L 6 VG 907/24

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6.
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 7 VG 2046/20
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 VG 907/24
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 14. Februar 2024 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.



Tatbestand

Die Klägerin begehrt im Wege des Überprüfungsverfahrens die Gewährung früherer und höherer Beschädigtenversorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung der Opfer von Gewalttaten (OEG) i. V.m. dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) aufgrund sexuellen Missbrauchs durch ihren Vater im Alter von 6 bis 17 Jahren.

Sie ist 1986 geboren und mit ihren Geschwistern – einer älteren Halbschwester, zwei Brüdern und einer jüngeren Schwester – bei den nicht verheirateten Eltern aufgewachsen. In der Schule hat sie zwei Klassen wiederholen müssen, ist mit 14 Jahren nach der Trennung der Eltern zum Vater gezogen. Nach der Hauptschule hat sie ein Berufsvorbereitungsjahr absolviert und den qualifizierten Hauptschulabschluss erworben. Nach abgeschlossener Ausbildung zur Fleischereifachverkäuferin bis 2011 wurde sie vom Ausbildungsbetrieb wegen Insolvenz nicht übernommen, hat als Prostituierte gearbeitet und nach Arbeitslosigkeit im April 2018 eine Halbtagsstelle in einer Metzgerei vermittelt bekommen. Sie hat dort bis zur Krankschreibung ab 6. Mai 2019 fünf Stunden täglich gearbeitet. Mit Bescheid vom 31. Juli 2020 hat die Deutsche Rentenversicherung Bund (DRV) aufgrund des Antrages vom 8. Juli 2015 Rente wegen voller Erwerbsminderung ab dem 1. Juli 2015 längstens bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze in Höhe von 716,16 € monatlich gewährt und eine Nachzahlung von 39.719,36 € festgestellt. Die Klägerin wohnt zusammen mit ihrer Schwester (vgl. Anamnese N1).

Am 19. Mai 2011 beantragte sie bei dem Landratsamt M1 (LRA) die Gewährung von Beschädigtenversorgung, welches den Antrag zunächst an der Landratsamt T1 weiterleitete, zwischenzeitlich aber wieder zuständig ist. Das LRA zog das Strafurteil des Landgerichts M4 vom 16. September 2011 bei, durch welches R1 (R.) – der Vater der Klägerin – wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in 294 Fällen sowie sexuellen Missbrauch von Kindern in 132 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 11 Jahren verurteilt worden ist.

Als Taten zum Nachteil der Klägerin wurden im Zeitraum von Oktober 1993 bis März 1998 die Durchführung von Oralverkehr in 108 Fällen, im Zeitraum vom 1. Januar 1998 bis 12. November 2000 die Durchführung von Oralverkehr in 61 Fällen sowie an einem Wochenende im Jahr 1996 das Einführen der Finger des Angeklagten in den After der Klägerin festgestellt. Weiterer Oralverkehr in 74 Fällen ab dem 14. Lebensjahr der Klägerin sowie der Beischlaf mit ihr ab ihrem 14. Lebensjahr und der Analverkehr mit der Klägerin ab ihrem 15. Lebensjahr wurden als verjährt angesehen.

Der festgestellte Sachverhalt beruhe auf dem Geständnis des Angeklagten, dem wichtig gewesen sei, darauf hinzuweisen, dass er nie Gewalt oder Drohungen bei seinen Töchtern angewandt habe. Er habe sie einfach gefragt und sie hätten es zugelassen. Es sei für ihn ganz normal gewesen. Die Klägerin habe erklärt, dass R. immer nur vom „Geschäft“ gesprochen habe, wenn es um Sex gegangen sei. Sie leide unter den Übergriffen und befinde sich seit Mai 2011 in psychiatrischer Behandlung, nachdem sie am 30. April 2011 versucht habe, sich die Pulsadern aufzuschneiden.

Das LRA erhob den Befundschein des M2, der eine hausärztliche Behandlung der Klägerin seit 1993 angab. Seit 2007 sei bei ihr eine paranoid-halluzinatorische Schizophrenie bekannt. Später hätten diverse stationäre Krankenhausaufenthalte stattgefunden. Eine direkte Therapie der Grunderkrankung sei durch ihn nicht erfolgt.

Im Bericht des E1 aufgrund ambulanter Behandlung vom 6. September 2007 wurde ausgeführt, dass unter Medikation ein stabiler Zustand bestehe, es sei keine produktiv psychotische Symptomatik mehr aufgetreten. Das Arbeitsamt habe ein Praktikum in einer Bäckerei vermittelt, die anschließend geplante Ausbildung sei abgesagt worden, da das Arbeitsamt offensichtlich keine ausreichende Belastbarkeit gesehen habe. Weitere berufsintegrierende Maßnahme sollten versucht werden.

In seinem Befundschein gab E1 an, die Klägerin zwischen 2007 und 2010 behandelt zu haben. Beim Erstkontakt habe sie über Cannabiskonsum seit dem 17. Lebensjahr und Konsum von Kokain und Amphetaminen berichtet. Die Schwester leide unter einer schizophrenen Psychose, die Klägerin selbst sei arbeitslos gewesen und habe berichtet, sich zum Erwerb der Drogen prostituiert zu haben. Bis Januar 2008 sei sie regelmäßig zu den Therapieterminen gekommen und habe sich dann erst wieder im März 2010 vorgestellt. Eine Wahnsymptomatik habe zum damaligen Zeitpunkt nicht bestanden, sondern eine Erschöpfungssymptomatik. Weitere Kontakte seien vereinbart, aber nicht wahrgenommen worden.

Der Z1 gab in seinem Befundschein eine psychiatrische Behandlung der Klägerin seit 1. August 2011 an. Diese lebe seit August 2011 zurückgezogen in einem Teilort von R2 in einer gemieteten Wohnung, sie sei zu den vereinbarten Gesprächen und zur Gabe der Depot-Spritze gekommen. Während der gesamten Zeit sei sie arbeitsunfähig gewesen und habe ihre Ausbildung nicht fortsetzen können. Am 26. Januar 2012 sei sie das letzte Mal in Begleitung der Schwester zur Spritzengabe gekommen und habe über die Absicht, nach M3 zurückzuziehen, berichtet. Sie habe im Antrieb und in der Psychomotorik deutlich gemindert gewirkt.

Weiter zog das LRA die Entlassungsberichte des Krankenhauses T2 über die stationären Behandlungen der Klägerin bei:

Im Bericht über den ersten stationären Aufenthalt vom 5. März bis 24. April 2007 wurde ausgeführt, dass die Klägerin auf die beschützte Station gebracht worden sei, nachdem sie sich in der Ambulanz akut psychotisch gezeigt habe. Zuvor sei eine Vorstellung beim Frauenarzt erfolgt, der sie in die Klinik überwiesen habe.

Die Mutter der Klägerin habe chaotisch und unzusammenhängend über die Vorfälle berichtet, ihr habe nur schwer gefolgt werden können. Es habe sich das Bild einer zerstrittenen Familie ergeben. Die Klägerin wohne im gleichen Haus wie ihr Vater. Die größere Schwester der Klägerin arbeite als Prostituierte, habe viel Geld und manipuliere ihre Geschwister.

Auf Nachfrage sei angegeben worden, dass die Vorstellung beim Frauenarzt wegen eines Schwangerschaftsabbruchs erfolgt sei. Die Mutter habe angegeben, einen guten Kontakt zu ihrer Tochter zu haben, auch der Vater sei gut zu ihr. Die Klägerin habe nur den Hauptschulabschluss geschafft und lebe im Wesentlichen vom Kindergeld. Der Freund der Klägerin habe über gelegentlichen Cannabiskonsum berichtet, früher sei mehr Alkohol konsumiert worden, auch Amphetamine und Ecstasy. Heute Morgen habe der Freund der Klägerin ein Antidepressivum gegeben, weil sie seit einigen Tagen komisch geworden sei. Sie habe SMS mit einem Mann geschrieben. Er gehe davon aus, dass es ihr Ex-Freund gewesen sei, von dem sie ebenfalls schwanger gewesen sei und abgetrieben habe. Ferner sei die Klägerin durch den Einzug des Vaters in die Nachbarwohnung belastet, fühle sich kontrolliert.

Mit der Klägerin selbst sei eine adäquate Gesprächsführung nicht möglich gewesen. Aufnahmeanlass sei eine ausgeprägte psychotische Symptomatik nach Cannabiskonsum und bekanntem regelmäßigen Abusus gewesen. Unter einer antipsychotischen Therapie sei nur eine langsame Besserung der Symptomatik eingetreten. Die Motivation zum weiteren stationären Verbleib habe sich schwierig gestaltet, da die Klägerin nur wenig Krankheitseinsicht vermittelt habe und ihre Symptomatik zu bagatellisieren schiene. Die Entlassung sei nach sechs Wochen entgegen ärztlichem Rat auf Drängen der Klägerin erfolgt.

Die Aufnahme vom 1. bis 25. Mai 2011 erfolgte, nachdem die Schwester die Klägerin mit Ritzverletzungen am linken Unterarm aufgefunden hatte. Die Klägerin habe langsam und emotionslos berichtet, dass es ihr schlecht gehe. Sie habe vor eineinhalb Jahren eine Aussage bei der Polizei gemacht, damals habe sie „ihren Arsch retten“ wollen und ihre drogensüchtigen Freunde verpetzt. Seitdem fühle sie sich verfolgt und beobachtet. Sie mache eine Ausbildung in einer Metzgerei, jeder der hereinkomme „verarsche“ sie. Die Schwester habe angegeben, dass sie selbst und die Klägerin von ihrem Vater missbraucht worden seien, sie wollten heute eine Anzeige bei der Polizei machen, um opferrechtlich abgesichert zu sein. Die Klägerin habe bestätigt, dass sie von ihrem 6. bis zum 18. Lebensjahr von dem Vater missbraucht worden sei. In der Aufnahmemitteilung (vgl. Bl. 170 Verw-Akte) wurde als Diagnose eine Dekompensation einer drogeninduzierten paranoiden Psychose genannt.

Die Klägerin sei wach, bewusstseinsklar und zu allen Qualitäten orientiert. Im formalen Gedankengang sei sie zerfahren und verlangsamt vorbeiredend, inhaltliche Denkstörungen in Form von Verfolgungs- und Beobachtungswahn sowie Beeinflussungs- und Beeinträchtigungsideen bestünden. Das Ich-Erleben sei gestört. Die Entlassung sei nach drei Wochen bei Remission der akut psychotischen Situation erfolgt, da die Klägerin ihre Ausbildung zur Fleischfachverkäuferin habe fortsetzen sollen.

Mit Bescheid vom 27. Februar 2013 lehnte das LRA die Gewährung von Beschädigtenversorgung wegen fehlender Mitwirkung (§ 66 Erstes Buch Sozialgesetzbuch [SGB I]) ab.

Nachdem die Klägerin erklärt hatte, das Verfahren weiter verfolgen zu wollen, holte das LRA das psychiatrischen Gutachten des J1 aufgrund Untersuchung vom 13. Januar 2014 während eines stationären Aufenthalts ein. Dieser führte zum Krankheitsverlauf aus, dass die Klägerin 2007 erstmals stationär behandelt worden sei. E1 habe die Klägerin im ambulanten Rahmen medikamentös eingestellt, die Behandlung habe bis 2010 angedauert. 2011 sei ein erneuter stationärer Aufenthalt erfolgt, danach eine ambulante Behandlung bei Z1. Weitere stationäre Aufenthalte hätten 2012 und 2014 stattgefunden.

Die Klägerin sei im Rahmen des stationären Aufenthaltes pünktlich zur gutachterlichen Untersuchung erschienen. Sie beschreibe Erfahrungen schwerster sexueller Gewalt und Missbrauch durch ihren Vater über 11 Jahre. Über die Jahre hätten die Übergriffe an Intensität und Brutalität zugenommen, sie sei vom Vater für dieses „Geschäft“, wie er es bezeichnet habe, finanziell entlohnt worden, anfangs mit 5 DM. Im Alter von 14 Jahren sei sie eine intime Beziehung zu einem jungen Mann eingegangen, in der es zu Sexualität gekommen sei. Nachdem ihr Vater davon erfahren habe, habe er sie regelmäßig gedrängt, mit ihm zu schlafen. Als 17-jährige sei sie zum ersten Mal schwanger gewesen, neben ihrem Vater seien zwei weitere Männer als potentielle Väter in Betracht gekommen. Sie habe sich zum Schwangerschaftsabbruch entschieden und sich in den Konsum von Drogen (THC) geflüchtet. Daneben seien Kokain und Amphetamine konsumiert worden. Der Vater habe sich im Verlauf von ihr distanziert und sich der acht Jahre jüngeren Schwester zugewandt. Im März 2007 seien erstmalig Wahnwahrnehmungen aufgetreten. Im April 2011 habe sie erstmals suizidale Gedanken entwickelt, als sie bei einer Familienfeier mit dem Vater an einem Tisch habe sitzen müssen. Im Rahmen der klinischen Beobachtung seien Halluzinationen mit direktem Bezug zu dem langjährigen sexuellen Missbrauchserleben in der Vergangenheit deutlich geworden. Die stationären Behandlungen seien stets aufgrund der Exazerbation der paranoiden Schizophrenie und Cannabisabusus erfolgt.
Psychisch sei die Klägerin wach und allseits orientiert gewesen, in der Untersuchungssituation freundlich zugewandt. Sie berichte in detailreicher Schilderung mit etwas verlangsamter monotoner Stimme sehr offen über die Geschehnisse des sexuellen Missbrauchs, eine Tendenz zur Affektisolierung sei deutlich geworden. Mitunter komme es zu läppischen Äußerungen, hinsichtlich des Drogenkonsums in der Vergangenheit bestehe kaum Ernsthaftigkeit. Der Antrieb sei reduziert, inhaltliche oder formale Denkstörungen zeigten sich keine. Es stehe eine Minussymptomatik mit Antriebsstörungen, Nivellierung und vermindertem Durchhaltevermögen im Vordergrund, aktuell ohne Hinweise auf produktiv-psychotisches Erleben.

Bei der Klägerin liege eine paranoid-halluzinatorische Schizophrenie vor, die seit der Erstdiagnose einen schweren, chronifizierten Verlauf mit einer deutlichen Residualsymptomatik nehme. Weiterhin bestehe ein ausgeprägter Abusus von Cannabinoiden. Eine eigentliche posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) als monokausale Folge des wiederholten schweren sexuellen Missbrauchs liege nicht vor. Der Missbrauch durch den Vater könne nicht als monokausale Ursache der schizophrenen Psychose und des Cannabismissbrauchs angesehen werden, jedoch als Mitursache des schweren Verlaufs. Schizophrene Psychosen seien als multifaktorielles Geschehen aufzufassen, wobei neben genetischen, nicht näher bekannte Reifungsstörungen des Gehirns auch traumatische Lebenserfahrungen eine Rolle spielten. Allgemein anerkannt sei das Modell einer erhöhten Vulnerabilität von Menschen mit der Veranlagung für eine schizophrene Psychose.

Möglicherweise wäre es auch ohne den wiederholten und schweren sexuellen Missbrauch durch den Vater zum Ausbruch der Psychose gekommen, aber diese traumatischen Erlebnisse seien sicherlich als Mitursache des schweren Verlaufs der schizophrenen Psychose mit Cannabisabusus anzunehmen. In diesem Zusammenhang sei zu betonen, dass der schwere und wiederholte sexuelle Missbrauch der Klägerin bereits ab dem 6. Lebensjahr angefangen und die Reifung der Persönlichkeit schwer beeinträchtigt habe. Sexueller Missbrauch in der Kindheit müsse nicht monokausal eine PTBS hervorrufen, sondern habe auch Einfluss auf die Entstehung und den Verlauf anderer psychischer Erkrankungen.

Die Erstmanifestation der schizophrenen Psychose sei 2007, also im 20. Lebensjahr der Klägerin gewesen. Der wiederholte schwere sexuelle Missbrauch habe im 6. Lebensjahr begonnen und über 11 Jahre angedauert. In diesem Sinne habe keine fassbare Vorschädigung bestanden, es sei denn, man bezeichne die Disposition für den Ausbruch einer schizophrenen Psychose als Vorschädigung, welche jedoch nicht detailliert abzugrenzen sei. Der sexuelle Missbrauch sei als wichtige Mitursache für den Ausbruch der schizophrenen Psychose mit schwerem Verlauf anzusehen, diesen nur als Gelegenheitsursache zu bewerten, greife sicherlich zu kurz. Die derzeitige „Gesamt-MdE“ betrage 100 vom Hundert (v.H.). Da der wiederholte sexuelle Missbrauch nicht als monokausale Ursache für die schwere schizophrene Psychose gewertet werden könne, sondern als wichtige Mitursache, könne der GdS dieser Mitursache bei einem solch komplexen Krankheitsbild nur geschätzt werden. Diese sei mit einem GdS von 30 bis 40 anzunehmen. Eine Nachprüfung werde in drei bis fünf Jahren empfohlen, da der Verlauf von schizophrenen Psychosen nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit vorausgesagt werden und sich der Gesundheitszustand bessern könne.

Das LRA zog weiter die – elektronische – Karteikarte des M2 bei, der weitere Befundberichte vorlegte.

Die S1 führte aus, dass dem psychiatrischen Gutachten im Wesentlichen zugestimmt werde. Es sei bei der Klägerin kein Vorschaden feststellt worden, die schizophrenen Psychosen seien als multifaktorielles Geschehen aufzufassen, wobei neben genetischen, nicht näher bekannten Reifungsstörungen des Gehirns auch traumatische Lebenserfahrungen eine Rolle spielten. Allgemein anerkannt sei das Modell einer erhöhten Vulnerabilität von Menschen mit der Veranlagung für eine schizophrene Psychose. Für den schweren Verlauf der Gesundheitsstörung werde der ursächliche Zusammenhang mit Missbrauchserlebnissen zu Grunde gelegt. Als Bezeichnung der Schädigungsfolgen werde „paronoid-halluzinatorische Schizophrenie, Cannabis-Abusus“ vorgeschlagen, der GdS betrage 30 als „Mitursache für den schweren Verlauf“. Eine Nachprüfung solle in vier Jahren erfolgen. Ausweislich des Prüfvermerks wurde dem seitens des Regierungspräsidiums S2 – Landesversorgungsamt – zugestimmt.

Mit Erstanerkennungsbescheid vom 10. November 2014 stellte das LRA fest, dass die Klägerin Opfer von Gewalttaten nach dem OEG geworden ist und stellte als Folgen der Schädigung „Paranoid-halluzinatorische Schizophrenie, Cannabis-Abusus“, hervorgerufen durch schädigende Einwirkungen im Sinne des § 1 OEG fest. Es ergebe sich ein Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 30 seit dem 1. Mai 2011. Ab dem 1. Mai 2011 werde Beschädigtenversorgung gewährt, die Nachzahlung betrage 5.427,00 €.

Die S1 führte am 19. April 2018 aus, dass sich die Klägerin weiterhin im Betreuten Wohnen befinde, ein Vordruck für einen Verschlimmerungsantrag sei abgeholt, aber nicht zurückgesandt worden. Nach Aktenlage sei davon auszugehen, dass sich der Gesundheitszustand nicht verbessert habe und nicht erwartet werden könne, dass bei einer Nachuntersuchung ein geringerer GdS festgestellt werde. Auf eine Nachuntersuchung werde daher auch für die Zukunft verzichtet.

Am 11. Dezember 2018 beantragte die Klägerin die Verzinsung der Nachzahlung sowie die Überprüfung des Bescheides vom 10. November 2014 gemäß § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X).

Am 30. Juni 2019 beantragte die Klägerin weiter, den GdS nach § 30 Abs. 2 BVG wegen besonderer beruflicher Betroffenheit höher zu bewerten sowie Berufsschadensausgleich und Ausgleichsrente zu gewähren.

Zur Akte gelangte der Entlassungsbericht des Krankenhauses T2 über die stationäre Behandlung der Klägerin vom 6. Mai bis 3. Juli 2019, in dem als Diagnose eine paranoide Schizophrenie mit schizophrenem Residuum beschrieben wurde. Die Klägerin sei im Rahmen einer beginnenden Dekompensation der vorbekannten paranoiden Schizophrenie stationär eingewiesen worden.

Sie habe nach dem Hauptschulabschluss eine Ausbildung zur Fleischereifachverkäuferin abgeschlossen und arbeite in diesem Beruf 25 Stunden die Woche. Sie lebe mit ihrer Schwester zusammen in einer Mietwohnung. Die Klägerin gebe an, seit 2013 keine Drogen mehr zu konsumieren, davor verschiedene Substanzen, Amphetamine, Ectasy, Kokain, Speed und Kräutermischungen aus dem Internet.

Unter der medikamentösen Behandlung habe sich zwar keine Remission, aber eine leichte Besserung des psychischen Erlebens gezeigt, sodass eine Entlassung aus der stationären Behandlung erfolgt sei.

Weiter gelangte der Bescheid der AOK vom 24. Juli 2019 zur Akte, wonach die Klägerin Leistungen der Pflegeversicherung nach Pflegegrad 3 erhalte sowie das Pflegegutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) vom 22. Juli 2019.

Das LRA holte das neurologisch-psychiatrische Gutachten des N1 aufgrund ambulanter Untersuchung vom 29. Juli 2019 ein. Diesem gegenüber gab die Klägerin an, dass sie 30 bis 40 Zigaretten am Tag rauche und eine halbe Flasche Wodka trinke. Sie fühle sich durchaus alkoholabhängig, den früheren Drogenkonsum habe sie vor sechs Jahren beendet. Wegen ihrer psychischen Erkrankung sei sie zwischen März 2007 und Juli 2019 fünfmal stationär behandelt worden. 2010 während ihrer Tätigkeit als Fleischereifachverkäuferin sei die Polizei ins Geschäft gekommen und habe eine Hausdurchsuchung veranlasst. Sie sei dann zu psychologischen Gesprächen über ein Jahr hinweg verpflichtet worden und vorübergehend in Betreuung gewesen. Derzeit werde sie hausärztlich betreut und besuche einmal monatlich die psychiatrische Institutsambulanz.

Zu den aktuellen Beschwerden werde ein Gefühl ständigen Beobachtetwerdens durch Drogendealer, die vor ihrer Haustüre stünden, beschrieben. Ihre Gedanken seien total verwirrt, drehten sich immer wieder um die Zeit des Drogenkonsums und das schockierende Erlebnis des Auftauchens der Polizei am Arbeitsplatz.

Die kürzlich erfolgte stationäre Behandlung, die die Mutter veranlasst habe, habe keinen wesentlichen Erfolg gehabt. Ihre Stimmung sei durchgehend bedrückt, ohne den Konsum von Wodka könne sie den Tag kaum durchstehen. Sie habe keine Freunde mehr, finde das Leben nicht mehr lebenswert, werde sich allerdings mit Rücksicht auf ihre Familie nicht suizidieren. Der Schlaf sei extrem wechselhaft, teilweise schlafe sie tagelang, sei dann wieder sechs Tage praktisch ohne Schlaf. Angesichts ihrer „wirren Gedanken“ sei die Merkfähigkeit stark beeinträchtigt, sie könne sich nur schlecht konzentrieren. Ihr Alltag sei gekennzeichnet durch große Ängste. Einkaufen gehen könne sie nur in Begleitung ihrer Mutter.

In der Untersuchungssituation sei die Klägerin kooperativ gewesen, das Verhalten situationsadäquat. In den Angaben zur Vorgeschichte und den aktuellen Beschwerden habe sie nicht sehr präzise gewirkt, prinzipiell jedoch offen und glaubhaft. Mimik und Gestik wirkten hochgradig reduziert, in Antrieb und Psychomotorik erkennbar gemindert, ohne erkennbare affektive Schwingungsfähigkeit bei klagsam-negativistischer, subdepressiv-resignativer Grundstimmung. Sie sei allseits voll orientiert, im Gedankengang formal geordnet, inhaltlich aber deutlich paranoid gefärbt.

Die Klägerin sei im Rahmen problematischer familiärer Verhältnisse, gekennzeichnet durch Alkohol- und Spielsucht des Vaters mit Gewalttätigkeit gegenüber der Mutter sowie Opfer schwersten sexuellen Missbrauchs durch den Vater im Alter zwischen 6 und 17 Jahren geworden. Nach zweimaliger Klassenwiederholung habe sie die Hauptschule beendet, im Rahmen eines Berufsvorbereitungsjahres den qualifizierten Hauptschulabschluss erlangt und habe eine Ausbildung zur Fleischereifachverkäuferin absolviert. Nach 2011 sei sie arbeitslos gewesen und habe für einige Monate ihren Lebensunterhalt durch Prostitution verdient. Ab 1. April 2018 bis zur Krankschreibung seit 6. Mai 2019 habe sie eine Halbtagsstelle in ihrem Ausbildungsberuf ausgeübt. Sie lebe aktuell mit einer ihrer ebenfalls psychisch kranken Schwestern zusammen, betreut und unterstützt durch die in der Nähe lebende Mutter.

Erstmals habe die Klägerin die Symptomatik einer paranoiden Schizophrenie im März 2007 mit nachfolgend zwischenzeitlich fünf stationären Behandlungen entwickelt, anfangs auch wegen begleitenden Drogenkonsums, vor allem THC. Der Krankheitsverlauf sei durch deutliche Schwankungen der Symptomatik der psychischen Erkrankung mit vorübergehender Stabilisierung auf vergleichsweise niedrigem Niveau bei aktuell florider psychotischer Symptomatik, auch nach dem kürzlichen stationären Aufenthalt, gekennzeichnet.

Im Rahmen der aktuellen Begutachtung habe die Klägerin ausgeprägte paranoide Beeinträchtigungserlebnisse beklagt. Sie fühle sich von Drogendealern beobachtet, diese seien in der Lage, ihre Gedanken von den Lippen abzulesen. Die Stimmung sei durchgehend bedrückt, einen Tag könne sie nur mit regelmäßigem Konsum einer halben Flasche Wodka durchstehen. Sie rauche 30 bis 40 Zigaretten am Tag und leide deshalb unter heftigen Asthmaanfällen.

Die im Erstbescheid zuerkannten Schädigungsfolgen seien insofern revisionsbedürftig, als bei unzweifelhaft fortbestehender paranoid-halluzinatorischer Schizophrenie aktuell nicht ein Cannabis-, sondern ein Alkoholabusus bestehe. Dieser könne zeitlich nicht näher definiert werden. Gegenüber dem Gutachten vom 10. März 2014 sei eine wesentliche Verschlimmerung der anerkannten Schädigungsfolgen nicht festzustellen. Den Ausführungen des J1 zur Genese und Manifestation der schizophrenen Psychose auch im Hinblick auf die sexuelle Missbrauchsproblematik sei auch aus aktueller gutachterlicher Sicht vollumfänglich zuzustimmen. Zwischenzeitlich sei es nur zu einer Suchtverlagerung von Cannabis auf Alkohol gekommen. Der GdS im Erstbescheid sei mit 30 zutreffend festgesetzt. Eine Zuerkennung der Leistungen ab Beginn der Taten (Oktober 1993) sei aus psychiatrischer Sicht nicht begründbar, Nachuntersuchungen seien verzichtbar. Der GdB sei mit 100 auch aktuell zutreffend eingeschätzt.

L1 schloss sich versorgungsärztlich dem Gutachten an, der GdS sei mit 30 zu bewerten. Dem Gutachten wurde von G1, Regierungspräsidium S2 – Landesversorgungsamt -, ebenfalls zugestimmt.

Mit Bescheid vom 9. September 2019 lehnte das LRA die Erteilung eines Rücknahmebescheides nach § 44 SGB X ab, über die Verzinsung ergehe noch ein gesonderter Bescheid. N1 habe festgestellt, dass der GdS und die Bezeichnung der Schädigungsfolgen im Erstbescheid vom 10. November 2014 zutreffend gewesen seien. An dieser Bindung müsse festgehalten werden. Die Voraussetzungen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs lägen nicht vor. Allerdings sei ab dem Zeitpunkt des Überprüfungsantrags die Bezeichnung der Schädigungsfolgen anzupassen, an der Höhe des GdS ergäben sich daraus keine Änderungen. Hierüber ergehe ein gesonderter Bescheid.

Mit Bescheid vom 10. September 2019 änderte der Beklagte die Bezeichnung der vorliegenden Gesundheitsstörungen in „paranoid-halluzinatorische Schizophrenie mit begleitendem Alkoholabusus“ ab. Zur Begründung führte er aus, dass der Bescheid nach § 48 SGB X aufzuheben sei, soweit eine Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen eintrete. Eine solche Änderung in den Schädigungsfolgen liege nach dem Ergebnis des Gutachtens vor.

Mit Bescheid vom 7. Oktober 2019 wurde die Nachzahlung des Erstanerkennungsbescheides vom 10. November 2014 mit 240,00 € verzinst.
Gegen die Bescheide vom 9. und 10. November 2019 erhob die Klägerin jeweils Widerspruch.

Im Widerspruchsverfahren führte G1 versorgungsärztlich aus, dass das Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ zusammenfassend zu beurteilen und bewerten sei. Eine zusammenfassende Nennung der psychiatrischen Diagnosen in der Bezeichnung der Schädigungsfolgen und zusammenfassende Bewertung sei weiterhin als sachgerecht anzusehen. Einer Änderung der Bezeichnung der Schädigungsfolgen in „paranoid halluzinatorische Schizophrenie mit Abhängigkeitserkrankung“ könne zugestimmt werden.

Beide eingeholten Gutachten seien zu der Einschätzung gelangt, dass entsprechend dem derzeitigen wissenschaftlichen Kenntnisstand bei schizophrenen Psychosen von einem multifaktoriellen komplexen Ursachengefüge auszugehen sei und dass im vorliegenden Fall der sexuelle Missbrauch als Mitursache eines schweren Verlaufs der Psychose angenommen werden könne. Deshalb sei weiter an einem anteilig geschätzten GdS von 30 für die Schädigungsfolgen festzuhalten.

Mit Widerspruchsbescheid vom 26. Juni 2020 wies das Regierungspräsidium S2 – Landesversorgungsamt – den Widerspruch gegen den Bescheid vom 9. September 2019 zurück. Nach der eingeholten versorgungsärztlichen Stellungnahme lasse sich nicht feststellen, dass die Schädigungsfolgen mit einem GdS von 30 unzutreffend eingeschätzt worden seien.

Mit weiterem Widerspruchsbescheid vom 29. Juni 2020 wies das Regierungspräsidium S2 – Landesversorgungsamt – den Widerspruch gegen den Bescheid vom 10. September 2019 zurück. Mit dem angefochtenen Bescheid sei die Bezeichnung der Schädigungsfolgen geändert worden. Nach der eingeholten versorgungsärztlichen Stellungnahme sei eine zusammenfassende Nennung der psychiatrischen Diagnosen in der Bezeichnung der Schädigungsfolgen und die zusammenfassende Bewertung weiterhin als sachgerecht anzusehen. Es könnte die Bezeichnung der Schädigungsfolge lediglich in „paranoid-halluzinatorische Schiziophrenie mit Abhängigkeitserkrankung“ geändert werden. Eine Erhöhung des GdS ergebe sich hieraus jedoch nicht.

Am 27. Juli 2020 hat die Klägerin Klage beim Sozialgericht Heilbronn (SG) erhoben und unter Abänderung des Bescheides vom 10. November 2014 einen Beginn der Versorgung bereits ab Oktober 1993 sowie nach einem GdS von 100 begehrt.

Zur Akte gelangt sind der vorläufige und endgültige Entlassungsbericht des Universitätsklinikums W1 über die stationäre Behandlung vom 30. Juli bis 13. August 2020. Darin sind als Diagnosen eine paranoide Schizophrenie und ein schädlicher Gebrauch von Alkohol benannt. Bei Entlassung habe keine Eigen- und Fremdgefährdung bestanden.

Die stationäre Aufnahme sei auf Grund eines paranoid-halluzinatorischen Syndroms mit zunehmend bestehender depressiver Symptomatik bei vordiagnostizierter paranoider Schizophrenie und zur Entzugsbehandlung bei schädlichem Gebrauch von Alkohol erfolgt. Unter Medikation sei es zu einer Steigerung des Antriebs und einer ausgeglichenen Stimmung gekommen. Eine körperliche Alkoholentzugssymptomatik habe sich nicht gezeigt.

Weiter ist der Arztbrief des Krankenhauses T2 vom 7. Februar 2023 vorgelegt worden. Danach habe die Klägerin 2021 über eine Besserung der Zwangsgedanken unter Anpassung der Medikation berichtet. 2022 hätten die Schwestern über eine vermehrte Vergesslichkeit der Klägerin berichtet. Der letzte ärztliche Kontakt sei am 9. Januar 2023 gewesen, die Klägerin gebe an, zwei Monate lang eine halbe Flasche Schnaps pro Tag getrunken zu haben. Das Verfahren über die Höhe der Opferentschädigung sei noch nicht abgeschlossen. Es müsse neu aufgerollt werden, da der Klägerin nur ein GdS von 30, ihrer weniger stark betroffenen Schwester aber ein GdS von 70 zugesprochen worden sei, was der reellen Belastung nicht gerecht werde. Im Zusammenhang mit dem für den 15. Februar 2023 anberaumten Verhandlungstermin habe sie über vermehrte Flashbacks berichtet.

Mit der Klägerin sei erneut die frühere traumatische Situation besprochen worden. Insbesondere seien die akustischen Halluzinationen nach einem Schwangerschaftsabbruch im Alter von 17 Jahren aufgetreten, als sie von ihrem Vater schwanger gewesen sei. Erst danach habe sie begonnen, Drogen zu konsumieren. Aufgrund der aktuell deutlich verstärkten psychotischen Symptomatik und der exazerbierten Symptomatik der PTBS nach multiplen schweren Traumatisierungen in der Kindheit durch sexuellen Missbrauch durch den Vater habe er die Depotmedikation eine Woche vorgezogen und eine Ergänzung mit Risperidon angeraten. Eine ambulante Wiedervorstellung kurz vor der Gerichtsverhandlung sei vereinbart worden, inwiefern es der Klägerin gelinge, längerfristig abstinent zu bleiben, sei fraglich. Eine erneute akutstationäre Behandlung der Klägerin sei sinnvoll.

Am 15. Februar 2023 hat das SG eine nichtöffentliche Sitzung durchgeführt und die Klage aufgrund mündlicher Verhandlung vom 14. Februar 2024 – nach vorheriger Ablehnung eines Terminsaufhebungsantrages mit Beschluss vom 12. Februar 2024 – abgewiesen. Soweit mit dem Klageantrag abstrakt ein Beginn der Beschädigtenversorgung ab Oktober 1993 beantragt werde, sei die Klage bereits unzulässig, da hiermit ein Grundurteil über Versorgungsleistungen beansprucht werde, was zu unbestimmt sei.

Soweit mit dem Klageantrag sinngemäß eine Beschädigtengrundrente nach einem GdS von 100 beginnend ab Oktober 1993 begehrt werde, bleibe die Klage unter Zugrundelegung der in diesem Verfahren maßgeblichen Vorschriften des OEG und des BVG ebenfalls ohne Erfolg. In rein zeitlicher Hinsicht gelte § 60 Abs. 1 Satz 1 BVG. Hiernach beginne die Beschädigtenversorgung mit dem Monat, in dem ihre Voraussetzungen erfüllt seien, frühestens mit dem Antragsmonat. Mit dem Erstanerkennungsbescheid vom 10. November 2014 habe der Beklagte der Klägerin auf ihren Antrag vom 19. Mai 2011 Beschädigtenversorgung ab dem 1. Mai 2011 gewährt. Unabhängig von § 60 Abs. 1 Satz 1 BVG komme § 44 Abs. 4 SGB X zur Anwendung. Dieser werde durch § 60 Abs. 1 BVG nicht verdrängt, sondern finde daneben Anwendung. Das Bundessozialgericht (BSG) habe die Sperrwirkung des § 44 Abs. 4 SGB X auch im Sozialen Entschädigungsrecht bejaht. Vor dem Hintergrund des am 11. Dezember 2018 gestellten Überprüfungsantrages sei eine Beschädigtenversorgung für die Zeit von Oktober 1993 bis einschließlich April 2011 in jedem Fall ausgeschlossen, was ebenso für eine höhere Versorgung für die Zeit von Mai 2011 bis 10. Dezember 2014 gelte.

Aber auch für die Zeit ab 11. Dezember 2014 habe die Klägerin keinen Anspruch auf eine höhere Grundrente als nach einem GdS von 30. Nach dem Gutachten des N1 komme kausal bezogen auf den entschädigungspflichtigen Tatbestand kein höherer GdS als 30 in Betracht. Eine intensive, engmaschige psychiatrische Behandlung, etwa in Form von deutlich zahlreicheren als vierteljährlichen fachärztlichen Besuchen und begleitender therapeutischer Maßnahmen oder vergleichbare medizinische Befunde, wie für einen Teil-GdB von 30 erforderlich, seien bei der Klägerin mit der stationären Behandlung in der psychiatrischen Abteilung des Krankenhauses T2 vom 1. bis 25. Mai 2011 mit den Diagnosen paranoid-halluzinative Schizophrenie und Cannabis-Abusus dokumentiert, was der Beklagte bei Bescheiderlass zutreffend gewürdigt habe. Unter Berücksichtigung des im Rahmen von § 44 SGB X geltenden Prüfungsmaßstabs sei die Klage daher vollumfänglich abzuweisen gewesen.

Am 19. März 2024 hat die Klägerin Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) erhoben. Die Bewertung des GdS durch das SG könne nicht nachvollzogen werden und entspreche nicht den einschlägigen Bewertungsvorgaben. Die Versorgung habe früher zu beginnen, da sie aufgrund der Schädigungsfolgen seit 2007 unverschuldet gehindert gewesen sei, einen Antrag auf Versorgungsleistungen zu stellen. Die Taten hätten 1993 begonnen.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 14. Februar 2024 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, unter Aufhebung des Bescheides vom 9. September 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Juni 2020 sowie unter teilweiser Rücknahme des Bescheides vom 10. November 2014 Beschädigtengrundrente ab Oktober 1993, hilfsweise ab 2011, nach einem Grad der Schädigungsfolgen von 100 zu gewähren.



Der Beklagte beantragt,

            die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Er verweist auf die angefochtene Entscheidung.

Die Anordnung des persönlichen Erscheinens der Klägerin hat der Senat im Hinblick auf deren Gesundheitszustand mit in der mündlichen Verhandlung verkündetem Beschluss (vgl. Protokoll) aufgehoben.

Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungs- und Gerichtsakte Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Der Senat konnte verhandeln und entscheiden, obwohl die Klägerin nicht persönlich zur mündlichen Verhandlung erschienen ist, nachdem ihr Rechtsanwalt im Termin anwesend war. Das zunächst angeordnete persönliche Erscheinen der Klägerin hat der Senat mit in der mündlichen Verhandlung verkündetem Beschluss im Hinblick auf den vom Rechtsanwalt mitgeteilten Gesundheitszustand der Klägerin aufgehoben (vgl. Protokoll). Von einer persönlichen Anhörung konnte der Senat auch deshalb absehen, da, worauf in der mündlichen Verhandlung hingewiesen worden ist (vgl. ebenfalls Protokoll), rechtliche Fragen im Vordergrund der Entscheidung standen.

Die form- und fristgerecht (§ 151 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) eingelegte Berufung der Klägerin ist statthaft (§§ 143, 144 SGG) und auch im Übrigen zulässig, aber unbegründet.

Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist das Urteil des SG vom 14. Februar 2024, mit dem die kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4 SGG) auf Gewährung höherer und früherer Beschädigtenversorgung unter Aufhebung des Bescheides vom 9. September 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides (§ 95 SGG) vom 26. Juni 2020 sowie unter teilweiser Rücknahme des Bescheides vom 10. November 2014 abgewiesen worden ist. Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung des Antrags nach § 44 SGB X ist die damalige Sach- und Rechtslage aus heutiger Sicht („geläuterte Rechtsauffassung“ vgl. BSG, Urteil vom 30. Januar 2020 – B 2 U 2/18 R –, juris, Rz. 16).

Die Unbegründetheit der Berufung folgt aus der Unbegründetheit der Klage. Der Bescheid vom 9. September 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Juni 2020 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 54 Abs. 1 Satz 2 SGG). Auch zur Überzeugung des Senats hat es der Beklagte zu Recht abgelehnt, den Bescheid vom 10. November 2014 teilweise zurückzunehmen und der Klägerin Beschädigtenversorgung nach einem höheren GdS und ab einem früheren Zeitpunkt zu gewähren. Das SG hat die Klage daher im Ergebnis zutreffend abgewiesen. Soweit es davon ausgegangen ist, dass die Klage teilweise unzulässig gewesen sei, folgt der Senat dem nicht. Aus dem Vorbringen wird hinreichend deutlich, dass frühere – ab 1993 – und höhere Beschädigtenversorgung – nach einem GdS von 100 – begehrt wird, was im Wege der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage verfolgt werden kann.


Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist, soweit es sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind, der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen.

Ziel von § 44 SGB X ist es, die Konfliktsituation zwischen der Bindungswirkung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes und der materiellen Gerechtigkeit zugunsten letzterer aufzulösen (vgl. BSG, Urteil vom 4. Februar 1998 – B 9 V 16/96 R –, SozR 3-1300 § 44 Nr. 24). Ist ein Verwaltungsakt rechtswidrig, haben Betroffene einen einklagbaren Anspruch auf Rücknahme des Verwaltungsaktes unabhängig davon, ob dieser durch ein rechtskräftiges Urteil bestätigt wurde (BSG, Urteil vom 28. Januar 1981 – 9 RV 29/80 –, BSGE 51, 139 <141>). Selbst wenn Betroffene schon einmal einen Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X gestellt haben, darf die Verwaltung ein erneutes Begehren nicht ohne Rücksicht auf die wirkliche Sach- und Rechtslage zurückweisen. Entsprechend dem Umfang des Vorbringens muss sie in eine erneute Prüfung eintreten und Antragstellende bescheiden (BSG, Urteil vom 5. September 2006 – B 2 U 24/05 R –, BSGE 97, 54 <57>).

Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. Auch zur Überzeugung des Senats hat der Beklagte bei Erlass des Bescheides vom 10. November 2014 weder das Recht unrichtig angewandt noch ist er von einem Sachverhalt ausgegangen, der sich als unrichtig erweist. Die teilweise Rücknahme des Bescheides und die Gewährung weiterer Beschädigtenversorgung ist daher zu Recht abgelehnt worden.


Materiell-rechtlich sind die Vorschriften des BVG in seiner bis 31. Dezember 2023 geltenden Fassung anzuwenden. Gemäß § 142 Abs. 1 Satz 1 Vierzehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XIV) in der ab 1. Januar 2024 geltenden Fassung erhalten Personen, deren Ansprüche nach dem Bundesversorgungsgesetz oder nach einem Gesetz, das das Bundesversorgungsgesetz ganz oder teilweise für anwendbar erklärt, in der bis zum 31. Dezember 2023 geltenden Fassung bis zum 31. Dezember 2023 bestandskräftig festgestellt sind, diese Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz oder nach dem Gesetz, das das Bundesversorgungsgesetz für anwendbar erklärt, in der am 31. Dezember 2023 geltenden Fassung weiter, soweit dieses Kapitel nichts anderes bestimmt. Über einen bis zum 31. Dezember 2023 gestellten und nicht bestandskräftig entschiedenen Antrag auf Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz oder nach einem Gesetz, das das Bundesversorgungsgesetz ganz oder teilweise für anwendbar erklärt, ist nach dem im Zeitpunkt der Antragstellung geltenden Recht zu entscheiden, § 142 Abs. 2 Satz 1 SGB XIV. Wird hierbei ein Anspruch auf Leistungen festgestellt, werden ebenfalls Leistungen nach Absatz 1 erbracht, § 142 Abs. 2 Satz 2 SGB XIV.

Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch ist § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG in Verbindung mit § 9 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 1, § 30, § 31 BVG. Danach erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, unter anderem auch Beschädigtengrundrente nach § 31 Abs. 1 BVG, wer im Geltungsbereich des OEG oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Die Versorgung umfasst nach dem insoweit entsprechend anwendbaren § 9 Abs. 1 Nr. 3 BVG die Beschädigtenrente (§§ 29 ff. BVG). Nach § 30 Abs. 1 Satz 1 BVG ist der GdS - bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des BVG und anderer Vorschriften des Sozialen Entschädigungsrechts vom 13. Dezember 2007 (BGBl I S. 2904) am 21. Dezember 2007 als Minderung der Erwerbsfähigkeit <MdE> bezeichnet - nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, welche durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen zu beurteilen. Der GdS ist nach Zehnergraden von 10 bis 100 zu bemessen; ein bis zu fünf Grad geringerer GdS wird vom höheren Zehnergrad mit umfasst (§ 30 Abs. 1 Satz 2 BVG). Beschädigte erhalten gemäß § 31 Abs. 1 BVG eine monatliche Grundrente ab einem GdS von 30. Liegt der GdS unter 25 besteht kein Anspruch auf eine Rentenentschädigung (vgl. Senatsurteil vom 18. Dezember 2014 - L 6 VS 413/13 -, juris, Rz. 42; Dau, in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 2012, § 31 BVG, Rz. 2).

Für einen Anspruch auf Beschädigtenversorgung nach dem OEG in Verbindung mit dem BVG sind folgende rechtlichen Grundsätze maßgebend (vgl. BSG, Urteil vom 17. April 2013 – B 9 V 1/12 R –, BSGE 113, 205 <208 ff.>):

Ein Versorgungsanspruch setzt zunächst voraus, dass die allgemeinen Tatbestandsmerkmale des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG gegeben sind (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 23. April 2009 – B 9 VG 1/08 R –, juris, Rz. 27 m. w. N). Danach erhält eine natürliche Person („wer“), die im Geltungsbereich des OEG durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Somit besteht der Tatbestand des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG aus drei Gliedern (tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind. In Altfällen, also bei Schädigungen zwischen dem Inkrafttreten des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 und dem Inkrafttreten des OEG am 16. Mai 1976 (BGBl I S. 1181), müssen daneben noch die besonderen Voraussetzungen gemäß § 10 Satz 2 OEG in Verbindung mit § 10a Abs. 1 Satz 1 OEG erfüllt sein. Nach dieser Härteregelung erhalten Personen, die in diesem Zeitraum geschädigt worden sind, auf Antrag Versorgung, solange sie allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt und bedürftig sind sowie im Geltungsbereich des OEG ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben. Eine Schwerbeschädigung liegt nach § 31 Abs. 2 BVG vor, wenn ein GdS von mindestens 50 festgestellt ist.

Nach der Rechtsprechung des BSG ist bei der Auslegung des Rechtsbegriffes „vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff“ im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG entscheidend auf die Rechtsfeindlichkeit, vor allem verstanden als Feindlichkeit gegen das Strafgesetz, abzustellen; von subjektiven Merkmalen, wie etwa einer kämpferischen, feindseligen Absicht, hat sich die Auslegung insoweit weitestgehend gelöst (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 7. April 2011 – B 9 VG 2/10 R –, SozR 4-3800 § 1 Nr. 18, Rz. 32 m. w. N.). Dabei sind je nach Fallkonstellation unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt und verschiedene Gesichtspunkte hervorgehoben worden. Leitlinie ist insoweit der sich aus dem Sinn und Zweck des OEG ergebende Gedanke des Opferschutzes. Das Vorliegen eines tätlichen Angriffes hat das BSG daher aus der Sicht von objektiven, vernünftigen Dritten beurteilt und insbesondere sozial angemessenes Verhalten ausgeschieden. Allgemein ist es in seiner bisherigen Rechtsprechung davon ausgegangen, dass als tätlicher Angriff grundsätzlich eine in feindseliger oder rechtsfeindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung anzusehen ist, wobei die Angriffshandlung in aller Regel den Tatbestand einer - jedenfalls versuchten - vorsätzlichen Straftat gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit erfüllt (st. Rspr.; vgl. nur BSG, Urteil vom 29. April 2010 – B 9 VG 1/09 R –, SozR 4-3800 § 1 Nr. 17, Rz. 25 m. w. N.). Abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff im Sinne des § 240 Strafgesetzbuch (StGB) zeichnet sich der tätliche Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG durch eine körperliche Gewaltanwendung (Tätlichkeit) gegen eine Person aus, wirkt also körperlich (physisch) auf einen anderen ein (vgl. BSG, Urteil vom 7. April 2011 ‑ B 9 VG 2/10 R ‑, SozR 4 3800 § 1 Nr. 18, Rz. 36 m. w. N.). Ein solcher Angriff setzt eine unmittelbar auf den Körper einer anderen Person zielende, gewaltsame physische Einwirkung voraus; die bloße Drohung mit einer wenn auch erheblichen Gewaltanwendung oder Schädigung reicht hierfür demgegenüber nicht aus (vgl. BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 ‑ B 9 V 1/13 R ‑, juris, Rz. 23 ff.).

In Fällen des sexuellen Missbrauchs von Kindern im Sinne von § 176, § 176a StGB hat das BSG den Begriff des tätlichen Angriffes noch weiter verstanden. Danach kommt es nicht darauf an, welche innere Einstellung der Täter zu dem Opfer hatte und wie das Opfer die Tat empfunden hat. Es ist allein entscheidend, dass die Begehensweise, also eine sexuelle Handlung, eine Straftat war (vgl. BSG, Urteil vom 29. April 2010 ‑ B 9 VG 1/09 R ‑, SozR 4 3800 § 1 Nr. 17, Rz. 28 m. w. N.). Auch der „gewaltlose“ sexuelle Missbrauch eines Kindes kann demnach ein tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG sein (BSG, Urteile vom 18. Oktober 1995 - 9 RVg 4/93 -, BSGE 77, 7, <8 f.> und - 9 RVg 7/93 -, BSGE 77, 11 <13>). Diese erweiternde Auslegung des Begriffes des tätlichen Angriffs ist speziell in Fällen eines sexuellen Missbrauchs von Kindern aus Gründen des sozialen und psychischen Schutzes der Opfer unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck des OEG geboten.

Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennen das Soziale Entschädigungsrecht und damit auch das OEG drei Beweismaßstäbe. Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette (schädigender Vorgang, Schädigung und Schädigungsfolgen) des Vollbeweises. Für die Kausalität selbst genügt gemäß § 1 Abs. 3 BVG die Wahrscheinlichkeit. Nach Maßgabe des § 15 Satz 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG), der gemäß § 6 Abs. 3 OEG anzuwenden ist, sind bei der Entscheidung die Angaben der Antragstellenden, die sich auf die mit der Schädigung, also insbesondere auch mit dem tätlichen Angriff im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrunde zu legen, wenn sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen.

Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen. Denn ein darüber hinausgehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen (vgl. Keller, a. a. O., § 128 Rz. 3b m. w. N.). Daraus folgt, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (vgl. BSG, Urteil vom 24. November 2010 - B 11 AL 35/09 R -, juris, Rz. 21). Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl. Keller, a. a. O.).

Der Beweisgrad der Wahrscheinlichkeit im Sinne des § 1 Abs. 3 Satz 1 BVG ist dann gegeben, wenn nach der geltenden wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht (vgl. BSG, Beschluss vom 8. August 2001 – B 9 V 23/01 B –, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4, S. 14 m. w. N.). Diese Definition ist der Fragestellung nach dem wesentlichen ursächlichen Zusammenhang (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 - B 9 V 6/13 R -, juris, Rz. 18 ff.) angepasst, die nur entweder mit ja oder mit nein beantwortet werden kann. Es muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden. Für die Wahrscheinlichkeit ist ein „deutliches" Übergewicht für eine der Möglichkeiten erforderlich. Sie entfällt, wenn eine andere Möglichkeit ebenfalls ernstlich in Betracht kommt.
Bei dem „Glaubhafterscheinen“ im Sinne des § 15 Satz 1 KOVVfG handelt es sich um den dritten, mildesten Beweismaßstab des Sozialrechts. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl. Keller, a. a. O., Rz. 3d m. w. N.), also der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (vgl. BSG, Beschluss vom 8.
August 2001 - B 9 V 23/01 B -, SozR 3 3900 § 15 Nr. 4, S. 14 f. m. w. N.). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, also es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist (vgl. Keller, a. a. O.), weil nach der Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses, aber kein deutliches Übergewicht zukommen. Wie bei den beiden anderen Beweismaßstäben reicht die bloße Möglichkeit einer Tatsache nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen. Das Tatsachengericht ist allerdings mit Blick auf die Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG) im Einzelfall grundsätzlich darin nicht eingeengt, ob es die Beweisanforderungen als erfüllt ansieht (vgl. BSG, Beschluss vom 8. August 2001 ‑ B 9 V 23/01 B ‑, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4, S. 15). Diese Grundsätze haben ihren Niederschlag auch in den „Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz“ in ihrer am 1. Oktober 1998 geltenden Fassung der Ausgabe 1996 (AHP 1996) und nachfolgend - seit Juli 2004 - den „Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX)“ in ihrer jeweils geltenden Fassung (AHP 2005 und 2008) gefunden, welche zum 1. Januar 2009 durch die Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (Teil C, Nrn. 1 bis 3 und 12 der Anlage zu § 2 VersMedV; vgl. BR-Drucks 767/1/08 S. 3, 4) inhaltsgleich ersetzt worden ist (vgl. BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 ‑ B 9 V 6/13 R ‑, juris, Rz. 17).

Ausgehend von diesen Maßstäben hat der Beklagte mit dem Bescheid vom 10. November 2014, für den Senat bindend (vgl. § 77 SGG) Schädigungsfolgen festgestellt und Beschädigtengrundrente nach einem GdS von 30 gewährt. Das schädigende Ereignis, wie es sich aus den Feststellungen des Landgerichts M4 vom 16. September 2011 ergibt, ist somit bereits als schädigungsrelevant im Sinne des OEG anerkannt worden. Hinsichtlich der anerkannten Schädigungsfolgen entnimmt der Senat der versorgungsärztlichen Stellungnahme der
S1, dass der Beklagte – entsprechend dem Gutachten des J1 – davon ausgegangen ist, dass die Missbrauchserlebnisse eine Mitursache für den schweren Verlauf der paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie bilden, nicht aber für deren Auftreten selbst.

Dies ist im Hinblick auf das Gutachten des
J1, das der Senat im Wege des Urkundbeweises verwertet (§ 118 Abs. 1 SGG i. V. m. §§ 415 ff. Zivilprozessordnung [ZPO]), schlüssig und auch für den Senat überzeugend. Dieser hat herausgearbeitet, dass schizophrene Psychosen selbst als multifaktorielles Geschehen anzusehen sind und der Missbrauch durch den Vater nicht als monokausale Ursache angesehen werden kann. Er hat weiter betont, dass die schizophrene Psychose auch ohne den sexuellen Missbrauch auftreten konnte und dass dieser lediglich Einfluss auf den Verlauf der Erkrankung genommen hat, wie dies auch die S1 zu Grunde gelegt hat. Dies wird dadurch gestützt, dass die Aufnahmemitteilung des Krankenhauses T2 vom 5. März 2007 eine drogeninduzierte paranoide Psychose benannt hat.

Die Richtigkeit der Einschätzungen des
J1 ist durch das weitere Gutachten des N1, das ebenfalls im Wege des Urkundbeweises verwertet wird, bestätigt worden. Dieser hat sich den Ausführungen des Vorgutachters zu Genese und Manifestation der psychischen Erkrankung ausdrücklich angeschlossen und daneben eine wesentliche Verschlimmerung der Schädigungsfolgen – worauf es im Verfahren nach § 44 SGB X nicht entscheidend ankommt und eine Entscheidung nach § 48 SGB X nicht getroffen worden ist – verneint. Auf den Arztbrief des Krankenhauses T2 vom 7. Februar 2023 kommt es damit nicht entscheidungserheblich an, sodass dahinstehen kann, dass es unschlüssig ist, wenn darin von einer PTBS ausgegangen wird, nachdem eine solche durch das Gutachten des J1 bereits überzeugend hat ausgeschlossen werden können. Ebenso werden die aus dem Bericht deutlich erkennbaren Versorgungswünsche in keiner Weise kritisch gewürdigt. Insbesondere ist der Umstand, dass der Schwester der Klägerin Versorgung nach einem höheren GdS gewährt werden mag, nicht präjudizierend für die Ansprüche der Klägerin. Ebenso wenig wird die Angabe hinterfragt, dass die Klägerin im 17. Lebensjahr vom Vater schwanger gewesen sein soll, wozu deshalb Veranlassung bestanden hat, nachdem die Klägerin gegenüber dem Gutachter J1 noch beschrieben hat, dass zwei weitere Männer als potentielle Väter in Betracht gekommen sind. Eine Schwangerschaft der Klägerin von ihrem Vater ist damit gerade nicht belegt und somit auch kein Zusammenhang des Missbrauchs mit der Abtreibung, sodass ein deshalb erfolgter Substanzmissbrauch gerade nicht den schädigenden Ereignissen zugeschrieben werden kann.

Aus obigen Ausführungen folgt gleichzeitig, dass – entgegen der Darlegungen der Klägerin – nicht ihr Gesundheitszustand insgesamt als Schädigungsfolge zu bewerten ist, sondern nur der schädigungsbedingte Verschlimmerungsanteil. Diesen haben beide Gutachter schlüssig mit einem GdS von 30 bewertet und dieser Bewertung ist versorgungsärztlich beigetreten worden. Lediglich ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass beide Gutachter nicht in Frage gestellt haben, dass der Gesundheitszustand der Klägerin insgesamt – also unabhängig von Kausalitätsfragen – mit einem GdB von 100 zu bewerten ist, worauf es aber im Hinblick auf den von beiden Gutachtern bestätigten abgrenzbaren Verschlimmerungsanteil im Verlauf der Erkrankung nicht ankommt.

Ebenso kommt eine Erhöhung des GdS aufgrund einer besonderen beruflichen Betroffenheit (§ 30 Abs. 2 SGG), bei der es sich lediglich um einen Umstand handelt, der für die Bemessung des GdS in Betracht kommt und der deshalb bei der Höhe der Grundrente zu berücksichtigen ist (vgl. Senatsurteil vom 24. Januar 2017 – L 6 VH 789/15 –, juris, Rz. 64, vgl. auch BSG, Urteil vom 13. Dezember 1979 – 9 RV 56/78 –, juris, Rz. 19), nicht in Betracht. Den eingeholten Gutachten entnimmt der Senat nämlich, dass die Klägerin sowohl in der Lage gewesen ist, einen Schulabschluss zu erreichen, wie auch eine Lehre zur Fleischereifachverkäuferin erfolgreich abzuschließen und letzteres noch nach dem erstmaligen Auftreten der schizophrenen Psychose. Dass nach Abschluss der Ausbildung eine Übernahme nicht erfolgt ist, war allein der Insolvenz des Ausbildungsbetriebes geschuldet, wie den Erhebungen des Gutachters
N1 zu entnehmen ist, und damit nicht krankheitsbedingt.

Die Klägerin kann somit die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach einem höheren GdS nicht beanspruchen. Daneben kommt im Verfahren nach § 44 SGB ein früherer Leistungsbeginn nicht in Betracht, da § 44 Abs. 4 SGB X einer nachträglichen Leistungserbringung – ohne weitere Voraussetzungen – eine strikte zeitliche Grenze setzt, die auch im Sozialen Entschädigungsrecht zu beachten ist (vgl. BSG, Urteil vom 2. Oktober 2008 – B 9 VH 1/07 R –, juris, Rz. 61), und, entgegen der Darlegungen des SG, aufgrund des am 11. Dezember 2018 gestellten Antrags am 1. Januar 2014 liegt. Der Beklagte hat mit dem angefochtenen Bescheid indessen darüber hinausgehend bereits Leistungen ab dem 1. Mai 2011 gewährt, was die Klägerin aber nicht beschwert. Unabhängig von diesen rechtlichen Umständen hat
N1 schlüssig darauf hingewiesen, dass sich aus medizinischer Sicht ein Leistungsbeginn bereits 1993, wie von der Klägerin beansprucht, mangels Befunden nicht rechtfertigen lässt.

Die Berufung konnte daher keinen Erfolg haben und war zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht gegeben, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.


 

Rechtskraft
Aus
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