

Gründe:

 

I.

 

Der Antragsteller, ein selbständiger Steuerberater, begehrt, die Antragsgegnerin, eine gesetzliche Krankenkasse, im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes zu verpflichten, einen Insolvenzantrag zurückzunehmen.

 

Der Antragsteller hat am 17.05.2024 Klage zum Sozialgericht Gelsenkirchen erhoben und gleichzeitig beantragt, im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes anzuordnen, dass die Antragsgegnerin den von ihr gestellten Insolvenzantrag gegen ihn vom 04.03.2024 zurücknimmt, hilfsweise für erledigt erklärt. Mit Beschluss vom 11.06.2024, auf den Bezug genommen wird, hat das Sozialgericht den Antrag abgelehnt, wobei es zugleich davon ausgegangen ist, dass der zu ihm beschrittene Rechtsweg zulässig sei.

 

Der Antragsteller hat am 12.06.2024 gegen diese Entscheidung Beschwerde erhoben. Das behördliche Handeln sei unverhältnismäßig und die Ermessensentscheidung der Antragsgegnerin fehlerhaft. Es lägen rechtswidrige Grundrechtseingriffe vor. Im Rahmen der Abwägung der beidseitigen Interessen bei der summarischen Prüfung sei zu beachten, dass durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens und der damit einhergehenden Verpflichtung des Insolvenzverwalters zur Verwertung des Vermögens und somit der Verwertung eines Eigenheimgrundstücks bei dem Antragsteller und dessen pflegebedürftiger Ehegattin Obdachlosigkeit einträten und zudem seine Existenzgrundlage vernichtet würde, da er seine Zulassung als Steuerberater verliere.

 

 

II.

 

Die zulässige Beschwerde ist auch begründet.

 

1. Der Senat prüft nach § 17a Abs. 5 GVG nicht, ob, wie vom Sozialgericht angenommen, der beschrittene Rechtsweg zulässig ist, wofür allerdings spricht, dass der sich aus den Bestimmungen der Insolvenzordnung ergebende Prüfauftrag an die Insolvenzgerichte nicht deckungsgleich mit demjenigen der Ermessenskontrolle an die Sozialgerichte ist; insoweit besteht ein Rechtsschutzbedürfnis an einer sozialgerichtlichen Überprüfung eines von einer Einzugsstelle gestellten Insolvenzantrags (so für Insolvenzanträge der Finanzämter und den Prüfauftrag der Finanzgerichte: BFH, Beschluss vom 31.08.2011 – VII B 59/11 –, juris Rn. 6 <st.Rspr.>)

 

2. Die Entscheidung der Antragsgegnerin, wegen der vom Antragsteller eingeräumten rückständigen Gesamtsozialversicherungsbeiträge für seinen Arbeitnehmer U. für die Zeit seit Dezember 2021 einen Antrag auf Eröffnung des Regelinsolvenzverfahrens zu Lasten des Antragstellers in dessen Eigenschaft als Steuerberater und Arbeitgeber zu stellen, ist ermessensfehlerhaft.

 

Der Insolvenzantrag einer Krankenkasse als Einzugsstelle aufgrund rückständiger Beitragsforderungen stellt keinen Verwaltungsakt, sondern schlichtes hoheitliches Handeln dar. Auch dieses erfordert, wie vom Sozialgericht unter Bezugnahme auf finanzgerichtliche Rechtsprechung zutreffend dargelegt, eine fehlerfreie Ermessensentscheidung unter Berücksichtigung der zugrundeliegenden Beitragsforderungen, unabhängig von den Insolvenzvoraussetzungen (vgl. BFH, Beschluss vom 25.02.2011 – VII B 226/10 –, juris Rn. 9 m.w.N.); dass ein Insolvenzgrund vorliegt, ersetzt die danach notwendige Ermessensbetätigung nicht. Bei ihrer Ermessensentscheidung hat die Einzugsstelle neben den Umständen, an denen das rechtliche Interesse des privatrechtlichen Gläubigers an der Insolvenzeröffnung nach §§ 13, 14 InsO und die Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu messen ist, auch die sich aus dem jeweiligen konkreten Beitragsschuldverhältnis ergebenden Besonderheiten umfassend zu würdigen (vgl. BFH a.a.O. Rn. 13). Es muss sichergestellt werden, dass die Krankenkasse alle entscheidungserheblichen Umstände gesehen und ermessensgerecht gewürdigt hat.

 

Als Beispiele für solche, von der Krankenkasse zu berücksichtigenden, entscheidungserheblichen Umstände kommen aus Sicht des Senats z.B. in Betracht: die Erfolgsaussicht eines noch offenen Erlass- oder Stundungsantrags; die Bewertung der bisherigen Mitwirkung des Vollstreckungsschuldners sowie der Höhe des Rückstandes und die Ausschöpfung weniger belastender Maßnahmen der Einzelvollstreckung. Zudem darf die Krankenkasse sich naturgemäß nicht von sachfremden Erwägungen leiten lassen oder ihre Rechtsstellung missbräuchlich ausnutzen.

 

Aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergibt sich zudem, dass ein Insolvenzantrag als für den Schuldner einschneidendste und gefährlichste Maßnahme der Zwangsvollstreckung erst dann in Betracht kommt, wenn weniger belastende Maßnahmen der Einzelvollstreckung ausgeschöpft sind oder keine Aussicht auf Erfolg versprechen (so bereits zum alten Konkursrecht: BFH, Beschluss vom 11.12.1990 – VII B 94/90 –, juris Rn. 24).

 

Nach diesen Maßstäben hat die Antragsgegnerin vorliegend jedenfalls insoweit ermessensfehlerhaft gehandelt, als sie sich vorzeitig des Insolvenzantrages und damit der für den Antragsteller einschneidendsten und gefährlichsten Maßnahme der Zwangsvollstreckung bedient hat, ohne zuvor in ausreichendem Umfang weniger belastende Maßnahmen der Einzelvollstreckung ausgeschöpft oder wenigstens in zureichendem Maß ernsthaft versucht zu haben.

 

Die Antragstellerin hat lediglich am 26.01.2023 ein Vollstreckungsersuchen an das Hauptzollamt D. gerichtet, dessen Ergebnis sie nicht einmal abgewartet hat. Sie hatte einen Insolvenzantrag vielmehr bereits gestellt, bevor auch nur eine erste Reaktion des Hauptzollamts, welches erstmals mit Schreiben vom 14.03.2024 mitteilte, dass es die Vollstreckung angekündigt und einen Vollstreckungsauftrag erteilt habe, dessen Ergebnis noch nicht vorliege, erfolgt war. Dies verdeutlicht, dass die Antragstellerin nicht einmal diesen Weg der Einzelvollstreckung ernsthaft betrieb. Soweit sie meint, es sei ihr nicht zuzumuten, die äußerst langsame Verfahrensführung des Hauptzollamts abwarten zu müssen, kann andererseits dessen vermeintliche Langsamkeit jedenfalls auch nicht zu Lasten des Antragstellers gehen, sondern hätte die Antragsgegnerin allenfalls veranlassen müssen, weitere Einzel-Vollstreckungsmaßnahmen zu erwägen.

 

Solche standen ihr gemäß § 66 SGB X auch zur Verfügung, so z.B. die Einzel-Vollstreckung nach den Vorschriften der ZPO gemäß § 66 Abs. 4 SGB X. Im Hinblick auf den Grundbesitz des Antragstellers, der Eigentümer einer Eigentumswohnung sowie zu einem hälftigen Anteil Eigentümer einer selbst genutzten Doppelhaushälfte und zu einem 2/3-Anteil Eigentümer eines Einfamilienhauses ist, wäre eine Zwangsvollstreckung in das unbewegliche Vermögen entsprechend den Vorschriften der §§ 864 bis 871 ZPO im Rahmen einer fehlerfreien Ermessensausübung zumindest zu erwägen gewesen.

 

Sämtliche dieser Maßnahmen der Einzel-Zwangsvollstreckung, die angesichts des vorhandenen Immobilienvermögens vorliegend auch jedenfalls nicht als von vorneherein ohne Erfolgsaussicht erscheinen, sind weniger belastend als der Insolvenzantrag, in dessen Folge dem Antragsteller als Steuerberater eine Einschränkung seiner Berufsausübung droht. Nach §  46 Abs. 2 Nr. 4 StBerG darf die Bestellung zum Steuerberater nämlich widerrufen werden, wenn dieser in Vermögensverfall geraten ist, es sei denn, dass dadurch die Interessen der Auftraggeber nicht gefährdet sind; ein Vermögensverfall wird vermutet, wenn ein Insolvenzverfahren über das Vermögen des Steuerberaters eröffnet ist.

 

Zudem hat der Senat im Hinblick insbesondere auf die letzte schriftsätzliche Einlassung der Antragstellerin, mit welcher diese erneut ausführt, sie als Einzugsstelle könne bei einem Beitragsrückstand von mehr als sechs Monaten, wie vorliegend, einen Insolvenzantrag stellen, erhebliche Zweifel, ob die Antragstellerin sich überhaupt darüber im Klaren war, dass sie, unabhängig von der Prüfung der insolvenzrechtlichen Voraussetzungen, verpflichtet war, in eine Ermessensprüfung in o.g. Umfang einzutreten und nicht bereits deshalb ein Ermessensfehlgebrauch in Gestalt einer Ermessensunterschreitung (vgl. zur Terminologie: Groth in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 4. Aufl. 2024, § 39 SGB I <Stand: 15.06.2024>, Rn. 35 ff.) vorliegt. Die Antragstellerin scheint weiterhin davon auszugehen, dass die Stellung eines Insolvenzantrages i.d.R. bereits dann gerechtfertigt sei, wenn die insolvenzrechtlichen Voraussetzungen hierfür vorliegen. Dies greift zu kurz. Sie hat vielmehr darüber hinaus die ihr obliegende sozialrechtliche Ermessensentscheidung zu treffen. Soweit sie im Übrigen meint, ein Ermessensspielraum sei nur dann umzusetzen, wenn z.B. Zahlungsbereitschaft gezeigt und umgesetzt werde, geht sie ebenfalls fehl. Der Senat verkennt dabei ausdrücklich nicht, dass der Antragsteller etwa zum Zustandekommen seiner Beitragsrückstände nicht durchweg nachvollziehbar vorgetragen und auch den eigenen Ankündigungen, Ratenzahlungen zu leisten, offenbar nicht vollständig nachgekommen ist. Ein derartiges Verhalten mag dementsprechend im Rahmen der Ermessensbetätigung zu Lasten des Schuldners berücksichtigt werden. Überflüssig wird eine Ermessensbetätigung hierdurch aber nicht, insbesondere sind keine Anhaltspunkte für eine Ermessensreduktion auf Null ersichtlich. Die Antragstellerin beachtet vielmehr weiterhin z.B. den aufgezeigten Gesichtspunkt der Vorrangigkeit der Einzel-Zwangsvollstreckung ermessensfehlerhaft nicht.

 

Dass bei Abwarten der Einzel-Zwangsvollstreckung der Antragsgegnerin hingegen ein nicht wiedergutzumachender Schaden drohte und damit Eilbedürftigkeit bestand, ist vor dem Hintergrund nicht erkennbar, dass der Antragsteller zum Einen über Grundbesitz verfügt, der zur Sicherung der Antragstellerin zur Verfügung stand und zum Anderen weiterhin als Steuerberater tätig war, so dass z.B. eine Flucht ins Ausland nicht zu befürchten stand.

 

Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a Abs. 1 S. 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO.

 

Der Streitwert ist gemäß § 197a SGG i.V.m. § 63 Abs. 2 S. 1 und Abs. 3, § 52 Abs. 1, 47 Abs. 1 S. 1 GKG festzusetzen. Für eine Herabsetzung des Streitwerts (teilweise wird im Eilverfahren ein Viertel, ein Drittel oder auch die Hälfte des streitgegenständlichen Betrages als Streitwert angenommen, vgl. z.B. Burkiczak in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl. 2022, § 86b SGG <Stand: 17.06.2024>, Rn. 614 m.w.N..) besteht keine Veranlassung, da sich das Klageverfahren mit dem vorliegenden Beschluss voraussichtlich erledigen wird, denn mit einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren vor Eröffnung bzw. Ablehnung der Eröffnung des Insolvenzverfahrens ist nicht zu rechnen.

 

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).

 

Rechtskraft
Aus
Saved