L 7 SO 2949/24 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
7.
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 9 SO 1728/24 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 7 SO 2949/24 ER-B
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Mannheim vom 12. September 2024 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.



Gründe

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Mannheim (SG) vom 12. September 2024 ist am 7. Oktober 2024 form- und fristgerecht eingelegt worden und auch im Übrigen zulässig (vgl. §§ 172, 173 SGG). Sie bleibt jedoch in der Sache ohne Erfolg.

Gegenstand des Beschwerdeverfahrens ist, neben der erstinstanzlichen Entscheidung, das einstweilige Rechtsschutzbegehren des Antragstellers, den Antragsgegner im Wege der Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zur vorläufigen Kostenübernahme für Assistenzleistungen als Leistungen der Eingliederungshilfe – beginnend ab dem 15. Oktober 2024 in einem Umfang von 35 Stunden in der Woche nach dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst 2024, Entgeltgruppe E6, Entgeltstufe 6 im Bereich VKA – zu verpflichten, um dem Antragsteller die Durchführung eines Freiwilligen Sozialen Jahres (FSJ) zu ermöglichen.

Die Beschwerde des Antragstellers ist jedoch unbegründet. Denn das SG hat den Erlass der begehrten Regelungsanordnung jedenfalls im Ergebnis zu Recht abgelehnt.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist Voraussetzung, dass ein dem Antragsteller zustehendes Recht oder rechtlich geschütztes Interesse vorliegen muss (Anordnungsanspruch), das ohne Gewährung des vorläufigen Rechtsschutzes vereitelt oder wesentlich erschwert würde, so dass dem Antragsteller schwere, unzumutbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (Anordnungsgrund). Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund müssen glaubhaft gemacht sein (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung [ZPO]). Glaubhaftmachung liegt vor, wenn das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs und eines Anordnungsgrunds überwiegend wahrscheinlich sind. Dabei haben sich die Gerichte bei der Beurteilung der Sach- und Rechtslage an den Erfolgsaussichten der Hauptsache zu orientieren (vgl. Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss vom 13. April 2010 – 1 BvR 216/07 – juris Rdnr. 64; BVerfG, Beschluss vom 6. August 2014 – 1 BvR 1453/12 – juris Rdnr. 9). Eine Folgenabwägung ist nur ausnahmsweise zulässig, wenn eine Prüfung der materiellen Rechtslage nicht möglich ist (BVerfG, Beschluss vom 14. September 2016 – 1 BvR 1335/13 – juris Rdnr. 20; Beschluss des Senats vom 31. Juli 2017 – L 7 SO 2557/17 ER-B – juris Rdnr. 21; Beschluss des Senats vom 22. Dezember 2017 – L 7 SO 4253/17 ER-B – juris Rdnr. 3; Beschluss des Senats vom 3. Dezember 2018 – L 7 SO 4027/18 ER-B – juris Rdnr. 19).

Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund stehen dabei nicht isoliert nebeneinander; es besteht vielmehr eine Wechselbeziehung der Art, dass die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsgrund) zu verringern sind und umgekehrt (Beschluss des Senats vom 31. Juli 2017 – L 7 SO 2557/17 ER-B – juris Rdnr. 22; Beschluss des Senats vom 22. Dezember 2017 – L 7 SO 4253/17 ER-B – juris Rdnr. 4; Beschluss des Senats vom 3. Dezember 2018 – L 7 SO 4027/18 ER-B – juris Rdnr. 20; vgl. Landessozialgericht [LSG] Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 15. November 2013 – L 15 AS 365/13 B ER – juris Rdnr. 18). Selbst wenn der Rechtsbehelf in der Hauptsache offensichtlich zulässig und begründet ist, vermindern sich zwar die Anforderungen an den Anordnungsgrund, aber auch in diesem Fall kann auf einen Anordnungsgrund nicht verzichtet werden (vgl. Beschluss des Senats vom 13. Juli 2021 – L 7 AY 1929/21 ER-B – juris; Keller in Meyer-Ladewig u.a., SGG, 14. Aufl. 2023, Rdnr. 29).

Zunächst hat Antragsteller bereits einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht.

Anspruchsgrundlage für die begehrten Assistenzleistungen ist § 99 Abs. 1, § 90 Abs. 5, § 113 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 78 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX). Der 2006 geborene Antragsteller ist – zur Überzeugung des Senats und zwischen den Beteiligten unstreitig – zunächst dem Grunde nach anspruchsberechtigt für Leistungen der Eingliederungshilfe i.S.d. § 99 Abs. 1 SGB IX, da er aufgrund der Folgen einer Deletion am Chromosom 13 insbesondere unter einer schwersten Intelligenzminderung ohne Verhaltensstörung (ICD-10: F73.0) und einer motorischen Bewegungseinschränkung mit Gleichgewichtsproblemen und teilweise überschießenden, ataktischen Bewegungen und Sturzgefahr leidet (Gutachten (
L1 T1 vom 19. April 2024, erstellt für das Amtsgericht W2 – Betreuungsgericht – zum Az xxxx, Bl. 73 ff. elektr. Verw.-Akte; Bericht L2, Hals-, Nasen-, Ohren-Klinik und Poliklinik der Universitätsmedizin M1, vom 12. Juni 2024 Bl. 57 f. elektr. Verw.-Akte), wegen der bei ihm der Pflegegrad 5, ein Grad der Behinderung von 100 und die Merkzeichen B, G, aG, H, RF und Gl zuerkannt sind, wesentlich in der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft eingeschränkt ist (wesentliche Behinderung). Der Antragsgegner ist auch der gemäß § 98 Abs. 1 Satz 1 SGB IX örtlich und gemäß § 94 Abs. 1 SGB IX i.V.m. § 1 Abs. 1 Gesetz zur Ausführung des SGB IX Baden-Württemberg sachlich zuständige Träger der Eingliederungshilfe.

Vorliegend hat der Antragsteller einen Anordnungsanspruch schon deswegen nicht glaubhaft gemacht, da nicht überwiegend wahrscheinlich ist, dass er das vorgesehene FSJ absolvieren kann bzw. die Voraussetzungen für die Durchführung des FSJ vorliegen, für welches die Assistenzleistungen begehrt werden. Insoweit ist zunächst schon zu berücksichtigen, dass das FSJ bereits namensgebend Freiwilligkeit voraussetzt, mithin eine auf einer freien Willensbildung beruhende Entscheidung des „Freiwilligen“ (vgl. § 2 Jugendfreiwilligendienstegesetz [JFDG]). Entscheidende Kriterien für die Annahme eines freien Willens sind insoweit die Einsichtsfähigkeit des Betroffenen und dessen Fähigkeit, nach dieser Einsicht zu handeln (so zum Betreuungsrecht etwa Bieg in Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB, 10. Aufl., § 1814 Bürgerliches Gesetzbuch [BGB], Stand 11. September 2024, Rdnr. 43). Ausweislich des Gutachtens der (
L3) T1 vom 19. April 2024 ist der Kläger aufgrund seiner schweren geistigen Behinderung in seiner Kritik- und Urteilsfähigkeit derart eingeschränkt, dass er nicht zu einer freien Willensbildung – und damit zur „Freiwilligkeit“ im Sinne des JFDG – in der Lage ist. Diese Freiwilligkeit ist in Anlehnung an die Maßstäbe des Betreuungsrechts hinsichtlich der Wahrnehmung bürgerschaftlichen Engagements (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 1 JFDG) – wie etwa auch ein Ehrenamt (vgl. Reh in Bienwald, Betreuungsrecht, 7. Auflage 2023, § 1815 BGB Rdnr. 11) – dem höchstpersönlichen Bereich zuzuordnen bzw. als eine zwingende Eigenschaft eines Freiwilligendienstleistenden anzusehen und kann daher nach Ansicht des Senats nicht durch andere, wie vorliegend die Eltern des Antragstellers als dessen gesetzliche Betreuer, ersetzt werden.

Daneben ist für den Senat auch nicht mit dem erforderlichen Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Antragsteller tatsächlich in der Lage ist, die Anforderungen des vorgesehenen Freiwilligendienstes als Grundlage der begehrten Assistenzleistungen zu erfüllen.

Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 b) JFDG setzt der freiwillige Dienst einen zumindest einer Teilzeitbeschäftigung von mehr als 20 Stunden in der Woche vergleichbaren Dienst voraus, wobei der Antragsteller nach der im Beschwerdeverfahren vorgelegten Vereinbarung über die Ableistung eines Jugendfreiwilligendienstes vom 16. August 2024 22 Wochenstunden absolvieren soll.

Nachdem im „Kompetenzinventar im Prozess der Berufswegeplanung“ vom 28. Oktober 2024 für eine betriebliche Erprobung in einem Drogeriemarkt bei einer vereinbarten festen Arbeitszeit von täglich zwei Stunden eine feste Pause von 15 Minuten nach 30 Minuten Arbeitszeit vereinbart worden ist, dazu stimmig seitens der früheren Schule des Antragstellers nur eine Konzentrationsfähigkeit über maximal 20 Minuten berichtet worden ist und der Antragsteller nach dem Aktenstand bislang lediglich Praktika über zwei bis drei Stunden täglich und an wenigen bzw. vereinzelten Tagen absolviert hat, ist der Senat zum einen nicht ausreichend davon überzeugt, dass der Antragsteller die geforderten Dienstzeiten durchhalten kann, dies insbesondere von Anfang an. Soweit die Mutter des Antragstellers im März 2024 im Rahmen einer Berufswegekonferenz (Bl. 191 ff. elektr. Verw.-Akte) berichtet hat, die bisher absolvierten Praktika – wozu auch das ab Februar 2024 erfolgte Praktikum im Seniorenheim am
W1 in L4 zählen dürfte – seien zunächst auf zwei bis drei Stunden angelegt gewesen, was nach und nach erhöht werden solle, bestehen keine Anhaltspunkte, dass dies tatsächlich erfolgt ist.

Zum anderen sollte der Antragsteller ausweislich der Bestätigung des Internationalen Bundes vom 8. August 2024 als Träger des Jugendfreiwilligendienstes – welche noch eine den Anforderungen des § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 b) JFDG nicht genügende wöchentliche Dienstzeit von 20 Wochenstunden auswies – täglich vier Stunden in der Einsatzstelle ableisten, was mit An- und Abreise einem Zeitumfang von sechs Stunden täglich entspreche. Übertragen auf die nun vereinbarten 22 Wochenstunden geht der Senat mangels entgegenstehender Anhaltspunkte davon aus, dass es sich bei diesen Wochenstunden ebenfalls um Zeiten der Anwesenheit in der Einsatzstelle handelt. In Anbetracht der in der Vergangenheit für angezeigt angesehenen und der Dienstzeit nicht zuzurechnenden Pausenzeiten ist daher nach dem gegebenen Stand auch trotz Erhöhung der Wochenstunden nicht davon auszugehen, dass im Ergebnis eine Dienstzeit erreicht wird, die als vergleichbar einer Teilzeitbeschäftigung von mehr als 20 Wochenstunden – auch hier: ohne Pausenzeiten – anzusehen ist.

Ein von dem Antragsgegner erbetenes Gutachten der Bundesagentur für Arbeit bezüglich Maßnahmen der Teilhabe am Arbeitsleben, welches auch eine allgemeine Abklärung der hier relevanten Fragestellungen hätte erbringen können, ist antragstellerseits abgelehnt worden.

Weiter ist der Jugendfreiwilligendienst als überwiegend praktische Hilfstätigkeit konzipiert, die an Lernzielen orientiert ist (vgl. § 3 Abs. 1 Satz 1 JFDG). Der Senat hat insoweit um die Übersendung der als Anlage der Vereinbarung über die Ableistung eines Jugendfreiwilligendienstes beigefügten Lernziele und Ziele des Dienstes unter Fristsetzung bis zum 13. Dezember 2024 gebeten, was nicht erfolgt ist. Die entsprechende Verfügung ist dem Antragsteller auch zugegangen, wie sich aus der erfolgten Nachfrage zu einem darin ebenfalls enthaltenen rechtlichen Hinweis ergibt. In Anbetracht der erheblichen gesundheitlichen Einschränkungen des Antragstellers kann nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass dieser die Anforderungen der Lern- und sonstigen Ziele erfüllen kann, so dass die fehlende Überprüfbarkeit zu Lasten des Antragstellers geht.

Der Senat ist auch nicht ausreichend davon überzeugt, dass der Antragsteller die geforderten praktischen Hilfstätigkeiten auch unter Heranziehung einer Assistenz – die dem Antragsteller assistiert und nicht ersetzend für ihn die Aufgaben ableistet – im geforderten zeitlichen Umfang erbringen kann. Zu den geplanten Tätigkeiten des Antragstellers gehören die Vorbereitung und Teilnahme an Gruppensitzungen (z.B. Auf- und Abbau des Sitzkreises), Getränke auffüllen und verteilen, Spaziergänge der Senioren begleiten und Abholen von Bewohnern im Rollstuhl zu Gruppenanwendungen. Ähnliche Aufgaben hat der Antragsteller zwar bereits in seinem Praktikum im Seniorenheim am
W1 – in zeitlich deutlich geringerem Umfang – erfüllt, ohne dass der Akte oder dem antragstellerseitigen Vortrag konkrete Angaben entnommen werden können, wie diese Aufgabenerfüllung von statten gegangen ist. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass die Gutachterin (L5) T1 ein unsicheres Gangbild mit leichten dystonen Bewegungsmustern berichtet hat, wobei der Antragsteller bei jedem Schritt mit seinem Oberkörper stark nach links oder rechts geschwankt sei. Sie hat insofern festgehalten, dass der Antragsteller insbesondere in der Feinmotorik, aber auch in weiteren Bewegungen seiner Extremitäten durch dystone Bewegungsmuster beeinträchtigt sei und er zudem unter Gleichgewichtsstörungen leide, sodass er nur für kurze Strecken in häuslicher Umgebung eigenständig mobil sei. Vor diesem Hintergrund ist nicht ohne Weiteres davon auszugehen, dass der Antragsteller die beschriebenen Aufgabenstellungen auch mit assistierender (nicht ersetzender) Begleitung verlässlich im vorgegebenen zeitlichen Umfang und ohne überhöhte Unfallgefahr für sich und andere ausführen kann.

Schließlich ist auch ein Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht, denn es ist nicht überwiegend wahrscheinlich, dass der Antragsteller bei einem Abwarten der Hauptsacheentscheidung schwerwiegende, nicht mehr zu beseitigende Nachteile erleiden würde. Der Antragsteller hat diesbezüglich ausgeführt, dass sowohl die Einsatzstelle als auch die Assistenzkraft zeitlich nicht unbegrenzt zur Verfügung stünden und deswegen ein Abwarten des Hauptsacheverfahrens, welches mit Sicherheit länger dauern werde, als das FSJ, nicht zumutbar ist. Zwar erscheint diese Einschätzung der zeitlichen Dauer nicht unplausibel, eine bloße zeitliche Verzögerung begründet jedoch kein Eilbedürfnis. Auch wenn es ebenfalls zutreffend sein dürfte, dass die Einsatzstelle und die aktuell konkret angedachte Assistenzkraft nicht zeitlich unbegrenzt zur Verfügung stehen, lässt sich aus diesen offen gehaltenen Angaben schon keine Dringlichkeit ableiten. Insbesondere begründet das Bestehen einer besonders günstigen Gelegenheit noch kein Eilbedürfnis. Weiter ist zu berücksichtigen, dass der Beginn des FSJ bereits im Laufe des gerichtlichen Eilverfahrens hätte verschoben werden können, nachdem der in der zuletzt vorgelegten Vereinbarung vorgesehene Beginn am 15. Oktober 2024 bereits ca. drei Wochen vor Übersendung der Beschwerdebegründung verstrichen gewesen ist, aber der Antragsteller vorgetragen hat, jederzeit mit dem FSJ beginnen zu können, wenn die Frage der Assistenzkraft geklärt sei.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Diese Entscheidung ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).

 

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