L 7 KA 4/23

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
7
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 22 KA 82/18
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 7 KA 4/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Ein Missbrauch der Kooperationsform ist bei einer aus zwei Fachärzten für Orthopädie und Unfallchirurgie bestehenden fachgruppengleichen Praxisgemeinschaft anzunehmen, wenn das Aufgreifkriterium von 20 Prozent gemeinsamer Patienten in mehreren Quartalen teils erheblich überschritten wird, in einer Vielzahl von Fällen (Blanko-)Überweisungen an den Praxispartner ohne Angabe des konkreten Überweisungsgrundes stattfinden, Versichertenkarten regelmäßig bei beiden Praxispartnern am selben Tag eingelesen werden und gegenseitige Vertretungen auf Zuruf stattfinden.     

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts

Berlin vom 30. November 2022 geändert.

 

Der Bescheid der Beklagten vom 19. August 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Februar 2018 wird aufgehoben, soweit der Honorarfestsetzungsbescheid für das Quartal I/13 aufgehoben und das ärztliche Honorar für dieses Quartal um 5.699,43 Euro (brutto) gekürzt wurde.

 

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

 

Im Übrigen wird die Berufung des Klägers zurückgewiesen.

 

Der Kläger trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

 

 

 

Tatbestand

 

Im Streit steht die Rechtmäßigkeit von Honorarrückforderungen für die Quartale I/2011 bis III/2013 wegen missbräuchlicher Nutzung der Kooperationsform der Praxisgemeinschaft.

 

Der Kläger nimmt seit dem 1. Oktober 2009 als Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie an der vertragsärztlichen Versorgung teil. In den streitigen Quartalen bildete er am Standort T in B eine Praxisgemeinschaft mit dem Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie Dr. G, der ebenfalls an der vertragsärztlichen Versorgung teilnahm. In den streitigen Quartalen verfügte der Kläger unter anderem über eine Abrechnungsgenehmigung für Akupunktur und Dr. G unter anderem über eine Abrechnungsgenehmigung für Chirotherapie (manuelle Therapie, seit 2. November 2010). Seit dem 1. Oktober 2015 sind beide Ärzte als Berufsausübungsgemeinschaft an diesem Standort tätig.

 

Mit Schreiben vom 14. Februar 2013 teilte die Beklagte Dr. G mit, dass sie hinsichtlich der Quartale II/2010 bis IV/2010 eine Plausibilitätsprüfung nach § 106a Sozialgesetzbuch Fünftes Buch – SGB V – durchführe, weil der Anteil der Patienten, die auch vom Kläger behandelt würden, auffällig hoch sei.

 

Dr. G erklärte die Patientenidentität daraufhin wie folgt: Er habe den Kassenarztsitz erst am 7. April 2010 zugesprochen bekommen. In den Quartalen II/2010 und III/2010 habe ihm die Abrechnungsgenehmigung für Leistungen in der Röntgendiagnostik des gesamten Skeletts gefehlt. Zusätzlich habe in den Quartalen II/2010 bis IV/2010 noch die Abrechnungsgenehmigung für die Sonographie des Bewegungsapparates gefehlt. Er habe daher Patienten überwiesen. Außerdem verfüge der Kläger über die Weiterbildung für Akupunktur, die er nicht besitze, so dass er regelmäßig Patienten überweise mit der Frage, ob eine solche Therapie indiziert und erfolgsversprechend sei. Auf der anderen Seite besitze er die Weiterbildung für manuelle Therapie, die der Kläger nicht habe, so dass auch er regelmäßig Patienten überweise. Des Weiteren habe er – Dr. G – sich auf die obere Extremität spezialisiert und der Kläger auf die untere. Dies führe dazu, dass Patienten, bei denen eine OP-Indikation abgeklärt werden solle, zu dem jeweils spezialisierten Kollegen wechselten.

 

Die Beklagte teilte Dr. G mit Schreiben vom 24. Mai 2013 mit, dass das Plausibilitätsverfahren hinsichtlich der Quartale II/2010 bis IV/2010 eingestellt werde. Der Plausibilitätsausschuss habe empfohlen, das Verfahren zu beenden, da eine rechtliche Fehlerhaftigkeit der ärztlichen Abrechnungen nicht habe festgestellt werden können. Dem sei die Beklagte gefolgt.

 

Mit Schreiben vom 12. März 2014 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass sie eine Plausibilitätsprüfung nach § 106a SGB V aufgrund von auffällig hoher Patientenidentität mit der Praxis Dr. G in den Quartalen I/2011 bis IV/2012 sowie II/2013 und III/2013 durchführe. Dem lagen die folgenden Behandlungszahlen zugrunde [Bl. 10 f. VA IV]:

 

Quartal

Abgerechnete Patienten

Gemeinsame Patienten

Gemeinsame Patienten in %

Überschreitung

I/2011

1.596

527

33,02

13,02

II/2011

1.590

513

32,26

12,26

III/2011

1.573

506

32,17

12,17

IV/2011

1.598

510

31,91

11,91

I/2012

1.553

448

28,85

8,85

II/2012

1.489

473

31,77

11,77

III/2012

1.409

390

27,68

7,68

IV/2012

1.332

358

26,88

6,88

         

II/2013

1.168

269

23,03

3,03

III/2013

1.138

239

21,00

1,00

 

Der Kläger erklärte hierzu, seine Abrechnungsgenehmigung für Akupunktur führe zu einem großen Patientenstrom von Herrn Dr. G zu seiner Praxis. Dr. G habe die Abrechnungsgenehmigung für Akupunktur noch nicht erhalten. Andererseits verfüge Dr. G über eine Abrechnungsgenehmigung für manuelle Therapie, was zu Überweisungen an dessen Praxis führe. Darüber hinaus sei Dr. G auf arthroskopische Eingriffe im Bereich der oberen Extremitäten spezialisiert, während er, der Kläger, den Bereich der unteren Extremitäten abdecke. Auch aus diesem Grund komme es regelmäßig zu Überweisungen an den spezialisierten Kollegen. 

 

Hinsichtlich der Quartale I/2011 bis III/2013 gelangte der Plausibilitätsausschuss am 10. August 2015 nach stichprobenhafter Analyse von insgesamt 55 Doppelbehandlungsfällen (5 pro Quartal, auch I/2013) zu der Einschätzung, dass die Kooperationsform der Praxisgemeinschaft i.S.d. § 33 Abs. 1 Zulassungsverordnung für Vertragsärzte – Ärzte-ZV – missbräuchlich genutzt worden sei. Es habe sich zwar bestätigt, dass der Kläger auf Überweisung Dr. G Akupunkturen (GOP 30791) durchgeführt habe (im Quartal I/2011 bei 10 Patienten, II/2011 bei 24, III/2011 bei 11, IV/2011 bei 11, I/2012 bei 19, II/2012 bei 22, III/2012 bei 12, IV/2012 bei 18, I/2013 bei 20, II/2013 bei 21 und III/2013 bei 18 Patienten). Ebenso habe sich bestätigt, dass der Kläger Patienten an Dr. G zur Durchführung von Chirotherapien (GOP 30200 und 30201) überwiesen habe (im Quartal I/2011: 54 Patienten, II/2011: 88, III/2011: 82, IV/2011: 122, I/2012: 33, II/2012: 50, III/2012: 29, IV/2012: 17, I/2013: 141, II/2013: 127 und III/2013: 178). Diese – gerechtfertigten – Überweisungen könnten jedoch nur einen geringen Anteil der gemeinsamen Patientenbehandlungen erklären. Der Großteil der gegenseitigen Überweisungen betreffe die orthopädische bzw. unfallchirurgische Behandlung eines gemeinsamen Patientenstammes aufgrund gleicher Diagnosen. Zum Teil seien auch identische Leistungen erbracht worden. Ein wichtiges Indiz für die fehlende Trennung der beteiligten Praxen sei zudem das Einlesen der Krankenversicherungskarten fast ausschließlich am selben Tag und das Führen der Patienten unter identischen Patientennummern in der Praxissoftware der Ärzte. Damit hätten die Praxisinhaber gegen § 19 Abs. 3 Bundesmantelvertrag-Ärzte – BMV-Ä – verstoßen, da die Krankenversicherungskarten der Patienten stets bei der ersten Inanspruchnahme des Arztes vorzulegen und in die Praxissoftware eingelesen werden müssten, die Patienten aber in der Regel nicht an identischen Tagen in den Praxen vorstellig gewesen seien. Der Kläger habe seine ärztliche Tätigkeit unter missbräuchlicher Verwendung des Rechtsinstituts der Praxisgemeinschaft in der Form der Gemeinschaftspraxis (jetzt: Berufsausübungsgemeinschaft) verrichtet. Er habe gegen § 33 Abs. 2 Ärzte-ZV verstoßen, wonach für den Betrieb einer Gemeinschaftspraxis eine gesonderte Genehmigung erforderlich sei.

 

Mit Bescheid vom 19. August 2015, der dem Kläger am 20. August 2015 zugestellt wurde, hob die Beklagte die Honorarbescheide des Klägers für die Quartale I/2011 bis III/2013 (Datum des Honorarbescheides für das Quartal I/2011: 1. September 2011) teilweise auf, nahm eine sachlich-rechnerische Berichtigung vor und forderte vom Kläger Honorar in Höhe von insgesamt 88.779,42 Euro brutto (87.054,31 Euro netto) zurück. Dabei dividierte sie die Anzahl der Doppelbehandlungsfälle im jeweiligen Quartal nach Abzug der auch nach ihrer Auffassung gerechtfertigten (auf durchgeführte Akupunkturen und Chirotherapien entfallenden) Überweisungen durch zwei und multiplizierte die verbleibenden Fälle mit dem quartalsbezogenen arztindividuellen Fallwert:

Quartal

Anzahl gemein-samer Patienten

Gerechtfertigt abgerechnete Überweisun-gen

Hälfte der verbleiben-

den Fälle

Quartals-bezogener arztindividueller Fallwert

Rückforderungs-betrag (brutto)

I/2011

527

64

231

48,36 Euro

11.171,16 Euro

II/2011

513

112

200

48,86 Euro

9.772,00 Euro

III/2011

506

93

206

45,65 Euro

9.403,90 Euro

IV/2011

510

133

188

49,18 Euro

9.245,84 Euro

I/2012

448

52

198

47,52 Euro

9.408,96 Euro

II/2012

473

72

200

58,40 Euro

11.680,00 Euro

III/2012

390

41

174

51,40 Euro

8.943,60 Euro

IV/2012

358

35

161

54,56 Euro

8.784,16 Euro

I/2013

359

161

99

57,57 Euro

5.699,43 Euro

II/2013

269

148

60

57,83 Euro

3.469,80 Euro

III/2013

239

196

21

57,17 Euro

1.200,57 Euro

 

 

 

 

 

= 88.779,42 Euro

 

Zur Begründung teilte die Beklagte mit, dass nur ein geringer Anteil der gemeinsamen Patienten auf gerechtfertigte Überweisungen zurückzuführen sei. Bei den übrigen Doppelbehandlungsfällen seien Leistungen erbracht und abgerechnet worden, die der erstbehandelnde Arzt habe erbringen können. Beispielsweise habe der Kläger bei einem Patienten am 12. März 2012 eine Verstauchung und Zerrung des oberen Sprunggelenks diagnostiziert. Obwohl sich der Kläger nach eigenen Angaben auf die Behandlung der unteren Extremitäten spezialisiert habe, sei der Patient an Dr. G überwiesen worden. Noch am gleichen Tag habe Dr. G Röntgenaufnahmen der Extremitäten (GO-Nr. 34233 EBM) erstellt und dem Patienten einen fixierenden Verband angelegt (GO Nr. 02350 EBM). Diese Leistungserbringung durch Dr. G stelle keinen rechtfertigenden Grund für die Hinzuziehung einer fachgleichen Praxis dar, da der Kläger die GO-Nr. 34233 EBM im entsprechenden Quartal selbst 157 Mal und die GO-Nr. 02350 273 Mal abgerechnet habe. Eine solche rechtsmissbräuchliche Überweisungspraxis werde auch an zahlreichen anderen Behandlungsfällen deutlich. Wegen der Einzelheiten dieser Behandlungsfälle wird auf die Bescheidbegründung, Seiten 41-44 der elektronischen Verwaltungsakte, Teil 4, Bezug genommen.

 

Des Weiteren seien in 39 der 55 Beispielsfälle die Krankenversichertenkarten am selben Tag sowohl in der Praxis des Klägers als auch in der Dr. G eingelesen worden, obwohl die Patienten nicht an identischen Tagen in beiden Praxen vorstellig geworden seien. Der auffällige Anteil identischer Patienten sei unter Berücksichtigung dieser Umstände auf einen Gestaltungsmissbrach zurückzuführen, der planmäßiges Handeln vermuten lasse. Es sei bewusst treuwidrig eine Fallzahlsteigerung herbeigeführt worden, die sich aus der abwechselnden Behandlung eines Patienten in beiden Praxen der Praxisgemeinschaft ohne medizinische Notwendigkeit ergeben habe. Die rechtsmissbräuchliche Überweisungspraxis habe den Zweck gehabt, über die tatsächlich praktizierte gemeinschaftliche orthopädische Patientenversorgung hinwegzutäuschen. Gemäß § 24 Abs. 4 BMV-Ä seien Überweisungen an einen Vertragsarzt derselben Arztgruppe nur zulässig zur Inanspruchnahme besonderer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, die vom behandelnden Vertragsarzt nicht erbracht werden könnten. Tatsächlich liege eine Berufsausübungsgemeinschaft vor. Die Honorare seien nach Maßgabe eines weiten Schätzungsermessens neu festzusetzen gewesen. Anhaltspunkte für eine einzelfallbezogene Honorarschätzung hätten nicht vorgelegen, da die ungerechtfertigt behandelten Patienten nicht eindeutig einer der beteiligten Praxen hätten zugordnet werden können.

 

Dagegen erhob der Kläger Widerspruch mit folgender Begründung: Das Auffälligkeitskriterium von 20 Prozent sei nur unwesentlich überschritten worden. Daher müssten weitere belastende Umstände hinzutreten, die nicht vorlägen. Eine Überweisung gemäß § 24 BMV-Ä sei auch dann zulässig, wenn es um die Abklärung einer Verdachtsdiagnose gehe und der Überweisungsempfänger die für die Behandlung notwendigen besonderen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden anbiete. So sei es hier vielfach gewesen, etwa wenn Patienten zum Kläger überwiesen worden seien, um abklären zu lassen, ob eine Therapie mit Akupunktur indiziert sei, oder wenn Patienten auch Dr. G vorgestellt worden seien, um Blockierungen als Ursache von Beschwerden und den Bedarf für Chirotherapie abklären zu lassen (auch wenn Akupunktur bzw. Chirotherapie dann tatsächlich mangels Indikation nicht durchgeführt worden seien). Andere Überweisungen seien aufgrund fehlender Spezialisierung angezeigt gewesen, etwa wenn ein Patient bei Dr. G vorgestellt worden sei, um seine Meinung als Spezialist für die obere Extremität einzuholen. Teilweise seien auch notfall- und urlaubsbedingt oder wegen geschlossener Praxis Behandlungen durch den anderen Arzt durchgeführt worden. Das Einlesen der Versichertenkarten sei eine in Praxisgemeinschaften regelmäßig geübte Praxis, um im Bedarfsfalle die Patientendaten schon in der Praxissoftware zu haben. Damit sei keine Fallzahlvermehrung bezweckt worden. Das Einlesen der Versichertenkarten am selben Tag habe z.B. darauf beruht, dass am Tag der Behandlung durch einen Arzt gleichzeitig der Termin bei Dr. G mit der Fragestellung Chirotherapie bzw. der Termin beim Kläger zur Klärung der Akupunkturbehandlung vereinbart worden sei. Teilweise seien die Patienten auch am selben Tag von beiden Ärzten behandelt worden.

 

Im Übrigen besuchten viele Patienten einen Arzt ohne Termin, ohne zuvor die Sprechstundenzeiten des zuvor behandelnden Arztes zu prüfen. Gerade bei einer fachgruppengleichen Praxisgemeinschaft sei es dem Patienten nicht vermittelbar, dass er nicht von dem Arzt behandelt werden könne, der gerade anwesend sei, ihn aber bisher nicht behandelt habe. Wenn der Patient die Behandlung wünsche, sei dies von der freien Arztwahl gedeckt. Dieser Fall könne nicht anders beurteilt werden, als würde der Patient ad hoc einen anderenorts niedergelassenen Fachkollegen aufsuchen.

 

Zuletzt seien beide Ärzte Väter jeweils dreier Kinder. Es hätten dementsprechend regelmäßig kurzfristige Vertretungen stattgefunden, die aufgrund von Erkrankungen der Kinder notwendig geworden seien. Abgesehen davon liege keine grobe Fahrlässigkeit vor. Für die Behandlung eines Patienten durch beide Praxisgemeinschaftspartner habe es jeweils einen sachlichen Grund gegeben. Auch habe die Beklagte ihr Ermessen bei der Festsetzung der Rückforderungssumme nicht ausreichend ausgeübt und den Bescheid insoweit nicht ausreichend begründet. Die Beklagte sei verpflichtet gewesen, den Schaden konkret zu ermitteln. Anknüpfungspunkt für eine ungerechtfertigte Mehrabrechnung könne nur die ggf. doppelt angefallene Grundpauschale sein. Das Instrument der sachlich-rechnerischen Richtigstellung habe keinen Sanktionscharakter. Wegen des Vorbringens des Klägers zu einzelnen Behandlungsfällen wird auf Bl. 77-87 der elektronischen Verwaltungsakte, Teil 4, Bezug genommen. 

 

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 13. Februar 2018 zurück. Rechtsgrundlage des Honoraraufhebungs- und Rückforderungsbescheides vom 19. August 2015 sei § 106d Abs. 2 Satz 1 SGB V. Die Beklagte könne sachlich-rechnerische Berichtigungen auch durchführen, wenn Mitglieder einer Praxisgemeinschaft Doppelbehandlungen von Patienten treuwidrig herbeigeführt hätten. Der Kläger habe gegen § 33 Abs. 2 Ärzte-ZV verstoßen. Er sei als Einzelpraxis nach § 33 Abs. 1 Ärzte-ZV aufgetreten. In Wirklichkeit habe er jedoch mit der Praxis Dr. G eine Gemeinschaftspraxis nach § 33 Abs. 2 Ärzte-ZV betrieben. Damit habe er sich pflichtwidrig vertragsärztliches Honorar verschafft, das er bei korrekter Durchführung der Zusammenarbeit nicht hätte erzielen können. Der Anteil identischer Patienten habe in den Quartalen I/2011 bis IV/2012 sowie II-III/2013 bei über 20 Prozent gelegen. Als entlastende Umstände könnten Vertreter- und Notfälle sowie Überweisungen zur Auftragsleistung berücksichtigt werden. Jedoch hätten weder der Kläger noch Dr. G Notfallbehandlungen abgerechnet. Ebenso wenig habe es Überweisungen zur Auftragsleistung gegeben. Im Rahmen der Vertretung seien lediglich eine Behandlung durch Dr. G und drei Behandlungen durch den Kläger abgerechnet worden. Es sei aber in folgendem Umfang zur Mit- und Weiterbehandlung überwiesen worden:

 

Quartal

Überweisungen Kläger an Dr. G

Überweisungen Dr. G an Kläger

I/2011

231

231

II/2011

250

248

III/2011

227

204

IV/2011

270

213

I/2012

263

179

II/2012

233

260

III/2012

245

217

IV/2012

278

219

I/2013

213

121

II/2013

237

170

III/2013

278

93

 

Die Überweisungen zur Durchführung von Akupunkturen bzw. Chirotherapien seien anerkannt worden. Im Übrigen sei die gemeinschaftliche Behandlungspraxis weiterhin zu beanstanden. Für die gemeinsame Behandlung habe es keine medizinische Notwendigkeit gegeben. Gemäß § 24 BMV-Ä seien Überweisungen an einen Vertragsarzt derselben Arztgruppe nur zulässig zur (1.) Inanspruchnahme besonderer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, die vom behandelnden Vertragsarzt nicht erbracht würden, (2.) Übernahme der Behandlung durch einen anderen Vertragsarzt bei Wechsel des Aufenthaltsorts des Kranken sowie (3.) Fortsetzung einer abgebrochenen Behandlung. Diese Voraussetzungen hätten nicht vorgelegen. Es sei typisch orthopädisches Patientenklientel gleichermaßen von beiden Ärzten behandelt worden. Die EBM-Nr. 18330, die bei Funktionsstörungen der Hand anzusetzen sei, habe der Kläger teilweise sogar öfter im Quartal angesetzt als Dr. G, obwohl dieser sich auf die oberen Extremitäten spezialisiert habe. Die nach § 24 Abs. 7 BMV-Ä grundsätzlich gebotene Angabe der Diagnose, der Verdachtsdiagnose oder der Befunde fehle auf den von den Praxisgemeinschaftspartnern ausgestellten Überweisungen gänzlich. Insgesamt sei festzustellen, dass in keinem Fall eine gerechtfertigte Überweisung vorgelegen habe, da sowohl der Kläger als auch Dr. G das gleiche Leistungsspektrum angeboten hätten und die Leistungen als jeweils erstbehandelnder Arzt selbst hätten erbringen können. Nicht gerechtfertigt seien auch die im Quartal II/2012 abgerechneten vier Behandlungen auf Vertreterscheinen. Der jeweils vertretene Arzt sei an den betreffenden Tagen ebenfalls vertragsärztlich tätig gewesen. Offensichtlich hätten sich der Kläger und Dr. G absprachegemäß bei Abwesenheit vertreten lassen, wobei es sich in diesen Fällen um die arbeitsteilige Übernahme von Behandlungen von Patienten handele, wie sie gerade Kennzeichen einer Gemeinschaftspraxis sei. Sei der zu Vertretende im Dienst, aber anderweitig beschäftigt (etwa mit Hausbesuchen), handele es sich nicht um eine Vertretung i.S.d. § 32 Ärzte-ZV. Das systematische Zuweisen von Patienten an einen anderen ärztlichen Kollegen ohne medizinische Notwendigkeit, allein mit dem Ziel, dem ärztlichen Kollegen Einnahmen zu verschaffen, sei rechtsmissbräuchlich. Die Rückforderungssumme sei rechtmäßig festgesetzt worden. Wegen der Einzelheiten der Begründung des Widerspruchsbescheides, insbesondere der Ausführungen der Beklagten zu einzelnen Behandlungsfällen, wird auf Bl. 7 bis 23 der Gerichtsakte verwiesen.  

 

Gegen den ihm mit Schreiben vom 3. April 2018 am 5. April 2018 zugestellten Widerspruchsbescheid hat der Kläger am 23. April 2018 Klage zum Sozialgericht Berlin erhoben. Er hat die Aufhebung des Bescheides vom 19. August 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Februar 2018 beantragt, sein Vorbringen aus dem Verwaltungsverfahren wiederholt und ergänzend geltend gemacht: Der überwiegende Anteil gemeinsamer Patienten resultiere aus Überweisungen zur Mit- und Weiterbehandlung, insbesondere zur Abklärung oder Durchführung einer Akupunktur oder einer manuellen Therapie. Ein Gestaltungsmissbrauch liege nicht vor. Die Patientenidentitäten seien durch berechtigte Überweisungen und teilweise durch Vertretungen gerechtfertigt. Eine Überweisung sei gemäß § 24 BMV-Ä auch dann zulässig, wenn es um die Abklärung eines Diagnoseverdachtes geht, wobei der Überweisungsempfänger die für die Behandlung notwendigen besonderen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden anbiete. So seien die Praxisgemeinschaftspartner als Orthopäden in der Lage, bei der Untersuchung eines Patienten eine Verdachtsdiagnose zu stellen, die in den Spezialisierungsbereich des jeweiligen Kollegen falle bzw. einer entsprechen Behandlung bedürfe (Dr. G: Chirotherapie, Kläger: Akupunktur). Krankheitsbilder wie z.B. die Blockierung des Talofibulargelenks, könnten nur von einem Kollegen mit der Zusatzbezeichnung manuelle Therapie diagnostiziert und behandelt werden. Daraus folge natürlich nicht zwingend die Bestätigung der Verdachtsdiagnose, mithin auch nicht dessen Behandlung und Abrechnung. Habe der Verdacht ausgeschlossen werden können, sei dennoch die entsprechende Ziffer (Grundpauschale) abrechenbar. So liege der Fall vielfach hier: Patienten, die mit der Fragestellung zu Dr. G gekommen seien, ob eine behandlungsbedürftige Blockierung vorliege, jedoch nicht behandelt worden seien, da dessen Diagnostik keinen Anlass dazu gegeben habe, seien dennoch gerechtfertigt behandelt worden. Dies gelte umgekehrt auch für Patienten, die mit einer Überweisung aufgrund von Kniegelenksbeschwerden oder LWS-Beschwerden zum Kläger gekommen seien, um abklären zu lassen, ob eine Therapie mit Akupunktur indiziert sei. Dasselbe gelte für Überweisungen, die aufgrund fehlender Spezialisierung angezeigt gewesen seien. Der Kläger habe spezialisiert die unteren Extremitäten behandelt und Dr. G die oberen. Es sei keine Rechtsgrundlage dafür ersichtlich, eine Überweisung nur dann als gerechtfertigt anzusehen, wenn sich eine Verdachtsdiagnose auch tatsächlich bestätige. Dass etwa keine Akupunktur erfolgt sei, könne verschiedene Gründe haben, etwa deren Ablehnung durch den Patienten oder eine fehlende Indikation. Da die Beklagte eine Überweisung bei erfolgter Therapie als gerechtfertigt qualifiziere, sei nicht ersichtlich, weshalb es sich bei einer diagnostischen Abklärung um eine ungerechtfertigte Überweisung handeln solle. § 24 Abs. 7 BMV-Ä sehe auch Verdachtsdiagnosen als Überweisungsgrund vor. Es könne nicht verlangt werden, dass im Bereich von Zusatzweiterbildungen mit Abrechnungsgenehmigung der Überweiser die Indikation stelle. Denn diese Spezialgebiete (Akupunktur, manuelle Therapie) würden in der Facharztausbildung Orthopädie und Unfallchirurgie nicht gelehrt. Der Abrechenbarkeit stehe auch nicht entgegen, dass die Überweisungen zur Mit- und Weiterbehandlung teilweise keine (Verdachts-)Diagnosen enthalten hätten. § 24 Abs. 7 BMV-Ä enthalte insoweit nur eine Soll-Vorgabe. Die Rückforderung sei auch der Höhe nach rechtswidrig. Es hätte eine konkrete Schadensermittlung durchgeführt und ein Sicherheitsabschlag von 25 Prozent vorgenommen werden müssen. Wegen des Vorbringens des Klägers zu einzelnen Behandlungsfällen wird auf Bl. 45-57 der Gerichtsakte Bezug genommen.  

 

Dem hat die Beklagte entgegengehalten: Es bleibe dabei, die wechselseitige Abrechnung als gemeinsame Ausübung der vertragsärztlichen Tätigkeit zu werten. Die Patientenidentität könne nicht damit erklärt werden, dass eine rechtmäßige Vertretung stattgefunden habe. Soweit der Kläger mit den unterschiedlichen Spezialisierungen der beiden Partner der Praxisgemeinschaft argumentiere, werde darauf hingewiesen, dass die Überweisungen zur Akupunktur und Chirotherapie als gerechtfertigt anerkannt worden seien. Darüber hinaus sei keine spezielle Ausrichtung der Praxen ersichtlich. Der Einwand der Abklärung von Verdachtsdiagnosen durch den spezialisierten Arzt überzeuge nicht. In über 80 Doppelbehandlungsfällen habe der Kläger die Abklärung von Akupunktur bei ihm bzw. von Chirotherapie bei Dr. G geltend gemacht, ohne dass sich die jeweilige Indikation bestätigt habe. Die Beklagte dürfe sich bei Überschreitung des Auffälligkeitskriteriums der Patientenidentität von 20 Prozent auf Stichproben beschränken. Auf die Problematik der Verdachtsdiagnosen komme es nicht an, wenn schon die Überweisung an einen Vertragsarzt der gleichen Facharztgruppe rechtlich nicht zulässig sei. § 24 Abs. 4 BMV-Ä zähle abschließend die Voraussetzungen auf, unter denen eine Überweisung an einen Vertragsarzt derselben Arztgruppe zulässig sei. Insbesondere die Voraussetzungen des § 24 Abs. 4 Nr. 1 BMV-Ä lägen nicht vor. Der Kläger und Dr. G seien beide als Fachärzte für Orthopädie und Unfallchirurgie zugelassen und verfügten grundsätzlich über ein identisches Leistungsspektrum. Ein Unterschied habe nur darin bestanden, dass der Kläger über eine Abrechnungsgenehmigung für Akupunktur und Dr. G über die Zusatzbezeichnung Manuelle Therapie/Chirotherapie verfügt habe. Die Frage nach der Vergütung bei einer nichtbestätigten Verdachtsdiagnose könne dahinstehen, da bereits die Überweisung zur Abklärung der Verdachtsdiagnose unzulässig gewesen sei. Nach § 24 Abs. 7 BMV-Ä solle der überweisende Vertragsarzt grundsätzlich die Diagnose, Verdachtsdiagnose oder Befunde mitteilen. Die bloße Abklärung einer Verdachtsdiagnose werde in § 24 Abs. 4 BMV-Ä nicht genannt. Entsprechende Angaben fehlten auf den ausgestellten Überweisungen im Übrigen gänzlich. Folgte man dem Kläger, könne eine wechselseitige Abklärung faktisch in jedem einzelnen Fall erfolgen, ohne dass dies beanstandet werden könne. Der Kläger habe auch grob fahrlässig gehandelt. Die Art und Weise der Neufestsetzung des Honorars sei ebenfalls nicht zu beanstanden. Zwar treffe es zu, dass feststehe, welche Leistungen unberechtigt erbracht worden seien. Nicht feststellbar sei jedoch, welcher von den gemeinsam behandelten Patienten in welcher Praxis zu Unrecht behandelt worden sei und in welcher Praxis Leistungen dafür zu Unrecht abgerechnet worden seien. Eine einzelfallbezogene Honorarschätzung könne daher nicht vorgenommen werden. 

 

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 30. November 2022 abgewiesen und dies wie folgt begründet: Die Beklagte sei berechtigt gewesen, die Honorarbescheide für die Quartale I/2011 bis III/2013 teilweise aufzuheben und Honorar in Höhe von insgesamt 87.054,31 Euro netto (88.779,42 Euro brutto) zurückzufordern. Rechtsgrundlage des Bescheides sei § 106a Abs. 2 Satz 1 SGB V in der bis zum 31. Dezember 2016 geltenden Fassung (aF). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts sei das Rechtsinstitut der sachlich-rechnerischen Richtigstellung auch bei einem Missbrauch vertragsarztrechtlicher Kooperationsformen anzuwenden (Verweis unter anderem auf BSG, Beschluss vom 7. September 2022, B 6 KA 37/21 B). Ein Missbrauch der Rechtsform liege vor allem vor, wenn rechtlich in Praxisgemeinschaft verbundene Ärzte die Patienten wie Mitglieder einer Gemeinschaftspraxis behandelten (Verweis unter anderem auf BSG, Beschluss vom 5. November 2008, B 6 KA 17/07 B). Für eine Gemeinschaftspraxis i.S.d. § 33 Abs. 2 Satz 1 Ärzte-ZV sei kennzeichnend, dass sich mehrere Ärzte des gleichen Fachgebietes oder ähnlicher Fachgebiete zur gemeinsamen und gemeinschaftlichen Ausübung des ärztlichen Berufs in einer Praxis zusammenschlössen, wobei – über die gemeinsame Nutzung der Praxiseinrichtungen sowie die gemeinsame Beschäftigung von Personal hinaus – die gemeinschaftliche Behandlung von Patienten und die gemeinschaftliche Karteiführung und Abrechnung in den Vordergrund träten. Einen Schwerpunkt bilde die Zusammenarbeit zur gemeinsamen Einnahmeerzielung. Diese Form der Zusammenarbeit bedürfe einer vorherigen Genehmigung durch den Zulassungsausschuss. Dagegen handele es sich bei der Praxisgemeinschaft um eine Organisationsform, die nicht der gemeinsamen, in der Regel jederzeit austauschbaren ärztlichen Behandlung an gemeinsamen Patienten diene. Mit ihr werde vielmehr die gemeinsame Nutzung von Praxisräumen und Praxiseinrichtungen sowie die gemeinsame Beschäftigung von Hilfspersonal durch mehrere Ärzte mit dem vorrangigen Zweck, bestimmte Kosten zur besseren Ausnutzung der persönlichen und sachlichen Mittel auf mehrere Ärzte umzulegen, angestrebt. Es verbleibe bei der selbständigen Praxisführung mit verschiedenem Patientenstamm und jeweils eigener Patientenkartei.

 

Die Partner einer Praxisgemeinschaft bedienten sich der Kooperationsform der Praxisgemeinschaft missbräuchlich, wenn ein hoher Anteil der Patienten der einen Praxis auch vom Arzt der anderen Praxis behandelt werde. Als Folge hiervon komme es zu künstlich produzierten Honorarzuwächsen. Zu der Frage, ab welcher Größenordnung ein in diesem Sinne auffälliger Anteil gemeinsam behandelter Patienten vorliege, habe das Bundessozialgericht zwar noch nicht abschließend Stellung genommen. Es werde aber durchgehend auf die Richtlinien der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und der Spitzenverbände der Krankenkassen verwiesen, nach denen bereits bei 20 Prozent Patientenidentität eine Abrechnungsauffälligkeit anzunehmen sei (Verweis auf BSG, Beschluss vom 11. Mai 2011, B 6 KA 1/11 B). Jedenfalls dann, wenn zwei kooperierende Vertragsärzte desselben Fachgebietes mehr als 50 Prozent der Patienten gemeinsam behandelten, liege eine die Gemeinschaftspraxis kennzeichnende gemeinschaftliche Ausübung der ärztlichen Tätigkeit mit der Behandlung eines gemeinsamen Patientenstammes vor. Es könnten aber auch deutlich unter 50 Prozent liegende Quoten für einen Formenmissbrauch ausreichend sein (Verweis auf BSG, Beschluss vom 2. Juli 2014, B 6 KA 2/14 B).

 

Hinsichtlich des Klägers sei das Aufgreifkriterium aus § 11 Abs. 2 Buchst. a) der Richtlinien der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und der Spitzenverbände der Krankenkassen zum Inhalt und zur Durchführung der Prüfungen nach § 106a Abs. 2 SGB V (Abrechnungsprüfungsrichtlinien – ARL, DÄ 2008, A-1925) von 20 Prozent Patientenidentität bei versorgungsbereichsidentischen Praxen erfüllt. Die Beklagte sei deshalb gemäß § 11 Abs. 1 Satz 2 ARL berechtigt gewesen, den Anschein des Missbrauchs der Kooperationsform durch Stichproben zu überprüfen. Der Kläger habe die streitigen Doppelbehandlungsfälle nicht in einer für eine abweichende rechtliche Einschätzung ausreichenden Weise erklären können. Es zeigten sich vielmehr Umstände in den geprüften Doppelbehandlungsfällen, die für die gemeinsame Patientenbehandlung kennzeichnend seien. So sei das routinemäßige Einlesen der Versichertenkarten bei beiden Ärzten ein Zeichen der nicht hinreichenden Trennung beider Praxen. In den stichprobenhaft überprüften Doppelbehandlungsfällen sei das Einlesen praktisch durchweg am selben Tag in beiden Praxen erfolgt. Der Verweis auf eine übliche Verwaltungspraxis trage hier nicht, da es Aufgabe der Ärzte einer Praxisgemeinschaft sei, dafür Sorge zu tragen, dass die Praxentrennung sowohl im Innen- wie im Außenverhältnis transparent gestaltet werde. Das Einlesen der Versichertenkarten beim ersten Besuch in beiden Praxen zeige eine gemeinschaftliche Koordinierung des Patientenaufkommens (Verweis auf das Urteil des Senats vom 25. März 2015, L 7 KA 5/12). 

 

Vertreterfälle würden die hohe Patientenidentität nicht erklären. Vertreter- oder Notfallscheine seien bis auf geringe Ausnahmen nicht angelegt worden. Es sei nach dem Vorbringen des Klägers in beiden Praxen eine Art kollegialer Vertretung auf Zuruf und nach den täglichen Notwendigkeiten praktiziert worden, wie sie nur in einer Gemeinschaftspraxis üblich sei. Die geltend gemachten Umstände, wie das kurzfristige Verlassen der Praxis zur Kinderbetreuung begründeten keinen Vertretungsfall im Rechtssinne.

 

Darüber hinaus begründeten die Überweisungen zwischen dem Kläger und Dr. G eine gemeinsame Patientenbehandlung im Sinne einer Gemeinschaftspraxis. Bei der nur ausnahmsweise zulässigen Überweisung an einen Vertragsarzt derselben Arztgruppe zur Inanspruchnahme besonderer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, die vom behandelnden Vertragsarzt gemäß § 24 Abs. 4 Nr. 1 BMV-Ä nicht erbracht werden könnten, handele es sich in der Regel um eine Auftragsleistung. Bei einer Auftragsleistung bestimme der überweisende Arzt eine oder mehrere Leistungen, die vom Empfänger durchgeführt werden sollen und an die der Empfänger gebunden sei. Dementsprechend habe das Bundessozialgericht klargestellt, dass eine Praxisgemeinschaft zwischen Vertragsärzten gleicher Fachrichtung mit jeweils spezifischem Leistungsspektrum zwar grundsätzlich zulässig sei, dies aber nur eingeschränkt eine Patientenidentität in erheblichem Umfang rechtfertige. Dabei habe es auf den Umstand verwiesen, dass ausschließlich Überweisungen zur Mit- und Weiterbehandlung, nicht aber mit einem Auftrag ausgestellt worden seien (Verweis auf BSG, Beschluss vom 6. Februar 2013, B 6 KA 43/12 B). Der Kläger habe nicht in einem einzigen der beanstandeten Doppelbehandlungsfälle eine Überweisung mit einem Auftrag oder zu einer Konsiliaruntersuchung getätigt. Die Überweisung zur Konsiliaruntersuchung erfolge aber gerade, wenn der überweisende Arzt bereits eine Verdachtsdiagnose gestellt habe und diese durch einen spezialisierten Arzt abklären lassen wolle. Ebenso wenig habe er (Verdachts-)Diagnosen bezeichnet. Die Überweisungen seien tatsächlich unbeschränkte Blankozuweisungen zur gemeinsamen Behandlung. § 24 Abs. 7 EBM-Ä verlange als Soll-Vorschrift jedoch regelhaft Angaben. Der Verzicht auf eine Dokumentation der Gründe für die Einbeziehung eines fachgruppengleichen Praxiskollegen sei gerade kennzeichnend für eine gemeinschaftliche Patientenbehandlung. Bei dieser Vorgehensweise sei dem Kläger auch verwehrt, nachträglich im Einzelfall anhand der Patientendokumentation darzulegen zu versuchen, dass tatsächlich die Voraussetzungen zur Überweisung an einen fachgruppengleichen Praxisgemeinschaftspartner im Sinne der Klärung einer Verdachtsdiagnose vorgelegen hätten. Es fehle bereits an der zur Klärung einer Verdachtsdiagnose typischen Überweisungsform.

 

Der Kläger habe auch grob fahrlässig gehandelt. Er habe die Anforderungen der vertragsärztlichen Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt, die das Führen einer Praxisgemeinschaft in Abgrenzung zu einer Gemeinschaftspraxis verlangten.

 

Auch hinsichtlich der Festsetzung des Erstattungsbetrages im Wege des Schätzungsermessens ergäben sich keine durchgreifenden Einwände. Der Schätzung müsse nicht zwingend ein Vergleich mit der hypothetischen Gemeinschaftspraxis zugrunde liegen (Verweis auf BSG, Beschluss vom 7. September 2022, B 6 KA 37/21 B). Das Bundessozialgericht habe darüber hinaus klargestellt, dass im Rahmen des Schätzungsermessens keine Überprüfung der einzelnen Behandlungsfälle auf deren medizinische Notwendigkeit gefordert werden könne. Die Vorgehensweise der Beklagten, das Honorar unter Berücksichtigung der Hälfte des zu beanstandenden Patientenanteils und des arztindividuellen Fallwerts zu kürzen, sei von der Rechtsprechung als eine vom weiten Schätzungsermessen gedeckte Methode anerkannt (Verweis auf das Urteil des Senats vom 9. Juni 2021, L 7 KA 13/19).

 

Gegen das ihm am 2. Januar 2023 zugestellte Urteil des Sozialgerichts hat der Kläger am 30. Januar 2023 Berufung eingelegt. Er hat zur Begründung der Berufung vorgetragen: Ein Gestaltungsmissbrauch liege nicht vor. Es sei nicht abschließend geklärt, ab welchem Umfang die gemeinsame Behandlung von Patienten auffällig sei. Das Bundessozialgericht habe in seinem Beschluss vom 11. Mai 2011, B 6 KA 1/11 B, ausgeführt, dass im Regelfall bei einer Patientenidentität von 30 Prozent ein Missbrauch der Rechtsform anzunehmen sei. Diese stelle aber nur einen Anfangsverdacht dar. Im vorliegenden Fall habe der Prozentsatz bei durchschnittlich unter 30 Prozent gelegen. Ein Wert von 50 Prozent sei nicht annähernd erreicht. Ein Prozentsatz von 20 Prozent nach der ARL stelle lediglich ein Auffälligkeitskriterium dar. Die streitigen Doppelbehandlungsfälle seien erklärbar. Das taggleiche Ablesen der Chipkarten sei eine in Praxisgemeinschaften vielfach geübte administrative Praxis. So sei nur dann verfahren worden, wenn am Tag der Behandlung bei einem der beiden Orthopäden gleichzeitig ein Anschlusstermin bei dem jeweils anderen vereinbart worden sei. Zudem hätten zulässige Vertretungen im Sinne des § 32 Ärzte-ZV stattgefunden. Dass diese nicht mehr belegt werden könnten, liege am Fehlen einer Dokumentationspflicht. Zudem seien niedergelassene Ärzte zur sog. kollegialen Vertretung verpflichtet. Es gehe um Fälle kurzfristiger Abwesenheit des zu vertretenden Arztes, in denen der Patient spontan einen anderen Arzt in räumlicher Nähe aufsuche. In diesen Fällen sei es nach ärztlichem Berufsrecht (§ 20 Abs. 1 der Berufsordnung für Ärzte) und § 72 Abs. 1 SGB V, § 28 Abs. 1 SGB V geboten, den Patienten des abwesenden Arztes zu behandeln. Es wäre praxisfern gewesen und hätte gegen Berufsrecht verstoßen, einen Patienten mit Termin beim kurzfristig verhinderten Kläger an einen anderen Orthopäden als Dr. G zu verweisen. Ein Vertragsarzt dürfe die Behandlung gemäß § 13 Abs. 7 BMV-Ä nicht ohne Weiteres ablehnen, sondern nur in begründeten Fällen wie einem gestörten Vertrauensverhältnis. Der Patient habe zudem das Recht auf freie Arztwahl. Auch verstoße es gegen Art. 3 GG, Ärzte in Praxisgemeinschaften im Verhältnis zu solchen in zwei Einzelpraxen strukturell zu benachteiligen, indem es ihnen verwehrt werde, sich wechselseitig zu vertreten.

 

Die Überweisungen seien entgegen der Rechtsauffassung des Sozialgerichts nicht unzulässigerweise erfolgt. Gemäß § 24 Abs. 4 Nr. 1 BMV-Ä sei eine Überweisung zulässig zur Inanspruchnahme besonderer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, die vom behandelnden Arzt nicht erbracht würden. Ergänzend sei in § 24 Abs. 7 Satz 1 BMV-Ä geregelt, dass der überweisende Arzt grundsätzlich die Diagnose, Verdachtsdiagnose oder Befunde mitteilen solle. Er sei gemäß § 24 Abs. 7 Satz 2 BMV-Ä verpflichtet, auf dem Überweisungsschein zu kennzeichnen, welche Art der Überweisung vorliege. Der Kläger sei seiner Verpflichtung, die Art der Überweisung anzugeben, immer nachgekommen, indem er „Mit- und Weiterbehandlung“ vermerkt habe. Eine Einschränkung der Überweisungsaufträge auf die Klärung einer Verdachtsdiagnose sei nicht angezeigt gewesen. Ebenso wenig könne die Abrechnung daran scheitern, dass die Soll-Vorschrift des § 27 Abs. 7 Satz 1 BMV-Ä nicht eingehalten worden sei. Die mit dieser Vorschrift bezweckte Koordinierung sei nicht erforderlich gewesen, weil bei einer Teilung der Räumlichkeiten ein enger persönlicher Austausch möglich sei.

 

Ein gewichtiges Indiz dafür, dass in der wechselseitigen Überweisung für die Spezialgebiete manuelle Therapie und Akkupunktur der tatsächliche und berechtigte Grund für die Patientenidentität gelegen habe, lasse sich daraus ableiten, dass die Praxisgemeinschaftspartner nach dem streitigen Prüfzeitraum jeweils auch die Abrechnungsgenehmigungen erworben hätten, die sie zuvor zur Überweisung verpflichtet hätten. Mit dem Erwerb der Abrechnungsgenehmigung sei der Anteil identischer Patienten drastisch zurückgegangen. 

 

Zudem sei es widersprüchlich, dass die Beklagte Fälle, in denen es nach einer Überweisung auch zu einer Behandlung gekommen sei, vergütet habe, nicht jedoch diejenigen Fälle, in denen sich die Verdachtsdiagnose nicht bestätigt habe. Die Formrichtigkeit der Fälle mit Behandlung sei nicht in Frage gestellt worden.

 

Grobe Fahrlässigkeit liege ebenfalls nicht vor. Ein planmäßiges Zusammenarbeiten des Klägers mit Dr. G, um auf Patienten einzuwirken, damit diese beide Ärzte konsultierten, sei nicht ersichtlich. Grobe Fahrlässigkeit könne vor allem deshalb nicht angenommen werden, da in der vorangegangenen Plausibilitätsprüfung hinsichtlich der Quartale II/2010 bis IV/2010 ebenfalls die auffällige Patientenidentität überprüft worden sei. Dabei sei sogar noch eine deutlich höhere Identität als in den streitgegenständlichen Quartalen festgestellt worden. In diesem Verfahren sei identisch Stellung genommen worden. Auf der Grundlage dieser Stellungnahme habe die Beklagte das Verfahren eingestellt. Sie habe dies im Schreiben vom 24. Mai 2013 damit begründet, dass keine Anhaltspunkte für eine rechtliche Fehlerhaftigkeit der ärztlichen Abrechnung hätten festgestellt werden können. Seit der Verfahrenseinstellung des vorangegangenen Verfahrens mit Schriftsatz der Beklagten vom 24. Mai 2013 seien der Kläger und sein Praxisgemeinschaftspartner von der Richtigkeit der Abrechnung ausgegangen.

 

Aus denselben Gründen sei eine Rückforderung dem Grunde nach rechtswidrig, da der Beklagte und sein Praxisgemeinschaftspartner durch das vorangegangene Prüfverfahren und die dort erfolgte Verfahrenseinstellung Vertrauensschutz genossen hätten. Nach der Rechtsprechung des BSG dürften sachlich-rechnerische Richtigstellungen aus Vertrauensschutzgründen nicht erfolgen, wenn die KÄV über einen längeren Zeitraum eine systematisch fachfremde oder ohne ausreichende fachliche Qualifikation ausgeübte Tätigkeit wissentlich geduldet und der Vertragsarzt im Vertrauen auf die weitere Vergütung solcher Leistungen weiterhin entsprechende Leistungen erbracht habe.

 

Schließlich bedeute ein Schätzungsermessen der Beklagten keinen Freibrief. Eine konkrete Berechnung des rückgeforderten Honorars sei möglich gewesen. Gegenstand der beanstandeten Leistungen sei jeweils die orthopädische Grundpauschale gewesen. Eine Anwendung des Ausnahmefalls der pauschalierenden Schätzung sei nicht angezeigt gewesen. 

 

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 30. November 2022 sowie den Bescheid der Beklagten vom 19. August 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Februar 2018 aufzuheben

 

sowie die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren für notwendig zu erklären.

 

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

 

Sie hält das Urteil des Sozialgerichts für zutreffend. Sie führt ergänzend aus: In welchen Fällen eine Vertretung zulässig sei, ergebe sich aus § 32 Abs. 1 Satz 2 Ärzte-ZV. Dort würden Krankheit, Urlaub oder die Teilnahme an einer ärztlichen Fortbildung oder Wehrübung als Gründe genannt. Eine kurzfristige Abwesenheit sei gerade kein zulässiger Vertretungsgrund. Ärzte einer Praxisgemeinschaft könnten sich nicht auf eine kollegiale Vertretung berufen. Praxisgemeinschaftspartner müssten auf die bestehende Kooperationsform der Praxisgemeinschaft hinweisen und sich auf die Behandlung von Notfällen beschränken. Es erschließe sich nicht, weshalb nicht das vorgeschriebene Formular gemäß Anlage 2 BMV-Ä Ziffer 1.1 i.V.m. Ziff. 2 19.1 verwendet worden sei. Auch liege grobe Fahrlässigkeit vor. Dass ein vorheriges Plausibilitätsverfahren eingestellt worden sei, könne für das vorliegende Verfahren keine Rolle spielen. Die Sachverhalte seien hinsichtlich der Quartale II/2010 bis IV/2010 bzw. I/2011 bis III/2013 nicht gleichgelagert. Im Prüfzeitraum II/2010 bis IV/2010 seien die Unterschiede in den Qualifikationen der beiden Praxisgemeinschaftspartner größer gewesen. Dr. G habe erst ab dem 18. August 2010 über die Abrechnungsgenehmigung für radiologische Leistungen, ab dem 22. November 2010 über die Abrechnungsgenehmigung für Sonographien und ab dem 2. November 2010 über die für Chirotherapie verfügt. Auf Vertrauensschutz könne sich der Kläger daher nicht berufen.

 

Mit Schriftsatz vom 11. September 2024 hat die Beklagte ergänzt, dass hinsichtlich des Quartals I/2013 nichts anderes gelte. In diesem Quartal sei das Auffälligkeitskriterium zwar nicht beim Kläger, aber bei Dr. G erfüllt. Dies genüge. Es sei nicht sachgerecht, wenn im Quartal I/2013 nur der Praxisgemeinschaftspartner eine Honorarrückforderung hinnehmen müsste, da der Vorwurf gerade in einem gemeinsamen missbräuchlichen Zusammenwirken liege.  

 

Im Parallelverfahren Dr. G gegen den ihn betreffenden Honorarrückforderungsbescheid wegen Formenmissbrauchs in den Quartalen I/2011 bis III/2013 hat der Senat ebenfalls am 18. September 2024 nach mündlicher Verhandlung durch Urteil entschieden (Az. L 7 KA 5/23). 

 

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten sowie auf die Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen. 

 

 

 

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung ist überwiegend unbegründet.

 

I. Die Berufung hat keinen Erfolg, soweit das Sozialgericht die Klage hinsichtlich der Quartale I/2011 bis IV/2012 und II/2013 bis III/2013 abgewiesen hat. Hinsichtlich dieser Quartale ist der Bescheid der Beklagten vom 19. August 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Februar 2018 rechtmäßig. Insoweit nimmt der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug auf die zutreffenden Gründe der erstinstanzlichen Entscheidung (§ 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz, SGG).

 

Der Senat bemerkt ergänzend:

 

Die im Zuge der Plausibilitätsprüfung für die Quartale I/2011 bis IV/2012 und II/2013 bis III/2013 erhobene, auf § 106a Abs. 2 Satz 1 SGB V aF beruhende Honorarrückforderung ist rechtlich nicht zu beanstanden. In diesen Quartalen wird ein Missbrauch der Kooperationsform Praxisgemeinschaft durch den hohen Anteil von über 20 Prozent gemeinsamer Patienten der versorgungsbereichsidentischen Praxen indiziert (vgl. § 11 Abs. 2 Buchst. a) der maßgeblichen ARL; BSG, Beschluss vom 5. November 2008, B 6 KA 17/07 B, zitiert nach juris, Rn. 12; BSG, Beschluss vom 11. Mai 2011, B 6 KA 1/11 B, zitiert nach juris, Rn. 11; Urteil des Senats vom 9. Juni 2021, L 7 KA 13/19, zitiert nach juris, Rn. 39). 

 

Der Senat kann offen lassen, ob die zwischen 21 und 33,02 Prozent liegenden Quoten gemeinsamer Patienten in den Quartalen I/2011 bis IV/2012 und II/2013 bis III/2013 eine Honorarrückforderung wegen Formenmissbrauchs bereits für sich genommen rechtfertigen. Denn es liegen darüber hinaus, wie bereits das Sozialgericht festgestellt hat, weitere Indizien vor, die die Annahme eines Formenmissbrauchs jedenfalls zusammen mit diesen Quoten ausreichend begründen.

 

Das Sozialgericht hat zutreffend ausgeführt, dass auch das regelmäßige Einlesen der Versichertenkarten bei beiden Ärzten am selben Tag gewichtig auf einen Formenmissbrauch hindeutet (vgl. auch LSG Bayern, Urteil vom 16. Mai 2007, L 12 KA 563/04, zitiert nach juris, Rn. 30) und der Kläger dieses Indiz – unter Berücksichtigung seiner Pflicht zur transparenten Realisierung der Rechtsform der Praxisgemeinschaft (vgl. BSG, Urteil vom Urteil vom 22. März 2006, B 6 KA 76/04 R, zitiert nach juris, Rn. 18) – nicht durch Verweis auf eine „übliche Verwaltungspraxis“ entkräften kann.

 

Soweit der Kläger zusätzlich ausgeführt hat, die Versichertenkarten seien nicht gleichzeitig, sondern nur am selben Tag eingelesen worden, wenn am Tag der Behandlung durch den einen Arzt (nach der Behandlung) ein Bedarf für eine Behandlung auch durch den anderen Arzt festgestellt worden sei, stellt dies ebenfalls keinen ausreichenden Erklärungsansatz dar. Die Versichertenkarten wurden nach den Feststellungen der Beklagten in 39 der 55 überprüften Fälle am selben Tag eingelesen. Dies entspricht einer Quote von etwa 71 Prozent. Es ist für den Senat nicht nachvollziehbar, weshalb in 71 Prozent der Fälle am Tag der Behandlung ein Bedarf für eine Behandlung durch den anderen Arzt festgestellt worden sein soll, obwohl es sich sowohl beim Kläger als auch bei Dr. G um Fachärzte für Orthopädie und Unfallchirurgie handelt und gemäß § 24 Abs. 3 Satz 2, Abs. 4 BMV-Ä Überweisungen an einen Vertragsarzt derselben Fachgruppe grundsätzlich ausgeschlossen sind. Ein solch hoher Prozentsatz lässt sich insbesondere nicht allein mit anderen Behandlungsschwerpunkten und Abrechnungsgenehmigungen der beiden Ärzte erklären.

 

Für einen Formenmissbrauch sprechen zudem, worauf das Sozialgericht ebenfalls zutreffend abgestellt hat, die Blankoüberweisungen zwischen dem Kläger und Dr. G. Es trifft zwar zur, dass der überweisende Vertragsarzt nach § 24 Abs. 7 Satz 1 BMV-Ä die Diagnose, Verdachtsdiagnose oder Befunde bei der Überweisung nur „grundsätzlich“ mitteilen „soll“. Dies ändert aber nichts daran, dass sich der Kläger die insoweit fehlenden Angaben in der vorliegenden Situation, in der es um Überweisungen an einen fachgleichen Arzt geht und er verpflichtet ist, die von ihm geltend gemachte Rechtsform der (bloßen) Praxisgemeinschaft transparent zu realisieren (siehe oben), entgegenhalten lassen muss. Ohne diese Angaben ist es nicht möglich, zu überprüfen, ob für die Überweisungen ein ausreichender medizinischer Grund vorlag und besteht der deutliche Anschein unzulässiger gemeinschaftlicher Behandlung. Dies gilt umso mehr, als der Kläger selbst ausführt, dass die Soll-Vorschrift des § 27 Abs. 7 Satz 1 BMV-Ä deswegen nicht habe eingehalten werden müssen, weil ein enger persönlicher Austausch (über die bei den Patienten vorliegenden Diagnosen) möglich gewesen sei. Dieser Einwand verstärkt nach Auffassung des Senats gerade den starken Anschein einer Praxis, die nicht nur auf eine gemeinsame Nutzung von Praxisräumen und -einrichtungen (Praxisgemeinschaft), sondern auf die gemeinschaftliche Behandlung von Patienten (Gemeinschaftspraxis) angelegt war.

 

Zudem ist zu berücksichtigen, dass der Kläger den hohen Anteil identischer Patienten wesentlich damit begründet, dass er Patienten, bei denen möglicherweise Chirotherapie erforderlich gewesen sei, mangels eigener Abrechnungsgenehmigung für diese Therapie an Dr. G überwiesen habe, während umgekehrt Dr. G Patienten, bei denen möglicherweise eine Akupunktur nötig gewesen sei, mangels entsprechender Abrechnungsgenehmigung an ihn überwiesen habe. Diese Erklärung lässt sich nicht zuverlässig nachvollziehen, da die (Blanko-)Überweisungen dafür selbst nichts hergeben und eine Chirotherapie oder Akupunkturbehandlung in den Fällen, die in die Berechnung der Rückforderung eingegangen sind, gerade nicht stattgefunden hat. Dass der Anteil identischer Patienten nach den Angaben des Klägers drastisch zurückgegangen sei, nachdem er eine Abrechnungsgenehmigung für manuelle Therapie und Dr. G eine Abrechnungsgenehmigung für Akupunktur erworben hätten, belegt den Erklärungsansatz des Klägers nicht zuverlässig.

 

Ebenso wenig lässt sich die für eine Praxisgemeinschaft untypisch hohe Quote gemeinsamer Patienten mit Vertretungsfällen erklären. Auch insoweit wird auf die Ausführungen des Sozialgerichts verwiesen. Der Kläger hat im Berufungsverfahren selbst ausgeführt, dass zulässige Vertretungen im Sinne des § 32 Ärzte-ZV nicht mehr belegt werden könnten. Die vom Kläger geltend gemachte kollegiale Vertretung – auf Zuruf und nach den täglichen Notwendigkeiten – ist gerade in Gemeinschaftspraxen üblich und entlastet den Kläger nicht (vgl. zum Ganzen Urteil des Senats vom 9. Juni 2021, L 7 KA 13/19, zitiert nach juris, Rn. 42). Aus § 20 Abs. 1 der Berufsordnung für Ärzte, § 72 Abs. 1 SGB V, § 28 Abs. 1 SGB V und § 13 Abs. 7 BMV-Ä folgt nichts anderes. Auch ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz ist nicht ersichtlich. Soweit der Kläger angibt, dass es praxisfern gewesen wäre, einen Patienten bei kurzfristiger Verhinderung eines Arztes wegzuschicken, lässt dies vielmehr wiederum darauf schließen, dass die Praxis tatsächlich unter Verletzung der Pflicht zur transparenten Realisierung der von ihm gewählten Rechtsform wie eine Gemeinschaftspraxis geführt wurde.

 

Aus dem Vorbringen des Klägers zu den stichprobenhaft überprüften Einzelfällen folgt nichts anderes. Daraus ergibt sich vielmehr ein hoher Anteil an Fällen, in denen der (angebliche) Überweisungsgrund (die medizinische Verdachtsdiagnose und der jeweils für möglich erachtete Bedarf an Akupunktur bzw. Chirotherapie) ins Leere gelaufen ist (und andere Behandlungen stattgefunden haben, die jedenfalls teilweise genauso gut vom Praxispartner hätten durchgeführt werden können).

 

Der angefochtene Bescheid ist hinsichtlich der Quartale I/2011 bis IV/2012 und II/2013 bis III/2013 auch sonst rechtmäßig. Ein Verschulden des Klägers ist nicht Voraussetzung der sachlich-rechnerischen Richtigstellung (vgl. für den Fall des Formenmissbrauchs BSG, Urteil vom 22. März 2006, B 6 KA 76/04 R, zitiert nach juris, Rn. 28; LSG Hessen, Urteil vom 30. November 2016, L 4 KA 22/14, zitiert nach juris, Rn. 54; Urteil des Senats vom 9. Juni 2021, L 7 KA 13/19, zitiert nach juris, Rn. 35).

 

Im Übrigen hat der Kläger aber auch – wie bereits das Sozialgericht festgestellt hat – grob fahrlässig gehandelt, also die erforderliche Sorgfalt eines Vertragsarztes in besonders schwerem Maße verletzt. Durch die Art und Weise der Praxisführung – insbesondere mit einer das Aufgreifkriterium teils erheblich überschreitenden Patientenidentität, Vertretungen auf Zuruf, dem häufigen zusätzlichen Einlesen der Versichertenkarten beim Praxispartner am selben Tag und Blankoüberweisungen an den fachgleichen Kollegen – war die Grenze einer Kooperation in bloßer Praxisgemeinschaft offenkundig und nach jeder denkbaren Betrachtung überschritten. Die Mitteilung der Beklagten vom 24. Mai 2013 über die Einstellung des Plausibilitätsverfahrens hinsichtlich der Quartale II/2010 bis IV/2010 ändert daran nichts. Denn die Einstellung des Verfahrens beruhte auf der Stellungnahme Dr. G vom 2. März 2013 und damit auf einem anderen Sachverhalt. Dieser unterscheidet sich – entgegen der Darstellung des Klägers – insofern wesentlich von dem vorliegenden, als Dr. G die hohe Patientenidentität in den Quartalen II/2010 bis IV/2010 insbesondere auch damit erklärt hat, dass ihm noch die Abrechnungsgenehmigungen für Leistungen der Röntgendiagnostik und Sonographie gefehlt hätten. Aus diesem Grund kann das Schreiben der Beklagten vom 24. Mai 2013 auch keinen Vertrauensschutz bewirkt haben.

 

Schließlich ist der Rückforderungsbetrag auch der Höhe nach nicht zu beanstanden. Die Beklagte durfte das verbleibende Honorar auf der Grundlage eines weiten Schätzungsermessens ermitteln und der Rückforderung dabei die Hälfte der Doppelbehandlungsfälle zugrunde legen (vgl. bereits Urteil des Senats vom 9. Juni 2021, L 7 KA 13/19, zitiert nach juris; vgl. zur Schätzungsbefugnis auch BSG, Beschluss vom 17. Februar 2016, B 6 KA 50/15 B, zitiert nach juris, Rn. 6 f.). Diese Vorgehensweise begegnet jedenfalls deshalb keinen durchgreifenden Bedenken, weil die Beklagte von den Doppelbehandlungsfällen (vor ihrer hälftigen Teilung) im Wege eines Abschlags diejenigen Fälle abgezogen hat, in denen tatsächlich eine Akupunktur bzw. Chirotherapie stattgefunden hat und die jeweils fehlende Abrechnungsgenehmigung für diese Behandlungen als Grund für die Überweisung und Doppelbehandlung daher grundsätzlich plausibel erscheint. Einen Widerspruch kann der Senat in dieser Vorgehensweise nicht erkennen. 

 

II. Die Berufung hat dagegen Erfolg, soweit das Sozialgericht die Klage hinsichtlich des Quartals I/2013 abgewiesen hat. Hinsichtlich dieses Quartals ist der Bescheid der Beklagten vom 19. August 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Februar 2018 rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.

 

1. Der Bescheid ist insoweit bereits formell rechtswidrig und daher aufzuheben. Fraglich ist schon, ob das Plausibilitätsverfahren nach § 11 ARL hinsichtlich dieses Quartals ordnungsgemäß eingeleitet und durchgeführt wurde. Denn ausweislich des Protokolls über die Sitzung des Plausibilitätsausschusses am 10. August 2015 (siehe Seite 1) bezog sich die Prüfung auf die auffällig hohe Patientenidentität in den Quartalen I/2011 bis IV/2012 und II/2013 bis III/2013. Jedenfalls wurde der Kläger nicht gemäß § 24 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – SGB X – in ausreichendem Maße zu den (aus Sicht der Beklagten) entscheidungserheblichen Tatsachen für die Honorarberichtigung im Quartal I/2013 angehört. Die Beklagte hat erst mit Schriftsatz vom 11. September 2024 deutlich gemacht, dass sie die Berichtigung insbesondere im Hinblick darauf für rechtmäßig hält, dass das Aufgreifkriterium im Quartal I/2013 hinsichtlich der kleineren Praxis des Praxispartners erfüllt sei. Eine ausreichende Anhörung dazu erfolgte nicht. Die Anhörung wurde auch nicht etwa durch den Schriftsatz vom 11. September 2024 mit einer den Anhörungsmangel heilenden Wirkung nachgeholt (zu den Voraussetzungen der Heilung von Anhörungsmängeln vgl. Sandbiller, in: BeckOGK, SGB X, Stand 15. August 2023, § 41, Rn. 35).

 

2. Darüber hinaus wäre der Bescheid vom 19. August 2015 hinsichtlich des Quartals I/2013 auch materiell rechtswidrig:

 

Im Quartal I/2013 ist das Aufgreifkriterium von über 20 Prozent gemeinsamer Patienten der versorgungsbereichsidentischen Praxen (§ 11 Abs. 2 Buchst. a) der maßgeblichen ARL) nicht erfüllt. Der Wert beim Kläger liegt lediglich bei 19,93 Prozent. Auf die (20 Prozent überschreitende) Quote beim Praxispartner ist in diesem Zusammenhang nicht abzustellen. Zum einen sind nach § 11 Abs. 2 ARL die „abrechnenden“ Praxen maßgeblich. Dies spricht dafür, dass die Quote der jeweiligen Praxis entscheidend sein soll. Zum anderen ist es auch sachgerecht, auf die jeweilige Praxis abzustellen, weil der Vertragsarzt regelmäßig nur die eigenen Fallzahlen kennt und damit den Überblick behalten kann, wann er das Aufgreifkriterium überschreitet (vgl. SG Berlin, Urteil vom 25. September 2019, S 83 KA 23/18, zitiert nach juris, Rn. 27).

 

Die Prüfung müsste sich daher – anders als hinsichtlich der Quartale I/2011 bis IV/2012 und II/2013 bis III/2013 – nicht nach § 11 ARL, sondern nach § 20 ARL (anlassbezogene Prüfung) richten. Bei der anlassbezogenen Prüfung nach § 20 ARL sind bloße Stichprobenprüfungen nicht möglich. Dieses Erfordernis beruht auf dem Umstand, dass die Beweislast für eine Falschabrechnung bei der anlassbezogenen Prüfung hinsichtlich jedes einzelnen Falles bei der Beklagten liegt. Liegt der Anteil der gemeinsamen Patienten unter dem Aufgreifkriterium, kann allein aus der Anzahl der gemeinsamen Patienten nicht auf die Missbräuchlichkeit der Kooperationsform geschlossen werden. Vielmehr muss die Beklagte für jeden Fall eine nicht gerechtfertigte Behandlung durch beide Ärzte nachweisen (vgl. zum Ganzen Urteil des Senats vom 9. Juni 2021, L 7 KA 13/19, zitiert nach juris, Rn. 39).

 

Ausgehend davon ist der angefochtene Bescheid hinsichtlich des Quartals I/2013 rechtswidrig, weil das Aufgreifkriterium nicht erfüllt ist und die Beklagte dennoch aus dem Ergebnis ihrer Stichprobenprüfung auf einen Formenmissbrauch geschlossen hat. Der angefochtene Bescheide ist hinsichtlich des Quartals I/2013 auch nicht etwa teilweise, hinsichtlich der überprüften fünf Einzelfälle dieses Quartals, rechtmäßig. Hinsichtlich dieser beschränkten Fallanzahl ist jedenfalls auf Rechtsfolgenseite die auf die Gesamtzahl der ungerechtfertigten Doppelbehandlungsfälle bezogene Ausübung des Schätzungsermessens fehlerhaft.

 

III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. § 154 Abs. 2 VwGO. Da die Beklagte nur zu einem geringen Teil unterlegen ist, sind die Kosten vollständig vom Kläger zu tragen (§ 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO).

 

IV. Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich, § 160 Abs. 2 SGG.   

Rechtskraft
Aus
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