S 9 KR 3758/22

Sozialgericht
SG Hamburg (HAM)
Sachgebiet
Krankenversicherung
1. Instanz
-
Aktenzeichen
S 9 KR 3758/22
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

„1. Ein Pflegebett mit 170 cm hohen Seitengittern kann die Pflege i.S.v. § 40 SGB XI erleichtern, wenn es die Eltern bei der nächtlichen Beaufsichtigung des geistig behinderten Kindes entlastet und das Kind andernfalls mangels Gefahrenbewusstsein und Schmerzempfinden sowie aufgrund eines gestörten Tag-Nacht-Rhythmus ständiger Überwachung benötigen würde.

 

2. Die Verwendung eines Pflegebetts mit 170 cm hohen Seitengittern im elterlichen Haushalt stellt keine freiheitsentziehende Maßnahme im Sinne von § 1631b BGB dar und bedarf daher keiner Genehmigung des Familiengerichts.“

Bemerkung

Im Urteil wird Bezug genommen auf das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 20.08.2015 – L 5 P 15/15

Das Urteil ist rechtskräftig.

S 9 KR 3758/22

 

 

Sozialgericht Hamburg

Urteil

Im Namen des Volkes

In dem Rechtsstreit

 

hat die Kammer 9 des Sozialgerichts Hamburg aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 20. Januar 2025 durch


für Recht erkannt:

 

1. Die Beklagte wird verurteilt, den Bescheid vom 13.04.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.11.2022 aufzuheben und den Kläger mit dem beantragten Bett O1 mit einer Liegefläche von 200x90cm nebst Zubehör und Zurüstung gemäß Kostenvoranschlag vom 30.03.2022 zu versorgen.

 

2. Die Beklagte erstattet dem Kläger seine notwendigen außergerichtlichen Kosten.

 

 

 

 

Tatbestand

 

Die Beteiligten streiten um die Kostenübernahme für ein Pflegebett mit hohen Seitengittern.

 

Der Kläger (geb. xxxxx2017) ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert und bei der Beigeladenen gesetzlich pflegeversichert.

 

Bei dem Kläger liegt ein Gendefekt vor, der u.a. eine globale Entwicklungsverzögerung, eine Bewegungsstörung mit bein- und linksbetonter Spastik, Autismus, Schwerhörigkeit, Sehstörungen, Epilepsie und einen gestörten Schlaf-Wach-Rhythmus bewirkt. Zum Ausgleich seiner Beschwerden trägt er tagsüber Kontaktlinsen, Hörgeräte und Orthesen. Er ist nonverbal und reagiert auch nicht auf seinen Namen. Er hat eine motorische Unruhe in sich, hat kein Gefahrenbewusstsein und ein deutlich herabgesetztes Schmerzempfinden. Das Versorgungsamt hat bei dem Kläger einen Grad der Behinderung von 100 und die Merkzeichen G, aG, B, H und RF festgestellt, die Pflegekasse zudem den Pflegegrad 5. 

 

In der Vergangenheit hat die Beklagte die Kosten für ein Therapiebett O. mit einer Liegefläche von 90 x 170 cm und einer Gitterhöhe von 111 cm übernommen. Mit diesem Bett ist der Kläger nach wie vor versorgt. Nachts schläft der Kläger in dem Bett. Das Bett wird dann abgeschlossen, zudem sollen auch Plexiglasscheiben und Polster ein Aussteigen des Klägers aus seinem Bett verhindern. In dem Bett wird zudem ein Teil der Grundpflege durchgeführt (z.B. Wickeln, Medikamente geben, Dehnübungen für Fuß- und Beinmuskulatur). Außerdem dient es dem Kläger tagsüber als Rückzugsraum, da die hohe Umrandung dem Kläger dabei hilft, zur Ruhe zu kommen.

 

Aufgrund eines gestörten Schlaf-Wach-Rhythmus fällt es dem Kläger schwer, abends zur Ruhe zu kommen und ein- und durchzuschlafen. Jede Nacht wird er wach und verspürt Bewegungsdrang. Dann reißt er oft an den Polstern oder versucht, das Gitter zu überklettern. Da der Kläger zwischenzeitlich 127 cm groß ist, hat er es bereits geschafft, über das Gitter zu steigen und ist dabei aus dem Bett gefallen. Seitdem sind die Eltern in Sorge, dass sich dieser Vorfall wiederholen könnte.

 

Aufgrund ärztlicher Verordnung vom 24.03.2022 durch den Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin beantragte die für den Kläger tätige G. mit Kostenvoranschlag vom 30.03.2022 bei der Beklagten ein Pflegebett mit einem höheren Gitter, genauer gesagt das Modell O1 des Herstellers K1).mit elektrischer Höhenverstellbarkeit, Abpolsterung, extra hoher Bettumrandung (ca. 170 cm), Überkletterschutz mit Netz und verriegelbarer Tür. Die Kosten wurden mit 13.156,17 Euro angegeben.

 

Mit Bescheid vom 13.04.2022 lehnte die Beklagte die Kostenübernahme ab. Zur Begründung wurde angeführt, dass die Beklagte sich nicht an den Kosten beteiligen dürfe.

 

Gegen diese Entscheidung wurde klägerseits Widerspruch eingelegt. Dieser wurde damit begründet, dass die hohe Umrandung zum Selbstschutz des Klägers erforderlich sei. Wenn der Kläger nachts aufwache, neige er zu selbstgefährdendem Verhalten. Das nächtliche Hochziehen an den Seitengittern des Bettes berge ein enormes Verletzungsrisiko, sollte der Kläger aus dem Bett fallen. Dieses Risiko werde durch die nächtliche Dunkelheit, seine fehlende räumliche Orientierung und seine Sehbehinderung noch verschärft. Da er nonverbal sei, könne er bei Verletzungen oder in Notsituationen zudem nicht um Hilfe rufen. Das Pflegebett sei außerdem noch aus einem weiteren Grund zwingend erforderlich: Der Kläger benötige die räumliche Begrenzung durch die Gitter, um zur Ruhe zu kommen. Als Autist sei er sehr reizempfänglich, weshalb er die geschützte Begrenzung brauche, um in den Schlaf zu finden.

 

Im laufenden Widerspruchsverfahren hat die Pflegeberaterin der E., Frau S., die Beklagte telefonisch auf die nach ihrer Einschätzung bestehende Dringlichkeit und Notwendigkeit des Bettes aufmerksam gemacht.

 

Mit Widerspruchsbescheid vom 24.11.2022 hat die Beklagte den Widerspruch zurückgewiesen. Das beantragte Bett habe allein den Zweck, die Mobilität des Kindes einzugrenzen, um die Eltern bei der Beaufsichtigung zu entlasten. Das Verhindern von Unfällen sei aber nicht Aufgabe der Kranken- und Pflegeversicherung. Das Ziel könne auch durch eine gefahrlose bzw. gefahrminimierte Wohnumgebung erreicht werden. Alternativ könne auch ein Käfig über das Bett gebaut oder Bewegungsmelder und Klingelmatten eingesetzt werden. Im Übrigen handele es sich um eine freiheitsentziehende Maßnahme, die einer richterlichen Anordnung bedürfe.

 

Dagegen hat der Kläger am 15.12.2022 Klage erhoben.

 

Zusätzlich zu den bereits im Widerspruchsverfahren vorgetragenen Argumenten wird klägerseits ausgeführt, dass es keine andere Möglichkeit zum Selbstschutz gebe. Ein Überkletterschutz sei für das aktuell vorhandene Bett nicht verfügbar. Klingelmatten würden erst anschlagen, wenn der Kläger schon aus dem Bett gefallen sei. Zudem sei es nicht möglich, das Kinderzimmer gänzlich abzusichern, da jedenfalls die Gefahren, die vom Heizkörper und Fensterbrett ausgingen, nicht abzustellen seien. Im Übrigen sei eine erholsame Nacht für den Kläger auch deshalb wichtig, weil er zwischenzeitlich schulpflichtig geworden sei und er ausgeruht in die Schule gehen müsse. Zudem wurden mehrere Atteste und Befundberichte zur Akte gereicht:

 

Im Attest der Sozialpädagogin O3 und der Physiotherapeutin R. vom 23.09.2022 heißt es u.a.: „[J.] muss im Alltag immer engmaschig begleitet werden, da er Gefahren nicht realistisch einschätzen kann. Es besteht immer die Gefahr einer Selbstgefährdung, da er motorisch in der Lage ist, schnell auch größere Hindernisse zu überwinden. […] Da J. auf Grund seiner Diagnose einen gestörten Schlaf-Wachrhythmus hat, muss diese Beaufsichtigung auch nachts gewährleistet sein […]. Wir als betreuende Sozialpädagogin und Physiotherapeutin unterstützen den Wunsch der Familie auf ein Pflegebett mit Nachdruck, um J. eine auf ihn angepasste, sichere Schlafumgebung mit Privatsphäre zu ermöglichen und die Pflege so adäquat wie möglich gestalten zu können.“

 

Dr. B. vom W. schreibt in seinem Befundbericht vom 02.03.2022: „Unbedingt notwendig ist aufgrund der schweren Behinderung, des Längenwachstums und der zunehmenden Mobilität des Kindes gefährdungsbedingt ein neues Pflegebett.“

 

Die Ärztinnen des K. Prof. Dr. M., Dr. J1 und Dr. B1 schreiben in ihrem Befundbericht vom 21.06.2021: „Ein Pflegebett mit gefährdungsbedingtem hohem Gitter ist für J. aus medizinischer Sicht indiziert und wird durch uns befürwortet. Er ist nicht in der Lage beim Aufwachen in der Nacht die Gefahren einzuschätzen und benötigt eine klare Begrenzung um sein Bett.“ Im Befundbericht vom 15.01.2024 wird diese Einschätzung wiederholt.

 

Dr. G. von der A. führt in seinem Befundbericht vom 03.04.2023 aus: „Bei epileptischen Anfällen besteht ein Verletzungsrisiko zum Beispiel auch nachts durch unkontrollierte Bewegungen und es besteht die Notwendigkeit der Überwachung und das rasche Handeln durch Betreuungspersonen. Somit befürworten wir auch aufgrund des deutlich erhöhten Risikos für epileptische Anfälle ein Pflegebett.“

 

Der Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin R1 schreibt in seinem Attest u.a.: „Aufgrund ausgeprägter Unruhephasen mit Selbstverletzungen auch in der Nacht ist eine besondere Schlafumgebung zum Eigenschutz nötig. Dazu hat die Familie ein gesichertes Bett für J., in dem das Verletzungsrisiko minimiert werden kann. […] Bei mangelnder Gefahreneinschätzung und partiell ausgeprägt impulsivem Verhalten ist eine dauerhafte Betreuung durch die Eltern nötig.“

 

Mit Beiladungsbeschluss vom 06.01.2025 hat das Gericht die Pflegekasse beigeladen. 

 

Der Kläger beantragt,

 

die Beklagte zu verurteilen, den Bescheid vom 13.04.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.11.2022 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, den Kläger mit dem beantragten Bett O1 mit einer Liegefläche von 200 x 90 cm nebst Zubehör und Zurüstung gemäß Kostenvoranschlag vom 30.03.2022 zu versorgen.

 

Die Beklagte beantragt,

 

            die Klage abzuweisen.

 

Die Beklagte meint, eine Unfallprävention bzw. Gefahrenabwehr stelle keine Indikation für eine Versorgung mit Hilfsmitteln im Bereich der Gesetzlichen Krankenversicherung dar. Das Bett diene auch nicht der Pflegeerleichterung, da der Kläger nicht bettlägerig sei. Bei dem Pflegebett mit Überkletterschutz handele es sich im Übrigen um eine freiheitsentziehende Maßnahme, die der richterlichen Anordnung bedürfe.

 

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens von Dr. F., Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin und Neuropädiatrie. Nachdem er den Kläger am 25.09.2024 im häuslichen Umfeld persönlich untersucht hat, ist der Sachverständige in seinem Gutachten vom 27.11.2024 zu dem Ergebnis gekommen, dass ein Pflegebett medizinisch erforderlich ist. Es bestehe erhebliche Verletzungsgefahr bei Übersteigen des Gitters, z.B. wenn der Kläger mit dem Kopf auf die Heizung aufschlagen würde. Aufgrund der bestehenden Einschränkungen seiner Sinnesorgane (Sehen und Hören) sei seine bereits eingeschränkte Orientierung in der Dunkelheit noch stärker reduziert. Da er nachts keine Orthesen trage, bestehe bei ihm außerdem eine Gangunsicherheit. Zudem habe er eine Tendenz zur Selbstgefährdung. Klingelmatten sind nach Ansicht des Sachverständigen keine zumutbare Alternative, da diese häufig Fehlalarme auslösen würden und die Eltern zudem erst dann reagieren könnten, wenn der Kläger das Bett bereits verlassen hätte. Das neue Pflegebett würde dem weiteren Wachstum des Klägers Rechnung tragen und für viele weitere Jahre eine geeignete Schlafsituation herstellen.

 

Am 20.01.2025 hat eine mündliche Verhandlung stattgefunden. Die Eltern des Klägers haben angegeben, dass der Kläger jede Nacht mehrfach wach werde. Aus Angst davor, dass der Kläger das Bettgitter überklettert, würden sie jede Nacht ein Babyphone aufstellen und bei Geräuschen sofort aufstehen und nach dem Kläger schauen. Zusätzlich sei zum Schutz das Bett mit Matratzen umlegt worden. Gleichwohl würden Gefahren bestehen, z. B. weil der Kläger sich mit Gesicht und Zähnen auf den Boden schmeißt oder mit dem Kopf gegen die Wand schlägt. Auch könne er sehr gut klettern. Er könne sich bspw. am Fenstergriff hochziehen und auf die Fensterbank steigen, dort fehle ihm dann jegliches Gefahrenbewusstsein. Die Eltern haben zudem angegeben, noch nie Hilfe bei der nächtlichen Pflege gehabt zu haben. Die Situation sei sehr zehrend, da sie nachts nie mehr als 5 oder 6 Stunden Schlaf bekämen. Ein Ausschlafen oder Durchschlafen sei nicht möglich. Die Mutter brauche nach der nächtlichen Pflege meistens lange, um wieder in den Schlaf zu finden. Problematisch sei auch, dass der Kläger nicht zur Schule gehen könne, wenn er nachts besonders lange wach gelegen habe. Dies habe Auswirkungen auf die Berufstätigkeit der Mutter, da sie sich an solchen Tagen vom Dienst abmelden oder ihre Schicht verschieben müsse. Bezüglich des weiteren Inhalts der mündlichen Verhandlung wird auf das Sitzungsprotokoll verwiesen.

 

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie die Sachakte der Beklagten verwiesen, die dem Gericht bei der Entscheidung vorgelegen haben.

 


 

Entscheidungsgründe

 

I.

Die Klage ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten (§ 54 SGG). Der Kläger hat Anspruch auf Versorgung mit einem Pflegebett O1.

 

1.

Anspruchsgrundlage für den Anspruch auf Versorgung mit dem Pflegebett O1 ist § 40 Abs. 1 SGB XI. Gemäß § 40 Abs. 1 SGB XI haben Pflegebedürftige Anspruch auf Versorgung mit Pflegehilfsmitteln, die zur Erleichterung der Pflege oder zur Linderung der Beschwerden des Pflegebedürftigen beitragen oder ihm eine selbstständigere Lebensführung ermöglichen, soweit die Hilfsmittel nicht wegen Krankheit oder Behinderung von der Krankenversicherung oder anderen zuständigen Leistungsträgern zu leisten sind. 

 

2.

Die formellen Anspruchsvoraussetzungen liegen vor. Der Kläger hat am 30.03.2022 bei der Beklagten einen Antrag auf Versorgung mit dem Pflegebett O1 gestellt. Zwar richtet sich der Anspruch nach § 40 Abs. 1 SGB XI gegen die Pflegeversicherung, und nicht gegen die Krankenkasse. Es ist allerdings die Zuständigkeitsregelung des § 40 Abs. 5 SGB XI zu beachten. § 40 Abs. 5 SGB XI lautet: „Für Hilfsmittel und Pflegehilfsmittel, die sowohl den in § 23 und § 33 des Fünften Buches als auch den in Absatz 1 genannten Zwecken dienen können, prüft der Leistungsträger, bei dem die Leistung beantragt wird, ob ein Anspruch gegenüber der Krankenkasse oder der Pflegekasse besteht und entscheidet über die Bewilligung der Hilfsmittel und Pflegehilfsmittel.“ Nach § 40 Abs. 5 Satz 1 SGB XI hat der angegangene Leistungsträger – d.h. der Träger, bei dem die Versorgung mit Hilfsmitteln bzw. Pflegehilfsmitteln beantragt wird – also sowohl die für die Krankenversicherung als auch die für Pflegeversicherung geltenden Rechtsvorschriften (also auch die für den jeweils anderen Träger geltenden Regelungen) zu prüfen und sodann über die Bewilligung der Hilfsmittel bzw. Pflegehilfsmittel abschließend zu entscheiden (Leitherer in: BeckOGK, Stand: 01.03.2021, § 40 SGB XI Rn. 45). Leistungsverpflichtung und Passivlegitimation gehen also jeweils auf den zuerst angegangenen Träger über (Knorr in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XI, 4. Aufl. 2024, § 40 SGB XI, Rn. 97). Die Regelungen des Absatz 5 dienen nur der Verwaltungsvereinfachung bzw. der internen Abgrenzung zwischen Krankenkasse und Pflegekasse; sie haben keine Auswirkungen auf die Ansprüche der Versicherten und dürfen weder zu einer Ausweitung noch zu einer Einschränkung bestehender Rechtsansprüche führen (vgl. BT-Drs. 17/6906 S. 102). Absatz 5 Satz 1 kann allerdings z.B. bei Antragstellung bei einer Krankenkasse zu deren Passivlegitimation auch dann führen, wenn der Anspruch des Leistungsberechtigten nicht nach dem SGB V, sondern nach dem SGB XI besteht.

 

Danach war die Beklagte als angegangener Leistungsträger hier zuständig für die abschließende Prüfung der Bewilligung des Hilfsmittels sowohl nach Krankenversicherungsrecht als auch nach Pflegeversicherungsrecht. Es ist daher unschädlich, dass der Antrag auf Versorgung mit dem Pflegehilfsmittel nicht bei der beigeladenen Pflegekasse gestellt wurde.

 

3.

Auch die materiellen Anspruchsvoraussetzungen liegen vor. Die Tatbestandsvoraussetzungen von § 40 Abs. 1 SGB XI sind erfüllt, weshalb der Kläger einen gebundenen Anspruch auf die begehrte Leistung hat. Zu den Tatbestandsvoraussetzungen im Einzelnen:

 

a) Der Kläger ist pflegebedürftig, denn bei ihm wurde der Pflegegrad 5 festgestellt.

 

b) Nach der Überzeugung der Kammer trägt das Pflegebett O1 zur Erleichterung der Pflege des Klägers bei.

 

Pflegehilfsmittel, die die Pflege erleichtern sollen, unterstützen die Pflegeperson bei der Ausübung der Pflegetätigkeit. Sie sind dann zu gewähren, wenn das Mittel die Pflege erleichtert; es kommt nicht darauf an, dass sie deutlich oder wesentlich verbessert wird. Die Pflegeperson soll mit dem Pflegehilfsmittel physisch und psychisch entlastet werden (Kuhn-Zuber in: Ehmann/Karmanski/Kuhn-Zuber, Gesamtkommentar Sozialrechtsberatung, 3. Auflage 2023, § 40 SGB XI Rn. 11). Anders als bei Absatz 4 Satz 1, der eine erhebliche Erleichterung verlangt, genügt für Absatz 1 Satz 1 jede faktisch spürbare Entlastung (Linke in: Krauskopf, Soziale Krankenversicherung, Pflegeversicherung, Stand: 122. EL Mai 2024, § 40 SGB XI Rn. 11). Zu einer Erleichterung der Pflege i.S.v. § 40 Abs. 1 S. 1 trägt ein Hilfsmittel z.B. bei, ohne das die Pflege zwar möglich wäre, aber die Pflegeperson stärker beanspruchen würde. Entsprechende Hilfsmittel sollen den Pflegenden entlasten, um seine Pflegebereitschaft zu erhalten (Linke, a.a.O.). Hintergrund ist, dass die Pflegeversicherung gemäß § 3 SGB XI mit ihren Leistungen vorrangig die häusliche Pflege und die Pflegebereitschaft der Angehörigen und Nachbarn unterstützen soll, damit die Pflegebedürftigen möglichst lange in ihrer häuslichen Umgebung bleiben können. Nicht zuletzt aus § 45a SGB XI lässt sich der Rechtsgedanke entnehmen, dass der Gesetzgeber auch die Interessen der Pflegepersonen im Blick hat, sie unterstützt und ihre Situation verbessern will, z.B. indem sie gezielt entlastet werden oder beratende Unterstützung erhalten. Dementsprechend ist auch nicht erforderlich, dass die Pflegeerleichterung im Zusammenhang mit einer der Katalogverrichtungen gemäß § 14 Abs. 4 SGB XI eintritt. Stattdessen ist ein weiterer Pflegebegriff zu Grunde zu legen, der die gesamte pflegerische Betreuung des Pflegebedürftigen erfasst (Linke, a.a.O.).

 

Nach der überzeugenden Rechtsprechung des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz (Urteil vom 20.08.2015 – L 5 P 15/15), der sich die Kammer anschließt, hat der Pflegeversicherungsträger erforderlichenfalls auch ein Pflegebett mit besonderen Sicherheitsvorkehrungen zu gewähren, wenn es dem Zweck der Pflegeerleichterung dient. Ähnlich argumentiert auch das Landessozialgericht Sachsen (Urteil vom 14.02.2008 – L 1 P 17/07), wonach ein Heimträger verpflichtet ist, den Pflegebedürftigen mit allen Hilfsmitteln zu versorgen, die bei drohenden Gefahren aufgrund Verwirrtheitszuständen, Lähmungen oder sonstigen Funktionseinschränkungen üblicher Art (etwa bei Altersdemenz, Morbus Alzheimer o.Ä.) benötigt werden.

 

An diesen Maßstäben gemessen steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass das Pflegebett O1 mit Überkletterschutz die häusliche Pflege des Klägers für die Eltern erleichtern würde. Das Pflegebett würde die Eltern nämlich bei der nächtlichen Beaufsichtigung des geistig behinderten Kindes entlasten.

 

Die Eltern des Klägers haben glaubhaft und eindringlich geschildert, dass sie durch die Pflege des Klägers erheblich belastet sind. Er bedarf ständiger Beaufsichtigung, da er weder Gefahrenbewusstsein noch Schmerzempfinden hat und zu selbstgefährdendem Verhalten neigt. Da der Kläger aufgrund seines gestörten Tag-Nacht-Rhythmus nachts oft wach wird, ist auch nachts Pflege nötig. Ihn während seiner nächtlichen Wachphasen unbeaufsichtigt zu lassen, kommt nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Dr. Fricke nicht in Betracht. Dieser hat sehr gut nachvollziehbar dargelegt, dass das Gitter des aktuell vorhandenen Bettes zu niedrig ist und deshalb das erhebliche Risiko besteht, dass der Kläger über das Gitter klettert und sich verletzt (z.B. an Fensterbrett, Heizkörper, Wand oder Fußboden). Obendrein hat der Kläger in der Dunkelheit eine besonders schlechte Orientierung wegen seiner Seh- und Hörbehinderungen und seines unsicheren Gangs. Erschwerend kommt hinzu, dass er in Notsituationen nicht um Hilfe rufen kann, da er nonverbal ist.

 

Die Kammer ist überzeugt, dass die ständige Beaufsichtigung eines geistig behinderten Kindes, das motorisch unruhig ist und weder über Gefahrenbewusstsein noch Schmerzempfinden verfügt, für die pflegenden Angehörigen eine erhebliche Belastung und größte körperliche und psychische Anstrengung bedeutet. Ein Pflegebett mit hohen Gittern und Überkletterschutz kann zur Entlastung der Pflegenden und zur Aufrechterhaltung ihrer Pflegebereitschaft beitragen, indem es kurze Augenblicke der Pflegepause gewährt – insbesondere auch bei der nächtlichen Pflege. Dauerhafter Schlafmangel bzw. dauerhaft gestörte Nachtruhe kann gesundheitsschädliche Folgen haben, weshalb die Pflegepersonen dahingehend zu schützen sind. Dies hat die Beklagte bei ihrer Leistungsentscheidung nicht ausreichend berücksichtigt. Bei Versorgung mit dem Pflegebett O1 mit Überkletterschutz hätten die Eltern die Gewissheit, dass der Kläger das Bett nicht verlassen und sich nicht selbst verletzen kann.

 

Auch für den Kläger sind unmittelbare positive Effekte zu erwarten, die sich pflegeerleichternd auswirken würden: Der Kläger könnte leichter in den Schlaf zurückfinden, denn das Gitter hätte für ihn keinen Reizfaktor mehr, wenn es für ihn unmöglich wäre, das Gitter zu überklettern. Die Dauer der nächtlichen Pflege würde so reduziert, was nicht nur gesundheitsschädlichen Schlafmangel der Eltern reduziert, sondern auch auf das Schul- und Berufsleben des Klägers und seiner Mutter mittelbar positive Auswirkungen hätte.

 

Die Kammer sieht sich in ihrer Ansicht durch die eingereichten ärztlichen Stellungnahmen bestätigt. Auch aus Sicht der behandelnden Ärzte Dr. B. vom W., Prof. Dr. M., Dr. med. J1 und Dr. B1 vom K., Dr. G. von der A., R1 (Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin), der Pflegeberaterin Frau S. sowie der Sozialpädagogin O3 und der Physiotherapeutin R. ist das Pflegebett aus Sicherheitsgründen notwendig.

 

c) Das Hilfsmittel ist auch nicht wegen Krankheit oder Behinderung von der Krankenversicherung oder anderen zuständigen Leistungsträgern zu leisten. § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB XI bestimmt eine vorrangige Leistungsverpflichtung der Krankenkasse und anderer zuständiger Leistungsträger, soweit die Hilfsmittel wegen Krankheit oder Behinderung zu erbringen sind. Es ist also stets vorrangig zu prüfen, ob es sich bei dem begehrten Produkt um ein Hilfsmittel i.S.d. § 33 SGB V handelt oder aus anderen Gründen eine Leistungsverpflichtung der Krankenkasse oder anderer Leistungsträger in Betracht kommt.

 

Eine Leistungsverpflichtung eines anderen Leistungsträgers kommt vorliegend nicht in Betracht. Insbesondere besteht kein Anspruch nach § 33 Abs. 1 SGB V gegen die Krankenversicherung. Gemäß § 33 Abs. 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind.

 

Vorliegend scheidet ein Anspruch nach § 33 Abs. 1 SGB V aus, da die Anspruchsvoraussetzungen nicht gegeben sind. Das Pflegebett dient insbesondere nicht dem Ausgleich einer Behinderung. Das Hilfsmittel ist erforderlich um eine Behinderung auszugleichen, wenn es seinem Zweck entsprechend die Auswirkungen der Behinderung beseitigt oder mindert und damit der Befriedigung eines Grundbedürfnisses dient (vgl. hierzu vertiefend BSG, Urteil vom 07.05.2020 – B 3 KR 7/19 R).  

 

Nach ständiger Rechtsprechung ist weder die Gefahrenabwehr, noch ein ungefährdeter Schlaf als Grundbedürfnis anzusehen. Nach einem Beschluss des Bundessozialgerichts vom 24.04.2008 – B 3 KR 24/07 B sind Gegenstände, die allein Zwecken der Unfallverhütung dienen, nicht von der gesetzlichen Krankenversicherung zu bezahlen, da die Gefahrenabwehr kein Grundbedürfnis sei. Ähnlich argumentiert auch das Landessozialgericht Sachsen in seinem Urteil vom 14.02.2008 – L 1 P 17/07. Danach zählt ein unbeeinträchtigter und ungefährdeter Schlaf nicht zu den allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens. Die Erforderlichkeit eines Hilfsmittels sei daher zu verneinen, wenn es allein darum gehe, Gefahren vorzubeugen. 

 

Da das Pflegebett im vorliegenden Fall die Verletzungsgefahren während der Nacht reduzieren soll, kann nach der vorgenannten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts bzw. des Landessozialgerichts Sachsen nicht von der Befriedigung eines Grundbedürfnisses durch das beantragte Pflegebett ausgegangen werden. Daran scheitert der Anspruch nach § 33 Abs. 1 SGB V.

 

d) Das beantragte Pflegebett widerspricht auch nicht dem Wirtschaftlichkeitsgebot i.S.v. § 29 SGB XI. Nach Überzeugung der Kammer stehen nämlich keine günstigeren Alternativen zur Verfügung. Der M. hatte in seinem Gutachten vom 18.08.2022 zwar angeregt, einen Käfig über/um ein handelsübliches Bett zu bauen, Klingelmatten oder Bewegungsmelder einzusetzen oder den gesamten Schlafraum von gefährdenden Gegenständen zu befreien. Nach Überzeugung der Kammer sind diese Alternativen aber nicht umsetzbar oder nicht gleichsam effektiv. Im Einzelnen:

 

Der M. lässt offen, wie der um das handelsübliche Bett zu bauende Käfig beschaffen sein soll. Eine nähere Beschreibung findet nicht statt. Insofern verbleiben bei der Kammer Zweifel an der Umsetzbarkeit. Es wäre zu berücksichtigen, dass der Käfig sehr stabil sein müsste, um auch Befreiungsversuchen des Klägers Stand zu halten (z.B. durch Überklettern). Des Weiteren dürfte er keine Gitter haben bzw. müsste mit Plexiglas verkleidet sein, da andernfalls die Gefahr bestünde, dass der Kläger – wie bei seinem Gitterbett – mit den Armen zwischen den Gitterstäben stecken bleibt. Auch dürfte es einer guten Polsterung bedürfen, da nicht auszuschließen ist, dass der Kläger mit seinem Kopf gegen den Käfig schlägt. Selbst wenn ein Käfig, der all diese Anforderungen erfüllt, realisierbar wäre, bleibt jedenfalls zweifelhaft, ob dieser Käfig kostengünstiger als das beantragte Pflegebett wäre.

 

Auch Klingelmatten erscheinen nicht als zumutbare Alternative. Der Sachverständige hat überzeugend ausgeführt, dass Klingelmatten häufig Fehlalarme auslösen würden und die Eltern obendrein erst dann reagieren könnten, wenn der Kläger bereits aus dem Bett gefallen sei. Selbiges ist bei Bewegungsmeldern anzunehmen.

 

Nach Überzeugung der Kammer ist es auch nicht möglich, das Kinderzimmer gefahrenlos bzw. gefahrenminimiert zu gestalten. Aus Sicht der Kammer haben die Eltern die Gefahren bereits weitestmöglich reduziert, etwa indem sie gefährliche Gegenstände aus dem Kinderzimmer entfernt und Matratzen um das Bett herum ausgelegt haben. Gleichwohl erscheint es nicht möglich, das Zimmer gänzlich gefahrlos zu gestalten. Die Eltern haben anschaulich geschildert, dass der Kläger bspw. auf die Fensterbank klettert, oder zielgerichtet mit dem Kopf gegen die Wand oder den Fußboden schlägt. Zudem hat der Sachverständige auf das Risiko hingewiesen, dass der Kläger stürzt und mit dem Kopf auf den Heizkörper aufschlägt.

 

Für das aktuell vorhandene Pflegebett O. ist kein Überkletterschutz verfügbar, weshalb eine Aufrüstung des vorhandenen Pflegebettes ebenfalls nicht als kostengünstigere Alternative in Betracht kommt.

 

Sonstige wirtschaftlichere Alternativen sind nicht ersichtlich. Nach den Einschätzungen des Sachverständigen ist das verordnete Pflegebett mit seinen vorgesehenen Abmessungen (Liegefläche ca. 90 x 200 cm; Höhe inkl. Überkletterschutz: ca. 200 cm) für viele weitere Jahre geeignet, eine geeignete Schlafsituation sicherzustellen und dem weiteren Wachstum des Klägers Rechnung zu tragen. Das Pflegebett O1 stellt sich daher insgesamt als wirtschaftlich dar.

 

e) Der Anspruch ist auch nicht mit der Begründung zu versagen, dass es sich um eine freiheitsentziehende Maßnahme handelt, die einer richterlichen Genehmigung nach § 1631b BGB bedarf. Gemäß § 1631b BGB bedarf eine Unterbringung des Kindes, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist, der Genehmigung des Familiengerichts. Diese Regelung findet allerdings auf Maßnahmen innerhalb des elterlichen Haushalts keine Anwendung; freiheitsentziehende Maßnahmen im elterlichen Haushalt sind folglich nicht genehmigungspflichtig (Kerscher in: BeckOGK, Stand: 01.11.2024, § 1631b BGB, Rn. 31). In der Gesetzesbegründung heißt es dazu:

„Die neue Vorschrift sieht entsprechend § 1906 Absatz 4 BGB vor, dass das Genehmigungserfordernis nur gilt, wenn die elterliche Entscheidung für ein Kind getroffen wird, das sich in einem Krankenhaus, einem Heim oder einer sonstigen Einrichtung aufhält. Es gilt daher insbesondere dann nicht, wenn sich das Kind im elterlichen Haushalt aufhält. Dort haben die Eltern selbst die Kontrollmöglichkeit, anders als wenn sich das Kind in einer Einrichtung befindet und die Eltern die Kontrollmöglichkeit abgeben müssen. Ein Genehmigungstatbestand wäre zudem in solchen Fällen kaum praktisch umsetzbar, da die Kontrolle durch das Familiengericht davon abhinge, ob die Eltern auch für solche Maßnahmen in ihrem eigenen Haushalt tatsächlich das Familiengericht einschalten. Auch insoweit besteht jedoch keine Schutzlücke, da – falls erforderlich – über § 1666 BGB der Kindesschutz auch in diesem Fall gewährleistet werden kann.(Bundestags-Drucksache 18/11278, Seite 16)

 

Somit ist die Entscheidung, den Kläger nachts in einem Gitterbett mit Überkletterschutz schlafen zu legen, von der elterlichen Sorge umfasst und bedarf keiner richterlichen Genehmigung.

 

 

II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und trägt dem Obsiegen des Klägers in der Hauptsache Rechnung.

 

 


 

 

 

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