S 24 R 632/21

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Münster (NRW)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
24
1. Instanz
SG Münster (NRW)
Aktenzeichen
S 24 R 632/21
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 15.01.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.08.2021 dazu verurteilt, die erstatteten Beiträge ab dem 01.05.2016 bis einschließlich dem 15.12.2020 zu verzinsen und diese Zinsen an das Versorgungswerk der Rechtsanwälte im Lande Nordrhein-Westfalen auszuzahlen.

 

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers.

 

 

Tatbestand:

 

Die Beteiligten streiten über die Verzinsung einer anlässlich einer rückwirkenden Befreiung des Klägers von der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht gemäß § 231 Abs. 4b Satz 4 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) in Verbindung mit § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI erfolgten Erstattung von Beiträgen.

 

Der Kläger ist Assessor und seit dem 01.04.2012 zugelassener Rechtanwalt. Zudem ist er seit dem 01.08.2012 bei dem M. W. N. a. G.  in N. beschäftigt.

 

Er beantragte am 21.11.2012 eine Befreiung von der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI bei der Beklagten für seine Tätigkeit bei dem (M.W.N.). Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 26.04.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.10.2013 ab. Die hiergegen gerichtete Klage zum Sozialgericht Münster nahm der Kläger mit Schreiben vom 19.03.2019 zurück.

 

Mit Schreiben vom 21.03.2016 beantragte er bei der Rechtsanwaltskammer Hamm die Zulassung als Syndikusrechtsanwalt und – nunmehr in Verbindung mit § 231 Abs. 4b SGB VI – eine Befreiung von der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht bei der Beklagten für seine Tätigkeit bei dem (M.W.N.). Es erfolgte eine Zulassung des Klägers als Syndikusrechtsanwalt durch die Rechtsanwaltskammer Hamm. Mit Bescheid vom 30.08.2017 befreite die Beklagte den Kläger auf seinen Antrag vom 23.03.2016 hin von der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht für seine Tätigkeit bei dem (M.W.N.) gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI mit Wirkung vom 22.03.2016 an. Mit Bescheid vom 28.11.2018 befreite die Beklagte den Kläger von der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht wiederum für den Zeitraum vom 01.04.2014 bis einschließlich 21.03.2016 gemäß § 231 Abs. 4b Satz 1 und 3 SGB VI. Mit Bescheid vom 27.11.2018 versagte die Beklagte zunächst eine Befreiung von der gesetzlichen Rentenversicherung für den Zeitraum vom 01.08.2012 bis zum 31.03.2014. Sie begründete dies damit, dass der Kläger nicht die von § 231 Abs. 4b Satz 4 SGB VI geforderten einkommensbezogenen Beiträge an das zuständige Versorgungswerk gezahlt habe. Die hiergegen vor der hiesigen Kammer mit dem Aktenzeichen S 24 R 48/19 erhobene Klage hatte mit Urteil vom 14.01.2020 (abrufbar unter juris) vollen Erfolg und fand sich obergerichtlich bestätigt. In Folge dessen befreite die Beklagte den Kläger antragsgemäß mit Bescheid vom 16.12.2020.

 

Mit Bescheid vom 15.01.2021 beanstandete die Beklagte die für den o.g. Zeitraum gezahlten Pflichtbeiträge wie folgt:

  • 01.08.2012 bis 31.12.2012: EUR 3.443,52,
  • 01.01.2013 bis 31.12.2013: EUR 8.627,28,
  • 01.01.2014 bis 31.03.2014: EUR 2.142,06.

Sie führte ferner aus, ein Anspruch auf Verzinsung nach § 27 Abs. 1 SGB IV bestehe nicht. Sie berief sich hierbei auf § 286f Satz 2 SGB VI. Sie zahlte am 21.01.2021 die entsprechenden Beiträge an das Versorgungswerk der Rechtsanwälte im Land Nordrhein-Westfalen aus.

 

Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger Widerspruch. Die Vorschrift des § 286f Satz 2 SGB VI sei verfassungswidrig.

 

Mit Widerspruchsbescheid vom 23.08.2021 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Der Rentenversicherungsträger sei nach Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz (GG) an Recht und Gesetz gebunden.

 

Hiergegen hat der Kläger Klage erhoben. Er wiederholt sein Vorbringen aus dem Verwaltungsverfahren.

 

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 15.01.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.08.2021 zu verurteilen, die erstatteten Beiträge ab dem 01.05.2016 bis einschließlich 15.12.2020 zu verzinsen und diese Zinsen an das Versorgungswerk für Rechtsanwälte des Landes Nordrhein-Westfalen auszuzahlen.

 

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

 

Die Beklagte hält ihre Verwaltungsentscheidung weiterhin für rechtmäßig.

 

Das Gericht hat die Verwaltungsakte der Beklagten und die Vorprozessakten beigezogen.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des übrigen Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, der zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden ist.

 

 

Entscheidungsgründe:

 

Die als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage statthafte und auch im Übrigen zulässige Klage ist begründet.

 

Der unstreitige – und durch Auszahlung vom 21.01.2021 erfüllte – Erstattungsanspruch des Klägers ergibt sich aus § 26 Abs. 2 SGB IV iVm § 286f Satz 1 SGB VI. Hiernach werden Pflichtbeiträge, die auf Grund einer Befreiung nach § 231 Abs. 4b und 4d SGB VI zu Unrecht entrichtet wurden, abweichend von § 211 SGB VI und abweichend von § 26 Abs. 3 SGB IV von dem zuständigen Träger der Rentenversicherung beanstandet und unmittelbar an die zuständige berufsständische Versorgungseinrichtung erstattet. Zu Unrecht entrichtete Beiträge sind demjenigen zu erstatten, der sie getragen hat (BSG, Urteil vom 07.09.2017, B 10 LW 1/16 R, juris, Rn. 25). Zu Unrecht gezahlt sind Beiträge, wenn für die Zahlung kein Rechtsgrund (mehr) besteht (BSG, Urteil vom 07.09.2017, B 10 LW 1/16 R, juris, Rn. 25). Der Kläger hat für die Zeit vom 01.08.2012 bis zum 31.03.2014 an die Beklagte in diesem Sinne zu Unrecht Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung gezahlt, weil der Rechtsgrund für die Zahlung nachträglich weggefallen ist. Den materiellen Rechtsgrund für seine Zahlung bildete das abhängige Beschäftigungsverhältnis, woraus ex lege eine Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung folgte. Diesen Rechtsgrund hat die Beklagte mit Abhilfebescheide vom 16.12.2020 – und dem hier nicht gegenständlichen Bescheid vom 28.11.2018 – beseitigt, indem sie den Kläger nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI i.V.m. § 231 Abs. 4b Satz 1 und 4 SGB VI rückwirkend für die Zeit ab 01.08.2012 bis zum 31.03.2014 von der Versicherungspflicht befreite. Denn eine solche Befreiung lässt alle mit der Versicherungspflicht verbundenen Rechte und Pflichten entfallen (vgl. BSG, Urteil vom 07.09.2017, B 10 LW 1/16 R, juris, Rn. 26). Pflichtbeiträge, die für Zeiten gezahlt worden sind, für die wirksam eine Befreiung ausgesprochen ist, sind zu Unrecht gezahlt worden (BSG, Urteil vom 07.09.2017, B 10 LW 1/16 R, juris, Rn. 26).

 

Wie die ausgesprochene Befreiung selbst wirkte der durch sie begründete Erstattungsanspruch dabei auf den jeweiligen Zeitpunkt der Beitragszahlung vor Bescheiderlass zurück. Entfällt daher der Rechtsgrund für eine Beitragszahlung mit Wirkung für die Vergangenheit, so wirkt der dadurch begründete Erstattungsanspruch genau in derselben Weise zurück. Dieses Ergebnis folgt aus der Systematik der sozialrechtlichen Regeln über die Beitragserstattung aus §§ 26 ff SGB IV (eingehend hierzu: BSG, Urteil vom 07.09.2017, B 10 LW 1/16 R, juris, Rn. 27 ff. unter Abweichung von einer früheren Rechtsprechung).

 

Der Kläger hat entgegen der Ansicht der Beklagten Anspruch auf (rückwirkende) Verzinsung dieses (rückwirkend entstandenen) Erstattungsanspruchs nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB IV. Hiernach ist ein Erstattungsanspruch nach Ablauf eines Kalendermonats nach Eingang des vollständigen Erstattungsantrags, beim Fehlen eines Antrags nach der Bekanntgabe der Entscheidung über die Erstattung bis zum Ablauf des Kalendermonats vor der Zahlung mit vier vom Hundert zu verzinsen.

 

Ein rückwirkender Erstattungsanspruch ist nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB IV auch rückwirkend zu verzinsen (vgl. BSG, Urteil vom 07.09.2017, B 10 LW 1/16 R, juris, Rn. 31). Nur so lässt sich die rechtsgrundlose Vermögensverschiebung vollständig ausgleichen, die durch die Zahlung nicht geschuldeter Beiträge bewirkt worden ist (vgl. BSG, Urteil vom 07.09.2017, B 10 LW 1/16 R, juris, Rn. 31). Ohne Verzinsung würde diese Vermögensverschiebung trotz Beitragserstattung teilweise fortwirken (vgl. BSG, Urteil vom 07.09.2017, B 10 LW 1/16 R, juris, Rn. 31). Denn zahlt der Beitragsschuldner und Erstattungsgläubiger zu Unrecht Beiträge, nimmt ihm dies bis zur Erstattung die Möglichkeit, die Beiträge wirtschaftlich zu nutzen (vgl. BSG, Urteil vom 07.09.2017, B 10 LW 1/16 R, juris, Rn. 31). Erst eine Verzinsung, nicht schon die Beitragserstattung, gleicht diese entgangene Nutzungsmöglichkeit vollständig aus (vgl. BSG, Urteil vom 07.09.2017, B 10 LW 1/16 R, juris, Rn. 31). Auf die Fälligkeit des Erstattungsanspruchs oder aber ein Verschulden der Beklagten kommt es insoweit nicht an (vgl. BSG, Urteil vom 07.09.2017, B 10 LW 1/16 R, juris, Rn. 32).

 

Einer Verzinsung steht entgegen der Auffassung der Beklagten auch nicht die Vorschrift des § 286f Satz 2 SGB VI entgegen. Hiernach sind im Falle eines Erstattungsanspruchs nach § 286f Satz 1 SGB VI Zinsen nach § 27 Abs. 1 des Vierten Buches nicht zu zahlen. Dem liegt folgender Wille des Gesetzgebers zu Grunde:

 

Satz 2 der Vorschrift bestimmt, dass keine Zinsen auf die zu erstattenden Beiträge zu zahlen sind. Der zuständige Träger der Rentenversicherung wird zügig nach Durchführung des Befreiungsverfahrens die beanstandeten und erstattungsfähigen Pflichtbeiträge an das zuständige Versorgungswerk zahlen.“ (Bundestag-Drucksachen 18/5201, S. 47).

 

Die Gesetzesbegründung versteht sich nach Auffassung der Kammer so, dass es nach Auffassung des Gesetzgebers einer Verzinsung nicht bedarf, weil die zuständige deutsche Rentenversicherung zügig eine entsprechende Auszahlung vornehmen werde. Ein solches Verständnis der sozialversicherungsrechtlichen Verzinsungsregelungen und eine entsprechende ratio des Gesetzgebers ließe aber vollständig außer Betracht, dass im Falle einer rückwirkenden Befreiung ein Verzinsungsanspruch ebenso wie der Erstattungsanspruch auch für die Vergangenheit entsteht: Wie schnell die Beklagte nach erfolgter Befreiung die Beiträge auch auskehren mag, einen Zinslauf für die Vergangenheit vermag sie nicht aus der Welt zu schaffen.

 

 

Die Gesetzesbegründung (Bundestag-Drucksachen 18/5201) datiert vom 16.06.2015. Die Rechtsprechungsänderung, wonach im Falle einer rückwirkenden Befreiung von einer Versicherungspflicht auch der Erstattungsanspruch rückwirkend entsteht und zu verzinsen ist (vgl. abermals BSG, Urteil vom 07.09.2017, B 10 LW 1/16 R, juris, Rn. 29 und hierzu Waßer, in jurisPK-SGB VI, § 26 SGB IV, Rn. 90) erfolgte erst zwei Jahre später. Nur vor dem Hintergrund der damaligen – und durch das Urteil des BSG vom 07.09.2017 aufgegebenen – Rechtsprechung, wonach eine Verzinsung nur für die Zukunft in Betracht kommt, ergibt die Gesetzesbegründung einen Sinn, wenn sie im Hinblick auf die Notwendigkeit einer Verzinsung auf die Schnelligkeit der Beitragsauskehr abstellt.

 

§ 286f Satz 2 SGB VI ist damit teleologisch dahingehend zu verstehen (zu reduzieren), dass lediglich eine Verzinsung für die Zeit ab dem Wirksamwerden des Befreiungsbescheides im Sinne von § 39 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch ausgeschlossen werden sollte. Dies ergibt sich zudem aus dem Postulat einer verfassungskonformen Auslegung einfachen Rechts. Ist eine Auslegung, die dem Verfassungsprinzip nicht widerspricht, nach den übrigen Auslegungskriterien (insbesondere nach dem Wortlaut) möglich, so ist sie jeder anderen, bei der die Bestimmung verfassungswidrig sein würde, vorzuziehen (Larenz, Methodenlehre [1979], S. 329). Daraus folgt, dass unter mehreren, den übrigen Kriterien nach möglichen Auslegung immer diejenige den Vorzug verdient, die mit dem Prinzip der Verfassung am Besten übereinstimmt (Larenz, Methodenlehre [1979], S. 329).

 

Es wäre im Lichte des Art. 3 Abs. 1 GG als kritisch zu erachten, dass mit der Auslegung im Sinne der Beklagten und entsprechend der Gesetzesbegründung verschiedene Befreiungstatbestände unterschiedlich behandelt würden: Einzig für eine rückwirkende Befreiung gemäß § 231 Abs. 4b SGB VI wäre nach § 286f Satz 2 SGB VI eine (rückwirkende) Verzinsung ausgeschlossen. Eine Rechtfertigung dieser Ungleichbehandlung kommt nach Auffassung der Kammer nicht in Betracht. Insbesondere auch deshalb, weil der Gesetzgeber sie ausweislich der Gesetzesbegründung (Bundestag-Drucksachen 18/5201, S. 47) wohl schon nicht gesehen hat, sie nicht hat erkennen können und sie demgemäß nicht beabsichtigt hat. Diese ergibt sich erst aus dem Zusammenspiel mit der später geänderten Rechtsprechung des BSG zum Beginn des Zinslaufs im Falle einer rückwirkenden Befreiung (vgl. abermals BSG, Urteil vom 07.09.2017, B 10 LW 1/16 R).

 

Da der Beanstandungsbescheid vom 15.01.2021 datiert, scheidet nach § 27 Abs. 2 Satz 2 SGB IV eine Verjährung des Anspruchs aus. Die Verzinsung beginnt nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB IV mit Eingang des vollständigen Erstattungsantrags. Dieser ist im Befreiungsantrag vom 21.03.2016 zu sehen.

 

Ob die Regelung des § 286f Satz 2 SGB VI einer Verzinsung beginnend ab Bekanntgabe des Befreiungsbescheides vom 16.12.2020 entgegensteht, wie sich aus der Gesetzesbegründung ergibt, kann dahinstehen, weil der Kläger eine Verzinsung der Erstattungsbeträge nur bis zum 15.12.2020 beantragt hat.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

 

 

Rechtskraft
Aus
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