L 7 KA 26/22

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
7.
1. Instanz
SG Potsdam (BRB)
Aktenzeichen
S 1 KA 63/20
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 7 KA 26/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Eine psychiatrische Institutsambulanz (PIA) ist für Menschen mit schweren psychischen Beeinträchtigungen regelmäßig zumutbar erreichbar, wenn die Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln eine Stunde nicht überschreitet
(vgl. BSG, Urteil vom 29. Juni 2022, B 6 KA 3/21 R, zitiert nach juris). 


2. Bei der Prüfung, ob bestehende PIAs zumutbar erreichbar sind, kommt es auf die Fahrzeit zwischen den Wohnorten der potentiellen Patienten und den bestehenden PIAs an. Die Prüfung ist grundsätzlich nicht auf den Planungsbereich oder Landkreis, in dem die neue PIA eingerichtet werden soll, beschränkt.

3. Die Maßgabe, dass bestehende PIAs innerhalb von einer Stunde mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar sind, schließt es nicht aus, dass im Einzelfall unter bestimmten Umständen auch längere Wegezeiten hinzunehmen sind. Dies gilt insbesondere für besonders dünn besiedelte Gebiete und Gemeinden mit einer besonders geringen Einwohnerzahl, sofern keine Anhaltspunkte für einen speziellen PIA-Behandlungsbedarf an diesen Orten vorliegen.

4. Bei der Bestimmung des Wohnorts der potentiellen Patienten im Rahmen der Berechnung der Wegezeiten zu bestehenden PIAs bei Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel können die Zulassungsgremien im Rahmen ihres Beurteilungsspielraums typisierend vorgehen. Nicht erforderlich ist insbesondere, als Ausgangspunkt des Weges auf denjenigen konkreten Ort innerhalb einer Gemeinde des Einzugsgebietes abzustellen, von dem aus eine bestehende PIA am schlechtesten erreichbar ist.

Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 20. Juli 2022 und der Bescheid des Beklagten vom 12. Mai 2020 (Beschluss vom 28. Januar 2020) aufgehoben. Der Beklagte wird verurteilt, über den Antrag der Klägerin auf Erteilung einer Ermächtigung für eine PIA-Außenstelle am Standort N unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.

 

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen, mit Ausnahme der Kosten der Beigeladenen, die ihre Kosten selbst tragen.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

 

 

 

 

 

Tatbestand

 

Die Beteiligten streiten um die Erteilung einer Ermächtigung zum Betrieb einer psychiatrischen Institutsambulanz (PIA) in einer räumlich nicht an ein Krankenhaus angebundenen Einrichtung.

 

Die Klägerin ist Trägerin eines Krankenhauses nebst PIA in R bei B (S,  R) und betreibt weitere PIAs in S (GS ,  S) und F (G , F). Am 7. Mai 2018 beantragte die Klägerin beim Zulassungsausschuss, sie nach § 118 Abs. 4 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) zum Betrieb einer PIA in () N zu ermächtigen. Gegenstand der Ermächtigung sei die Behandlung von Versicherten, die wegen der Art, Schwere oder Dauer ihrer Erkrankung oder wegen zu großer Entfernung zu geeigneten Ärzten auf die Behandlung durch die Klinik angewiesen seien. Hintergrund der Antragstellung sei, dass die Region N im „Speckgürtel“ B stetig wachse. Auch die Nachfrage nach psychiatrischer und psychotherapeutischer Versorgung werde immer größer und könne von den vorhandenen niedergelassenen Behandlern nicht mehr befriedigt werden. Die allgemeine Erreichbarkeit mit öffentlichen Nahverkehrsmitteln sei in der ländlichen Region schwierig. Zum Beispiel gebe es keine direkte Verbindung zwischen N sowie der Region H/H und R. Zudem sei das PIA-Patientenklientel häufig erheblich in seinen psychosozialen Kompetenzen eingeschränkt.

 

Auf Veranlassung des Zulassungsausschusses gaben die Beigeladene zu 1 und die Arbeitsgemeinschaft der Verbände der Krankenkassen im Land Brandenburg Stellungnahmen zum Antrag der Klägerin ab. Die Beigeladene zu 1 führte unter dem 13. März 2019 aus: Der Planungsbereich Landkreis M sei für reguläre Zulassungen von Nervenärzten gesperrt. Die Klägerin betreibe bereits eine PIA im etwa 20,5 Kilometer entfernten S. Innerhalb einer halben Stunde sei dieser Standort im Individualverkehr erreichbar. Bei Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel verlängere sich die Fahrzeit unwesentlich auf maximal 40 Minuten. Zudem sei die psychotherapeutische Versorgung im Bereich H/N ausreichend durch die bereits niedergelassenen Nervenärzte, Neurologen, Psychiater und zahlreichen Psychotherapeuten gewährleistet. Die Arbeitsgemeinschaft der Verbände der Krankenkassen teilte in ihrer Stellungnahme vom 21. März 2019 mit: Aus dem Antrag der Klägerin gingen der konkrete Bedarf und die Notwendigkeit der Einrichtung nicht hervor. Bei PIAs handele es sich um eine hochspezifische Versorgungsform, die eine Ergänzung der Regelversorgung darstelle. Nur in Ausnahmefällen solle diese die Regelversorgung sicherstellen. Den KKV lägen keine aktuellen Erkenntnisse vor, dass die Versorgung in der entsprechenden Region nicht gewährleistet sei. Zum jetzigen Zeitpunkt könne der Antrag nicht befürwortet werden. 

 

Mit Bescheid vom 16. Juli 2019 lehnte der Zulassungsausschuss den Antrag ab. Rechtsgrundlage des Begehrens sei § 118 Abs. 4 SGB V. Bei der Entscheidung, ob eine Ermächtigung notwendig sei, hätten die Zulassungsgremien einen Beurteilungsspielraum. Die Bedarfsprüfung erstrecke sich auf quantitative und qualitative Elemente. Der Planungsbereich sei für reguläre Zulassungen von Psychotherapeuten und Fachärzten für Nervenheilkunde gesperrt. Von einer quantitativen Versorgungslücke sei nicht auszugehen. Im Hinblick auf die qualitative Versorgung sei kein Ermächtigungsbedarf vorhanden. Die Region N werde ausreichend durch niedergelassene Nervenärzte, Neurologen, Psychiater und zahlreiche Psychotherapeuten versorgt. Außerdem bestehe eine räumliche Nähe zu den Standorten in S und R.

 

Dagegen erhob die Klägerin am 6. August 2019 Widerspruch. Die Klägerin habe als nach § 108 SGB V zugelassenes Krankenhaus entsprechend der Unterbringungskrankenhausverordnung (UKV) folgende Gemeinden und Städte zu versorgen: Amtsfreie Gemeinden F, G , H, N , P/E, R, S, S, W, Städte A, E, F, M, S. Dies könne nur umfassend gewährleistet werden, wenn ihrem Antrag entsprochen werde. Die Behandlung in der PIA beinhalte nicht ausschließlich ärztliche Leistungen, sondern ein umfassendes ambulantes Behandlungssetting mit Komplexleistungen. Dies könne ein niedergelassener Arzt nicht bewältigen. Die niedergelassenen Nervenärzte müssten bei dieser Betrachtung ebenso außen vor bleiben wie die ärztlichen Psychotherapeuten. Bei der PIA-Patientengruppe handele es sich um psychisch kranke Menschen mit erhöhtem Behandlungsbedarf, die einer multiprofessionellen Intervention bedürften. In Wohnortnähe stehe derzeit im westlichen Versorgungsgebiet der Klägerin kein ausreichendes multimodales Therapieangebot zur Verfügung.

 

Am 24. Januar 2020 nahm die Beigeladene zu 1 erneut wie folgt Stellung: Es werde empfohlen, dem Widerspruch nicht stattzugeben. R und S seien ausreichend mit Pkw und ÖPNV erreichbar. Die an den KV-Bereich Berlin angrenzende Region des Planungsbereiches sei durch Nervenärzte gut versorgt. Es könne nicht Ziel von Ermächtigungen von PIAs sein, neben ambulanter außerklinischer Versorgung Doppelstrukturen durch zusätzliche Angebote zu errichten. Erst wenn die in S befindliche PIA ausgelastet sei, solle über eine Standorterweiterung diskutiert werden.

 

Der Stellungnahme der Beigeladenen zu 1 war ein Schreiben einer überörtlichen Berufsausübungsgemeinschaft (üBAG) vom 19. September 2019 beigefügt, in der es heißt: Die üBAG biete aktuell sechs Arbeitstage pro Woche an, ab Juli 2020 sieben fachärztliche Arbeitstage pro Woche. Es sei ein Praxisneubau ganz in der Nähe des S-Bahnhofs N geplant. Die Fertigstellung der vollständig barrierefreien Praxis sei für Juli 2020 zu erwarten. Die geplante PIA-Außenstelle würde sich 750 Meter entfernt befinden. Es sei nicht ersichtlich, weshalb Patienten hier nicht von vertragsärztlichen Angeboten, jedoch vom Angebot einer PIA-Außenstelle erreicht werden sollten, zumal es das krankenhausnahe Angebot am Standort R bereits gebe und zudem einen weiteren PIA-Standort wenige S-Bahnstationen weiter in S. Die üBAG versorge Kranke aller Diagnosen, auch mit Komorbiditäten und schwer Erkrankte im Sinne der gängigen PIA-Kriterien. Immer wieder würden Patienten aus PIAs übernommen, die unzufrieden seien mit ständig wechselnden Kontaktpersonen in der PIA S. In der heutigen Versorgungsrealität werde Behandlungskontinuität von der Facharztpraxis gewährleistet.

 

Mit Bescheid vom 12. Mai 2020 (Beschluss vom 28. Januar 2020) wies der Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Ermächtigung einer weiteren PIA-Außenstelle in N. Die Ermächtigung sei bedarfsabhängig. Die Versorgung der Versicherten sei in der Gemeinde N durch die bestehenden PIAs in R und S sichergestellt. Neuenhagen sei von der PIA R ca. 15 km entfernt und mit dem Pkw innerhalb von 20 Minuten erreichbar. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln verlängere sich die Erreichbarkeit auf 45 Minuten. Die Außenstelle S sei von N 20 km entfernt und mit dem Pkw in ca. 25 Minuten, mit öffentlichen Verkehrsmitteln einschließlich Fußweg in ca. 30-35 Minuten erreichbar. Diese Zeiten seien in Anbetracht der hier fraglichen spezialisierten Leistungen zumutbar. Dass für die Patienten in den PIAs in R und S Wartezeiten bestünden, werde von der Klägerin nicht vorgetragen. Es hätten sich auch keine Hinweise auf eine Vollauslastung dieser beiden Einrichtungen ergeben. Vielmehr solle die geplante Außenstelle in N jedenfalls vorerst mit dem am Stammhaus in Rüdersdorf vorgehaltenen Personal betrieben werden.

 

Gegen den ihr am 14. Mai 2020 zugestellten Bescheid des Berufungsausschusses hat die Klägerin am 15. Juni 2020, einem Montag, Klage vor dem Sozialgericht Potsdam erhoben. Sie hat zur Begründung ihrer Klage vorgetragen: Der Beklagte habe den Sachverhalt unzureichend ermittelt. Selbst unter Zugrundelegung des unzureichend ermittelten Sachverhalts hätte eine andere Bewertung erfolgen müssen. Der Beklagte verkenne die Spezifik der betroffenen Patientengruppe, an die sich das Angebot einer PIA richte. Diese sei oft nicht wegefähig. Sie könne die Standorte in S und R weder mit einem eigenen Pkw noch mit dem ÖPNV erreichen. Auf die Möglichkeit einer Betreuung nach § 1896 BGB könne nicht verwiesen werden. Unabhängig von Patienten, die aus dem begehrten Standort in N oder der unmittelbaren Umgebung stammten, seien die bestehenden Standorte auch aus anderen Gebieten des westlichen und nordwestlichen Landkreises nicht genügend erreichbar. Dies betreffe die Versorgung von Patienten in H, H (), A, B und den westlichen Anteilen von P-E. Vom S-Bahnhof in S bis zur dortigen PIA müsse nochmals ein längerer Fußmarsch zurückgelegt werden, der nicht allen Patienten zumutbar sei. Das Urteil des Bundessozialgerichts vom 29. Juni 2022 (B 6 KA 3/21 R), das die Versorgung von Patienten in einer Wohneinrichtung betreffe, sei auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar. Im Übrigen würden freie Kapazitäten in S und R bestritten. Der Beklagte vermute nur weitere Kapazitäten. Er habe nicht ermittelt, ob und in welchem Umfang Wartezeiten bestünden. Nicht nachvollziehbar sei das Argument, die PIA in N solle vorerst mit dem Personal am Stammhaus betrieben werden. Dies habe die Klägerin so nie erklärt. Selbstverständlich werde die Klägerin nicht schon Personal vorhalten und Kosten verursachen, solange kein positiver Bescheid über den Betrieb der PIA vorliege.

 

Die Klägerin hat vor dem Sozialgericht beantragt,

 

den Beklagten unter Aufhebung des Beschlusses vom 28. Januar 2020 zu verpflichten, über ihren Antrag auf Erteilung einer Ermächtigung für eine PIA-Außenstelle in N unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.

 

Der Beklagte hat beantragt,

 

die Klage abzuweisen.

 

Er hat geltend gemacht: Die Ermächtigung nach § 118 Abs. 4 SGB V sei bedarfsabhängig. Die im vorliegenden Fall von Versicherten zurückgelegten Entfernungen von N nach R bzw. S seien zumutbar. Gegebenenfalls müsse von der Möglichkeit der Betreuung nach § 1896 BGB Gebrauch gemacht werden. Die Klägerin habe im Verwaltungsverfahren nicht geltend gemacht, dass in den PIAs R oder S unzumutbare Wartezeiten bestünden. Der angefochtene Bescheid sei nicht zu beanstanden.

 

Die Beigeladenen haben keinen Antrag gestellt. Die Beigeladene zu 1 hat ausgeführt: Der Berufungsausschuss habe in seinem Beschluss zutreffend darauf abgestellt, dass entscheidend die Versorgung derjenigen Versicherten sicherzustellen sei, die wegen der Art, Schwere oder Dauer ihrer Erkrankung der ambulanten Behandlung durch eine PIA bedürften. Zur Versorgung dieser Versicherten stünden die PIAs in R und S zur Verfügung. Diese PIAs seien zumutbar erreichbar. 

 

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 20. Juli 2022 abgewiesen. Die Voraussetzungen des § 118 Abs. 4 SGB V lägen nicht vor. Die Versorgung der von der Klägerin benannten Patienten sei durch andere gleichwertige Versorgungsangebote sichergestellt. Der Versorgungsbedarf sei ausreichend ermittelt worden. Es sei insbesondere zu prüfen gewesen, ob das Versorgungsangebot für Versicherte in N, die einer ambulanten psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung bedürften, ausreichend sei. Der Beklagte habe richtigerweise nicht auf die niedergelassenen Ärzte abgestellt, da diese, insbesondere in Fällen eines Bedarfs aus qualitativ-speziellen Gründen, regelmäßig nicht mit dem Versorgungsangebot einer PIA verglichen werden könnten. Der Beklagte sei ermessensfehlerfrei zu dem Schluss gekommen, dass die bestehenden PIAs in R und S in zumutbarer Entfernung zu N lägen. Es sei davon auszugehen, dass auch Schmerzpatienten oder Suchtkranke oder antriebslose Menschen in der Lage seien, öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen. Dem Terminbericht zum Urteil des Bundessozialgerichts vom 29. Juni 2022 (B 6 KA 3/21 R) sei zu entnehmen, dass die Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln für das Patientenklientel einer PIA nicht unzumutbar sei. Die Fahrzeiten mit öffentlichen Verkehrsmitteln lägen im vorliegenden Fall zumutbar unter einer Stunde. Die Ermittlung eines quantitativen Versorgungsbedarfs sei von der Klägerin nicht geltend gemacht worden und habe daher vom Beklagten vernachlässigt werden können.

 

Gegen das ihr am 9. August 2022 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 5. September 2022 Berufung eingelegt. Sie vertieft ihr Vorbringen im Wesentlichen wie folgt: Der Beklagte haben seinen Beurteilungsspielraum überschritten. Es gehe nicht allein um Patienten in N, sondern auch um Patienten in ländlichen Teilen des Landkreises M, die eine PIA verkehrstechnisch nur schwer erreichen könnten. Der Beklagte habe hier nicht ermittelt. Es hätten folgende Fahrzeiten mit öffentlichen Verkehrsmitteln berücksichtigt werden müssen:

 

von Gemeinde/Kreis

nach N

nach S

nach R

N

0

34 min

1:10 h

H

25 min

45 min

1:39 h

H

51 min

1:28 h

1:13 h

A

41 min

1:22 h

1:20 h

P

14 min

39 min

1:38 h

M

42 min

1:19 h

1:35 h

B

39 min

1:08 h

1:23 h

F

22 min

36 min

1:28 h

V

38 min

1:23 h

38 min

W

1:03 h

1:36 h

1:34 h

S

1:17 h

1:53 h

1:06 h

B

1:13 h

1:46 h

2:10 h

E

1:02 h

1:26 h

1:35 h

W

1:16 h

1:07 h

1:34 h

L

1:08 h

1:41 h

1:46 h

M

59 min

1:44 h

2:08 h

 

Zudem seien mehrere Umstiege und weite Fußstrecken notwendig. Die bestehenden PIAs seien auch mehr als ausgelastet. Es bestünden erhebliche Wartezeiten von zum Teil vier Monaten. Die Fallzahlen stiegen stetig. Dieser Vortrag sei nicht verspätet. Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt sei die letzte mündliche Verhandlung. Der Beklagte habe auch die Auslastung nicht ermittelt. Anders als in der vom Bundessozialgericht im Urteil vom 29. Juni 2022 (B 6 KA 3/21 R) entschiedenen Fallkonstellation, die eine schnell erreichbare Wohngruppe und nicht krankheitsbedingt sozial isolierte Patienten betreffe, greife auch der Hinweis auf aufsuchende Hilfen zu kurz.

Mit Schriftsatz vom 3. Dezember 2024 hat die Klägerin folgenden „Beweisantrag“ formuliert:

„Patienten mit den Krankheitsbildern

  • schizophrene Psychosen,
  • schwere, rezidivierende Depression,
  • schwere Angsterkrankungen,
  • Demenzen,
  • Suchterkrankungen mit chronischem Verlauf,
  • schwere Persönlichkeitsstörungen,

 

die einer multiprofessionellen Intervention als Komplexleistung mit fachärztlicher Betreuung, Psychotherapie, Ergotherapie, diverse Gruppenangebote, Soziotherapie, Alltagskompetenztraining, tagesstrukturierende Hilfen sowie physiotherapeutische Elemente, mithin der Behandlung durch eine PIA bedürfen und die nicht in einer Wohneinrichtung für psychisch beeinträchtigte Menschen leben, müssen eine PIA in einer Entfernung von nicht mehr als 5 bis 10 km und mit dem ÖPNV einschließlich der Fußwege in nicht mehr als 15 Minuten erreichen können, um ihren Versorgungsanspruch zu realisieren.“

 

Die Klägerin beantragt,

 

den Beklagten unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Potsdam vom 20. Juli 2022 und des Bescheides des Beklagten vom 12. Mai 2020 (Beschluss vom 28. Januar 2020) zu verurteilen, über den Antrag der Klägerin auf Erteilung einer Ermächtigung für eine PIA-Außenstelle am Standort N unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu zu entscheiden.

 

Hilfsweise stellt die Klägerin den Beweisantrag aus dem Schriftsatz vom 3. Dezember 2024.

 

Der Beklagte beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Der Beklagte meint, er habe davon ausgehen dürfen, dass hinreichende Kapazitäten in den Einrichtungen der Klägerin vorhanden seien. Wenn die Klägerin jetzt vortrage, es bestünden Wartezeiten in den PIAs von vier Monaten, sei dies verspätet. Die Fahrzeiten von einzelnen, von der Klägerin genannten Gemeinden bis zu den bestehenden PIAs betrage höchstens 60 Minuten. Der Sachverhalt, der der Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 29. Juni 2022 (B 6 KA 3/21 R) zugrunde liege, weiche nicht entscheidungserheblich vom vorliegenden Sachverhalt ab.

 

Die Beigeladenen haben im Berufungsverfahren keinen Antrag gestellt.

 

Die Beteiligten haben sich im Termin am 4. Dezember 2024 und mit Schriftsätzen vom 5. Dezember 2024, 9. Dezember 2024, 20. Dezember 2024, 6. Januar 2025, 7. Januar 2025 und 8. Januar 2025 mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter anstelle des Senats gemäß § 155 Abs. 3 i.V.m. Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 SGG einverstanden erklärt.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.

 

 

 

 

 

Entscheidungsgründe

 

Über die zulässige Berufung konnte der Senat ohne mündliche Verhandlung und in der Besetzung durch den Berichterstatter anstelle des gesamten Senates entscheiden, weil sich die Beteiligten mit einer derartigen Verfahrensweise einverstanden erklärt haben, § 155 Abs. 3 i.V.m. Abs. 4 SGG, § 124 Abs. 2 SGG

 

Die gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG statthafte sowie nach § 151 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin hat Erfolg. Das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen.

 

1. Gegenstand des Verfahrens sind das erstinstanzliche Urteil des Sozialgerichts vom 20. Juli 2022 sowie der Bescheid vom 12. Mai 2020 (Beschluss vom 28. Januar 2020), mit dem der Beklagte den Antrag der Klägerin vom 7. Mai 2018 auf Erteilung einer Ermächtigung für eine PIA-Außenstelle am Standort N abgelehnt hat. Der Bescheid des Zulassungsausschusses vom 16. Juli 2019 ist nicht Gegenstand des Verfahrens, weil die materiell-rechtliche Befugnis zur Bescheiderteilung mit der Anrufung des Berufungsausschusses auf diesen übergegangen ist (vgl. BSG, Urteil vom 19. Juli 2023, B 6 KA 5/22 R, zitiert nach juris, Rn. 16 m.w.N.; Urteil des Senats vom 24. April 2024, L 7 KA 4/22, zitiert nach juris, Rn. 42).

 

2. Die Klage ist als Anfechtungs- und Bescheidungsklage gemäß §§ 54 Abs. 1, 131 Abs. 3 SGG statthaft (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 6. November 2019, L 3 KA 19/18, zitiert nach juris, Rn. 20) und auch im Übrigen zulässig.

 

3. Die Klage ist auch begründet. Der Bescheid des Beklagten vom 12. Mai 2020 (Beschluss vom 28. Januar 2020) ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Neubescheidung ihres Antrags, weil der Beklagte seine Entscheidung auf der Grundlage eines unzureichend ermittelten Versorgungsbedarfes getroffen hat. 

 

a. Rechtsgrundlage für die von der Klägerin begehrte Ermächtigung zum Betrieb einer PIA in N ist, da kein räumlicher Zusammenhang mit dem Klinikum in R besteht, § 118 Abs. 1 i.V.m. Abs. 4 SGB V (vgl. BSG, Urteil vom 29. Juni 2022, B 6 KA 3/21 R, zitiert nach juris, Rn. 13; BSG, Urteil vom 23. März 2023, B 6 KA 7/22 R, zitiert nach juris, Rn. 36). Dies ist zwischen den Beteiligten auch nicht streitig.

 

Nach § 118 Abs. 4 SGB V sind die in den Absätzen 1 und 2 genannten Krankenhäuser auch dann zur ambulanten psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung zu ermächtigen, wenn die Versorgung durch räumlich und organisatorisch nicht angebundene Einrichtungen der Krankenhäuser erfolgt, soweit und solange die Ermächtigung notwendig ist, um eine Versorgung nach Maßgabe der Absätze 1 und 2 sicherzustellen. Diese Anforderung setzt eine Bedarfsprüfung zwingend voraus (vgl. BSG, Urteil vom 29. Juni 2022, B 6 KA 3/21 R, zitiert nach juris, Rn. 14).

 

Bei der Prüfung und Feststellung des für die Erteilung einer Ermächtigung nach § 118 Abs. 4 SGB V notwendigen Versorgungsbedarfs steht den Zulassungsgremien ein der gerichtlichen Nachprüfung nur eingeschränkt zugänglicher Beurteilungsspielraum zu. Der gerichtlichen Kontrolle unterliegt jedoch insbesondere, ob der Entscheidung des Berufungsausschusses ein richtig und vollständig ermittelter Sachverhalt zugrunde liegt. Die Ermittlung des Sachverhalts muss das nach pflichtgemäßem Ermessen erforderliche Maß ausschöpfen, d.h. sich so weit erstrecken, wie sich Ermittlungen als erforderlich aufdrängen (§ 21 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – SGB X). In diesem Bereich ist kein Raum für die Annahme eines Beurteilungsspielraums (vgl. BSG, Urteil vom 29. Juni 2022, B 6 KA 3/21 R, zitiert nach juris, Rn. 23).

 

Welche konkreten Kriterien bei der Versorgungsbedarfsprüfung nach § 118 Abs. 4 SGB V anzulegen sind, ist nicht gesetzlich geregelt. Jedoch ergibt sich aus dem Wortlaut des § 118 Abs. 4 SGB V (notwendig, „um eine Versorgung nach Maßgabe der Absätze 1 und 2 sicherzustellen“), dass es um den Bedarf der Versicherten geht, die auf eine ambulante psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung durch die in § 118 Abs. 1 und 2 SGB V genannten Institutsambulanzen der Krankenhäuser angewiesen sind. Dabei unterscheidet die Vorschrift zwischen zwei Gruppen von Versicherten, (1.) solchen, die wegen Art, Schwere oder Dauer ihrer Erkrankung auf die ambulante Behandlung durch psychiatrische Krankenhäuser oder durch selbstständige psychiatrische Abteilungen von Allgemeinkrankenhäusern mit regionaler Versorgungsverpflichtung angewiesen sind (§ 118 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1, Abs. 2 Satz 2 SGB V), sowie (2.) Versicherten, die solche schweren psychischen Krankheitsbilder nicht aufweisen, aber wegen zu großer Entfernung zu geeigneten Ärzten die Behandlung durch Institutsambulanzen in einem psychiatrischen Krankenhaus benötigen (§ 118 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 SGB V).

 

Der Antrag der Klägerin bezieht sich auf die erste Patientengruppe psychisch kranker und behinderter Menschen mit schweren Krankheitsbildern, die nicht wegen zu großer Entfernung zu einem geeigneten Vertragsarzt oftmals nur unzureichend oder gar nicht ambulant medizinisch versorgt sind, sondern weil sie – krankheitsbedingt – nicht bereit sind, einen niedergelassenen Nervenarzt aufzusuchen, oder durch das Leistungsspektrum der Vertragsärzte – z.B. wegen eines ungenügenden multiprofessionellen Angebots oder begrenzter Flexibilität des Personaleinsatzes – nicht ausreichend behandelt werden können. Da diese schwer psychisch erkrankten Patienten von dem Angebot der niedergelassenen Ärzte regelmäßig nicht erreicht werden, kann die Erteilung einer Ermächtigung grundsätzlich nicht mit der Begründung abgelehnt werden, dass die niedergelassenen Psychiater, Nervenärzte und Psychotherapeuten im Einzugsbereich der geplanten PIA noch freie Behandlungskapazitäten haben. Vielmehr ist in erster Linie entscheidend, ob das Angebot der bereits nach Abs. 1 und 2 oder nach Abs. 4 ermächtigten PIAs ausreicht, einen bestehenden Bedarf bei den wegen Art, Schwere oder Dauer ihrer Erkrankung auf die Behandlung durch ein Krankenhaus angewiesenen Versicherten zu decken. Etwas anderes gilt allerdings, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass in der Umgebung der geplanten PIA der Bedarf der schwer psychisch Erkrankten durch die Praxen niedergelassener Ärzte oder MVZ bereits tatsächlich gedeckt wird oder gedeckt werden könnte, etwa weil diese Mitglied in einem Netzverbund nach § 3 Abs. 2 der Richtlinie über die berufsübergreifende, koordinierte und strukturierte Versorgung insbesondere für schwer psychisch kranke Versicherte mit komplexem psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlungsbedarf (KSVPsych-RL) sind oder aus anderen Gründen ein den Leistungen einer PIA ähnliches Angebot anbieten. Dann sind auch diese in die Bedarfsermittlung miteinzubeziehen (vgl. BSG, Urteil vom 29. Juni 2022, B 6 KA 3/21 R, zitiert nach juris, Rn. 20 f.).

 

Für die Frage, ob der Versorgungsbedarf durch die Versorgungsangebote anderer PIAs gedeckt wird, ist nicht nur entscheidend, ob dort freie Behandlungskapazitäten bestehen, sondern auch, ob diese zumutbar erreichbar sind. Dabei machen es die Besonderheiten des hier betroffenen Patientenkreises mit schweren psychischen Krankheitsbildern erforderlich, über die jedenfalls zumutbare Distanz von 25 km hinaus zu überprüfen, ob die alternativen Behandlungseinrichtungen für diesen auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln zumutbar erreichbar sind. Auch wenn nicht bei allen Krankheitsbildern – etwa bei Essstörungen – eine Fahrt mit dem eigenen Kfz von vorneherein ausgeschlossen scheint, kann bei dem hier betreffenden Patientenkreis psychisch Kranker typisierend davon ausgegangen werden, dass diese häufig krankheitsbedingt nicht in der Lage sein werden, zur ambulanten Behandlung mit dem Auto anzureisen und daher auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen sind. Auch ein im Nahbereich von 25 km liegendes Behandlungsangebot kann daher für Versicherte mit schweren psychischen Krankheitsbildern ausscheiden, wenn dieses mit dem ÖPNV nur unter unzumutbaren Bedingungen, etwa mit mehreren Umstiegen oder mit langen Fahrzeiten, zu erreichen ist. Unzumutbar ist dabei jedoch noch nicht jede Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel, die mit einem Umstieg verbunden ist. Ob tatsächlich allein auf Direktverbindungen abgestellt werden kann, hängt regelmäßig auch von den konkreten örtlichen Gegebenheiten ab und fällt daher in den Beurteilungsspielraum der Zulassungsgremien. Entsprechendes gilt für die Dauer der Anfahrt. Solange die Fahrzeit nicht eine Stunde überschreitet, wie es etwa von der S3-Leitlinie „Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen“ für die Anfahrt zur gemeindenahen Behandlung empfohlen wird, ist nicht ersichtlich, dass die Zulassungsgremien die Grenzen der Vertretbarkeit für die Beurteilung der zumutbaren Wege mit öffentlichen Verkehrsmitteln überschritten hätten (vgl. zum Ganzen BSG, Urteil vom 29. Juni 2022, B 6 KA 3/21 R, zitiert nach juris, Rn. 28 ff.).

 

b. Ausgehend davon ist der angegriffene Bescheid jedenfalls deshalb rechtswidrig, weil der Beklagte nicht ausreichend ermittelt hat, ob andere PIAs mit öffentlichen Verkehrsmitteln zumutbar erreichbar sind.

 

aa. Maßgeblich für die Bedarfsprüfung ist im vorliegenden Fall, ob der Versorgungsbedarf durch andere PIAs gedeckt wird. Ausreichend konkrete Anhaltspunkte dafür, dass in der Umgebung der geplanten PIA der Bedarf der schwer psychisch Erkrankten ausnahmsweise bereits durch die Praxen niedergelassener Ärzte oder MVZ tatsächlich gedeckt wird oder gedeckt werden könnte (siehe oben), liegen nicht vor. Solche konkreten Anhaltspunkte ergeben sich insbesondere noch nicht aus der im Verfahren vor dem Berufungsausschuss vorgelegten Stellungnahme der üBAG vom 19. September 2019. Daraus ergibt sich zwar, dass die Praxis „alle Diagnosen, auch mit Komorbiditäten und schwer Erkrankte im Sinne der gängigen PIA-Kriterien“ behandele, nicht jedoch, dass (nach der bevorstehenden Neueröffnung in N) Komplexleistungen mit einem multiprofessionellen Angebot (vgl. BSG, Urteil vom 29. Juni 2022, zitiert nach juris, Rn. 19) vorgehalten werden, die mit dem Angebot einer PIA vergleichbar sind. Auf das Versorgungsangebot der üBAG stellt der Beklagte in seinem Bescheid vom 12. Mai 2020 auch nicht ab.

 

bb. Der Beklagte hat nicht ausreichend systematisch ermittelt, ob die bestehenden PIAs von den Gemeinden des räumlichen Einzugsbereichs zumutbar mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreicht werden können, obwohl sich ihm entsprechende Ermittlungen als erforderlich aufdrängen mussten. Die Klägerin hat bereits vor dem Zulassungsausschuss vorgetragen, dass die allgemeine Erreichbarkeit mit öffentlichen Nahverkehrsmitteln in der ländlichen Region schwierig ist. Im Verfahren vor dem Beklagten hat sie darüber hinaus mehrere Gemeinden genannt, die von ihr versorgt werden und in die Betrachtung einbezogen werden müssten. Dennoch hat der Beklagte die Erreichbarkeit nicht näher systematisch geprüft, sondern in seinem Bescheid mit der Erreichbarkeit der bestehenden PIAs vom geplanten PIA-Standort Ne argumentiert. Darauf kommt es jedoch nicht allein an. Maßgeblich sind die Wohnorte der potentiellen Patienten (vgl. BSG, Urteil vom 29. Juni 2022, zitiert nach juris, Rn. 27).

 

Anlass für Ermittlungen hätte auch deshalb bestanden, weil zumindest Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass eine ausreichende Erreichbarkeit der bestehenden PIAs mit öffentlichen Verkehrsmitteln – auch unter Berücksichtigung des Beurteilungsspielraums des Beklagten – nicht mehr gewährleistet ist. Dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 29. Juni 2022 (B 6 KA 3/21 R) ist zu entnehmen, dass eine PIA für Menschen mit schweren psychischen Beeinträchtigungen unter Berücksichtigung des Beurteilungsspielraums der Zulassungsgremien zumutbar erreichbar ist, wenn die Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln eine Stunde nicht überschreitet (vgl. Leitsatz sowie Rn. 34, zitiert nach juris). Diese Grenze könnte bei den von der Klägerin genannten Gemeinden teilweise überschritten sein. Zwar lässt sich nach den Angaben der Klägerin von einigen der genannten Gemeinden aus zumindest ein PIA-Standort zumutbar erreichen (z.B. S von H: 45 Minuten). Allerdings befinden sich unter den genannten Gemeinden insbesondere auch solche, von denen aus N, nicht jedoch ohne Weiteres die PIA-Standorte S und R, zumutbar mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar sein dürften. Dies betrifft (nach einer aktuellen Abfrage von Fahrzeiten zwischen der jeweiligen Ortsmitte und den Adressen der bestehenden PIA-Standorte mithilfe des Kartenanbieters google maps) z.B. die Gemeinde H (schnellste Wegezeit H – N: 36 Minuten; H – PIA S: 1:10 h [nach den Angaben der Klägerin 1:28 h]; H – PIA R: 1:13 h). Darauf ist der Beklagte auch im gerichtlichen Verfahren nicht ausreichend eingegangen. Eine Gemeinde wie H kann aufgrund seiner Einwohnerzahl von etwa 12.000 auch nicht ohne Weiteres beurteilungsfehlerfrei als unbedeutend vernachlässigt werden. 

 

4. Der Beklagte wird die erforderlichen Feststellungen im Rahmen der ihm auferlegten Neubescheidung des Antrags der Klägerin zu treffen haben.

 

Bei der Neubescheidung sind insbesondere die im Urteil des Bundessozialgerichts vom 29. Juni 2022 (B 6 KA 3/21 R) vorgegebenen Maßstäbe zugrunde zu legen. Danach kommt es, wenn ein Bedarf für eine Versorgung mit spezifischen PIA-Leistungen vorliegt, grundsätzlich nicht darauf an, ob niedergelassene Psychiater, Nervenärzte und Psychotherapeuten im Einzugsbereich der geplanten PIA noch freie Behandlungskapazitäten haben, sondern darauf, ob das Angebot bereits ermächtigter PIAs ausreicht (siehe oben). Dabei können in der Regel nur solche PIAs berücksichtigt werden, die von den potentiellen Patienten des Einzugsgebietes der geplanten PIA zumutbar erreichbar sind, was – auch unter Berücksichtigung des Beurteilungsspielraums der Zulassungsgremien – regelmäßig insbesondere voraussetzt, dass eine Erreichbarkeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln innerhalb von einer Stunde gewährleistet ist. Kann die Adresse einer bestehenden PIA innerhalb von einer Stunde erreicht werden, ist zudem zu prüfen, ob die Verbindung auch sonst zumutbar von den typischerweise erheblich psychisch erkrankten (potentiellen) Patienten erreicht werden kann. Unzumutbar kann eine Verbindung für solche Patienten unter Umständen auch sein, wenn sie mit mehreren Umstiegen verbunden ist (vgl. BSG, Urteil vom 29. Juni 2022, B 6 KA 3/21 R, zitiert nach juris, Rn. 33, siehe oben).

 

Die Prüfung, ob andere PIAs die Versorgung bereits in ausreichendem Maße gewährleisten, ist grundsätzlich nicht auf den Planungsbereich oder Landkreis, in dem die PIA eingerichtet werden soll, beschränkt (vgl. BSG, Urteil vom 29. Juni 2022, B 6 KA 3/21 R, zitiert nach juris, Rn. 23: Versorgungsbedarf im „räumlichen Einzugsbereich“; vgl. auch – in Bezug auf ein SPZ – BSG, Urteil vom 29. Juni 2011, zitiert nach juris, Rn. 12; Pawlita, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, § 96 SGB V, Stand: 7. November 2024, Rn. 63). Nicht von vornherein ausgeschlossen ist im vorliegenden Fall daher, in die Betrachtung auch etwaige PIA-Versorgungsangebote im angrenzenden Berlin einzubeziehen. Allerdings müssen die Zulassungsgremien, wenn sie diese angrenzenden Versorgungsangebote im Rahmen der Bedarfsdeckung berücksichtigen wollen, genau prüfen, ob damit nicht der Bedarf in der angrenzenden Region abgedeckt wird und eventuell dort vorhandene Kapazitäten schon zur (fiktiven) Bedarfsdeckung in anderen Verfahren in dieser Region herangezogen worden sind. Die ohnehin nur begrenzte Aussagekraft von (fiktiv) freien Kapazitäten wird noch weiter gemindert, wenn auf solche Einrichtungen abgestellt wird, die auch Patienten aus Orten versorgen, die bei der konkreten Entscheidung gar nicht im Blick sein können (vgl. BSG, Urteil vom 17. März 2021, B 6 KA 2/20 R, zitiert nach juris, Rn. 44). Im Gesamtbild erscheint es daher kaum machbar, eine ausreichende Versorgung mit Verweis auf Versorgungsangebote in Berlin tragfähig zu begründen. 

 

Die Maßgabe, dass bestehende PIAs innerhalb von einer Stunde mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar sind, schließt es nicht aus, dass im Einzelfall unter bestimmten Umständen auch längere Wegezeiten hinzunehmen sind. Dies gilt insbesondere für besonders dünn besiedelte Gebiete und Gemeinden mit einer besonders geringen Einwohnerzahl, sofern keine Anhaltspunkte für einen speziellen PIA-Behandlungsbedarf an diesen Orten vorliegen (etwa weil es dort eine größere Wohneinrichtung mit Patienten gibt, die auf eine Behandlung in einer PIA angewiesen sind). Wegezeiten mit öffentlichen Verkehrsmitteln von maximal einer Stunde sind unter solchen Umständen insbesondere von Verfassungs wegen nicht geboten. Auch der von Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG umfasste Förderauftrag vermittelt nur einen Anspruch auf die Ermöglichung gleichberechtigter Teilhabe nach Maßgabe der verfügbaren finanziellen, personellen, sachlichen und organisatorischen Möglichkeiten (vgl. BSG, Urteil vom 29. Juni 2022, B 6 KA 3/21 R, zitiert nach juris, Rn. 57). Ausgehend davon dürfen sich die Zulassungsgremien bei der Ausübung ihres Beurteilungsspielraumes von dem Maßstab leiten lassen, dass eine PIA zumindest vom ganz überwiegenden Teil der (potentiellen) Patienten des Einzugsbereiches der PIA innerhalb einer Stunde mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar ist.   

 

Bei der Bestimmung des Wohnorts der potentiellen Patienten im Rahmen der Berechnung der Wegezeiten zu den bestehenden PIAs bei Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel können die Zulassungsgremien im Rahmen ihres Beurteilungsspielraums typisierend vorgehen. Nicht erforderlich ist insbesondere, als Ausgangspunkt des Weges auf denjenigen konkreten Ort innerhalb einer Gemeinde des Einzugsgebietes abzustellen, von dem aus eine bestehende PIA am schlechtesten erreichbar ist. Vertretbar erscheint etwa, als Ausgangspunkt typisierend den vom Kartenanbieter google maps verwendeten Ortsmittelpunkt heranzuzuziehen. Umgekehrt wäre es beurteilungsfehlerhaft, als Ausgangspunkt des Weges einen am Rande einer Gemeinde liegenden Bahnhof oder Bushaltepunkt bei der Berechnung der Wegezeit zugrunde zu legen, wenn offensichtlich ist, dass dieser Ort von einem wesentlichen Teil der Gemeindebewohner nur erreichbar ist, wenn dafür nicht unerhebliche Fußstrecken zurückgelegt werden (wie dies z.B. beim U-Bahnhof H der Fall ist). Auf solche Orte kann für die Berechnung der Wegezeit beurteilungsfehlerfrei nur abgestellt werden, wenn der Gesamtwegezeit ein „Sicherheitszuschlag“ für die Fußstrecke hinzugerechnet wird, dessen Umfang in Minuten sich nach den lokalen Gegebenheiten richtet. Darüber hinaus scheidet eine typisierende Betrachtung aus, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass an einem bestimmten Ort innerhalb einer Gemeinde ein spezieller Bedarf für eine PIA besteht (etwa weil es dort eine größere Wohneinrichtung mit Patienten gibt, die auf eine Behandlung in einer PIA angewiesen sind). In einem solchen Fall müssen bestehende PIAs grundsätzlich auch von diesem konkreten Ort aus zumutbar (regelmäßig innerhalb von einer Stunde mit öffentlichen Verkehrsmitteln) erreichbar sein.     

 

Darüber hinaus sind – entgegen der Rechtsauffassung der Klägerin – keine weitere Einschränkungen notwendig im Hinblick darauf, dass die betroffenen Versicherten häufig krankheitsbedingt nicht in der Lage sind, auch kürzere Strecken mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurückzulegen, etwa weil ihnen bedingt durch ihre psychische Erkrankung der Antrieb hierfür fehlt (vgl. BSG, Urteil vom 29. Juni 2022, B 6 KA 3/21 R, zitiert nach juris, Rn. 28, 35 ff.). Solche Einschränkungen ergeben sich insbesondere nicht aus Art. 25 UN-BRK, dem Diskriminierungsverbot des Art. 5 Abs. 2 UN-BRK oder aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG (vgl. BSG, Urteil vom 29. Juni 2022, B 6 KA 3/21 R, zitiert nach juris, Rn. 50 ff.). Diese Maßstäbe im Urteil des Bundessozialgerichts vom 29. Juni 2022 können ohne Weiteres auf den vorliegenden Fall übertragen werden. Sie beziehen sich – anderes als die Klägerin meint – allgemein-typisierend auf Versicherte mit schweren psychischen Erkrankungen, die auf eine Behandlung in einer PIA angewiesen sind, und nicht nur auf Bewohner einer Einrichtung (vgl. z.B. auch Rn. 33: „typisierend“, Rn. 42: „Gruppe der Versicherten mit schweren psychischen Erkrankungen“, Rn. 48: „Personenkreis der schwer psychisch Erkrankten“). Den von der Klägerin in ihrem „Beweisantrag“ aufgeworfenen Fragen muss daher nicht weiter nachgegangen werden.

 

Der Beklagte wird im Rahmen der Neubescheidung auch zu prüfen haben, ob bei bestehenden PIAs überhaupt noch Versorgungskapazitäten vorhanden sind (sofern kein Ausnahmefall einer Deckung des PIA-Bedarfs durch besondere Angebote niedergelassener Ärzte oder MVZ besteht, vgl. BSG, Urteil vom 29. Juni 2022, B 6 KA 3/21 R, zitiert nach juris, Rn. 21, und sofern die jeweilige PIA berücksichtigt werden kann, weil sie zumutbar erreichbar ist). Dies betrifft insbesondere auch diejenigen PIAs, die von der Klägerin betrieben werden. Denn die Klägerin hat im gerichtlichen Verfahren konkrete (teils lange) Wartezeiten in ihren PIAs genannt. Ob diese Wartezeiten im vorliegenden gerichtlichen Verfahren verspätet vorgetragen wurden, ist im Rahmen der Neubescheidung unerheblich. 

 

5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a SGG i.V.m. §§ 154 Abs. 1 und 3, 162 Abs. 3 Verwaltungsgerichtsordnung.

 

6. Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), liegen nicht vor.

Rechtskraft
Aus
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