L 11 VE 4/23

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
11.
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 178 VG 57/16
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 11 VE 4/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
  1. Medizinische Fragen, insbesondere zur Verursachung von Gesundheitsstörungen, sind auf der Grundlage des im Entscheidungszeitpunkt neuesten medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstands zu beantworten (vgl. BSG, Beschluss vom 26. April 2022 - B 9 V 39/21 B – juris).
  2. Die geltenden Diagnosesysteme für die posttraumatische Belastungsstörung sind ICD-10 und DSM-V (vgl. BSG, Beschluss vom 14. Dezember 2022 – B 2 U 1/22 B – juris).
  3. Das DSM ist ein auf psychische Störungen begrenztes Klassifikationssystem, welches im Vergleich zum ICD stärker operationalisiert ist. Dieses kann alternativ oder ergänzend zum ICD herangezogen werden und stellt den repräsentativen aktuellen medizinischen Erkenntnisstand im Bereich der Psychiatrie dar (vgl. BSG, Urteil vom 28. Juni 2022 - B 2 U 9/20 R – juris).

 

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 13. Dezember 2022 wird zurückgewiesen.

 

Der Beklagte hat der Klägerin deren außergerichtliche Kosten für den gesamten Rechtsstreit zu einem Drittel zu erstatten.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

 

 

Tatbestand

 

Die Klägerin begehrt die Anerkennung einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) und Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) nach einem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 30.

 

Die 1959 geborene Klägerin wurde am 14. Februar 1982 Opfer einer Gewalttat. Sie wollte von einem Besuch aus B kommend per Anhalter an ihren Studienort H zurückkehren.  G (G) nahm die Klägerin in seinem PKW mit, fuhr auf einen Waldweg, würgte und schlug die Klägerin, vergewaltigte sie anschließend und ließ sie an den Händen gefesselt und mit verbundenen Augen kaum bekleidet im Wald zurück. Der Klägerin gelang es, gegen Abend eine Ortschaft zu erreichen, um Hilfe zu erlangen. G wurde vom Landgericht M durch Urteil vom 28. September 1982 wegen Vergewaltigung und versuchten Totschlags an der Klägerin und weiteren Straftaten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 12 Jahren verurteilt.

 

Die Klägerin schloss im Mai 1982 erfolgreich ihre Ausbildung zur staatlich geprüften Übersetzerin für Englisch und Spanisch ab, verzog nach B und arbeitete als Bürokraft/Lagerbuchhalterin, ehe sie 1987 ein Studium der Psychologie aufnahm, das sie 1995 erfolgreich abschloss. Von November 1989 an befand sich die Klägerin für dreieinhalb Jahre (155 Sitzungen) in psychotherapeutischer Behandlung bei der Diplom-Psychologin Dr. N. Bereits seit 1991 arbeitete die Klägerin als Familienhelferin bei einem Träger der freien Jugend- und Eingliederungshilfe und zwischen 1994 und 2001 als Honorarkraft sowie ab 2011 auch hauptamtlich bei einem Beratungszentrum für Essstörungen. 1996 bis 2000 absolvierte die Klägerin eine Weiterbildung in klientenzentrierter Gesprächsführung bei der Gesellschaft für Wissenschaftliche Gesprächstherapie, in deren Rahmen sie eine Lehrtherapie bei Dipl. Med. S wahrnahm. 2004 erlitt die Klägerin eine Lungenembolie, eine Blutgerinnungsstörung wurde festgestellt. Von 2005 bis 2008 befand sie sich in psychotherapeutischer Behandlung bei dem Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Dr. S. 2014 wurde bei der Klägerin Diabetes festgestellt.

 

Vom 3. November 2014 bis 13. Februar 2015 wurde die Klägerin in der Tagesklinik der P Klinik  – Private Fachklinik für Psychotherapeutische Medizin – behandelt. In der Epikrise hierzu wurden eine PTBS, eine andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung, eine rezidivierende depressive Störung, ein psychovegetatives Erschöpfungssyndrom und eine Dysthymia als Diagnosen sowie als somatische Ko-Morbidität eine Adipositas bei Binge-Eating-Disorder mitgeteilt.

 

Am 17. Dezember 2014 beantragte die Klägerin bei dem damals zuständigen Land H Leistungen nach dem OEG wegen der Gewalttat vom 14. Februar 1982. Das Land H ermittelte medizinisch und holte insbesondere ein psychiatrisches Kausalitätsgutachten der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. H vom 30. Juli 2015 ein, das diese nach ambulanter Untersuchung der Klägerin am 28. Juli 2015 erstellte und in dem sie zu der Einschätzung gelangte, die bei der Klägerin vorliegende rezidivierende Depression sei nicht kausal auf das schädigende Ereignis zurückzuführen. Das Vermeidungsverhalten (nicht Taxifahren mit männlichen Taxifahrern) und die Erinnerung an das schädigende Ereignis durch Scheibenwischer seien so gering und wenig alltagsbeeinträchtigend, dass dafür kein GdS vergeben werden könne. Schwerbehindertenrechtlich sei die rezidivierende Depression mit einem Grad der Behinderung von 20 zu bewerten. Eine PTBS und eine Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung lägen nicht vor.

 

Mit Bescheid vom 23. September 2015 lehnte das Land H dem Gutachten von Dr. H folgend einen Anspruch auf Versorgung nach § 1 OEG ab. Die Klägerin legte hiergegen Widerspruch ein und einen psychotherapeutischen Befundbericht von Dr. N vom 1. Februar 2016 vor. Hierzu holte das Land H bei der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. B eine Stellungnahme vom 23. März 2016 ein, die im Wesentlichen erklärte, dem nachvollziehbaren Gutachten von Dr. H sei zu folgen. Das Land H wies daraufhin den Widerspruch der Klägerin durch Widerspruchsbescheid vom 5. April 2016 zurück.

 

Hiergegen hat die Klägerin am 8. Mai 2016 Klage erhoben.

 

Das Sozialgericht hat Befundberichte eingeholt bei der Frauenärztin J, bei der Internistin und Pneumologin Dr. M, bei der psychologischen Psychotherapeutin E, bei dem Psychiater Dr. H, bei der Psychologin Dr. N, bei der Chirurgin Dr. H und bei der Internistin und Diabetologin K. Das Land H hat hierzu eine Stellungnahme der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. B vom 7. September 2017 zu den Gerichtsakten gereicht, die erklärt hat, aus den nun vorliegenden medizinischen Unterlagen ergebe sich keine Änderung der bisherigen Beurteilung.

 

Das Sozialgericht hat die Ärztin für Psychiatrie G mit der Erstattung eines Sachverständigengutachtens beauftragt. Diese hat nach zwei Untersuchungsterminen dem Sozialgericht mitgeteilt, es fehlten noch Unterlagen zur Psychotherapie bei Dr. S zwischen 2005 und 2009 sowie zur Lehrtherapie bei Dipl. Med. S. Das Sozialgericht hat die entsprechenden Unterlagen bei Dr. S beigezogen, eine Beiziehung von Unterlagen zur Lehrtherapie hat sich als nicht möglich erwiesen, da diese nicht mehr vorliegen.

 

Nachdem die Sachverständige G langfristig arbeitsunfähig erkrankt gewesen ist, hat sie das Gutachten nach ambulanten Untersuchungen der Klägerin am 9. April 2018 und am 3. Mai 2018 am 24. Oktober 2019 erstellt. In diesem Gutachten ist die Sachverständige zu der Einschätzung gelangt, es sei wahrscheinlich, dass nach der Gewalttat am 14. Februar 1982 zumindest die Teilsymptomatik einer PTBS bestanden habe. Hierbei handele es sich auch um die Schädigungsfolge, insoweit handele es sich um ein Syndrom mit Intrusionen und Einschränkungen in der Affektregulation. Die Schädigungsfolge sei mit einem GdS von 30 zu bewerten. Als heute noch vorliegend seien Beschwerden im Sinne der Teilsymptomatik einer PTBS beklagt worden. Die diagnostischen Kriterien für das Vorliegen einer PTBS seien damit nicht ausreichend erfüllt. Außerdem leide die Klägerin an einer rezidivierenden depressiven Störung, die zum Zeitpunkt der gutachterlichen Untersuchung remittiert gewesen sei. Die Sachverständige hat zur PTBS das Klassifikationssystem DSM-V angewendet. Sie ist dabei zu der Einschätzung gelangt, weder das C-, noch das E-Kriterium lägen vor.

 

Das Land H hat zu dem Gutachten eine Stellungnahme der Ärztin für Neurologie, Psychiatrie und Sozialmedizin Dr. B vom 13. Januar 2020 zu den Gerichtsakten gereicht. Diese hat erklärt, den Schlussfolgerungen der Sachverständigen G sei nicht ohne weiteres zu folgen, da insbesondere keine Brückensymptome zwischen 1982 und 2015 vorlägen. Hierzu hat das Sozialgericht eine ergänzende gutachterliche Stellungnahme von der Sachverständigen vom 25. Februar 2020 eingeholt, die erklärt hat, an ihrer Einschätzung festzuhalten.

 

Während des Klageverfahrens ist das Land H aus dem Rechtsstreit entlassen und der jetzige Beklagte zuständigkeitshalber ins Rubrum aufgenommen worden.

 

Das Sozialgericht hat die auf Verurteilung des Beklagten gerichtete Klage, der Klägerin wegen ihrer seelischen Störungen (wie psychogener Adipositas, psychogener Amenorrhoe, Angst und Depression gemischt mit ausgeprägter Selbstwertstörung und Körperbildstörung, situationsspezifisch Angstanflutungen vor dem Hintergrund einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung) aufgrund der am 14. Februar 1982 erlittenen Gewalttat Leistungen nach einem GdS von mindestens 30 zu gewähren, durch Urteil vom 13. Dezember 2022 abgewiesen. Zwar handele es sich bei dem von der Klägerin am 14. Februar 1982 durchlebten Ereignis um einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG. Auch bestünden bei der Klägerin Gesundheitsstörungen im psychischen Bereich. Die Kammer habe sich aber nicht davon überzeugen können, dass die bei der Klägerin bestehenden Gesundheitsstörungen maßgeblich Folge des schädigenden Ereignisses seien. So habe die Sachverständige zwar eine Teilsymptomatik der PTBS auf die Gewalttat vom 14. Februar 1982 zurückgeführt, andererseits aber auch ausgeführt, dass sie die Frage danach, welche Gesundheitsstörungen durch die Gewalttat nachweislich oder zumindest wahrscheinlich verursacht oder wesentlich verschlimmert worden seien, nicht mit der gebotenen Sicherheit beantworten können, da die Anamneseerhebung durch den Zeitfaktor beeinträchtigt und die Aktenlage dazu dürftig sei. Die Klägerin sei, was sich aus dem Gutachten und weiteren aktenkundigen medizinischen Dokumenten ergebe, in ihrer Kindheit von ihrem Vater anhaltend und über Jahre sexuell missbraucht worden und in einem kaum zugewandten, nicht fürsorglichen Elternhaus aufgewachsen. Sie habe sich zeitnah nach dem Gewaltereignis dem Täter und der strafgerichtlichen Verhandlung stellen und als Zeugin aussagen können. Eine psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung im Anschluss an die Gewalttat und in den unmittelbaren Folgejahren habe nicht stattgefunden. Bald nach dem Gewaltereignis habe die Klägerin ihre Ausbildung abgeschlossen, ihren Lebensmittelpunkt nach B verlegt und ein später erfolgreich abgeschlossenes Psychologie-Studium aufgenommen. Die Klägerin habe in – auch langjährigen – Beziehungen gelebt und sei bereits seit dem Studium und seither berufstätig. Soweit sich die Klägerin 1989 in psychotherapeutische Behandlung begeben habe, habe sich nach den Feststellungen der Sachverständigen kein ausreichender kausaler Zusammenhang zur Gewalttat erkennen lassen. Die behandelnde Therapeutin Dr. N habe in einem Befundbericht ausgeführt, Gegenstand und Fokus der damaligen Behandlung sei die Bearbeitung aktueller Beziehungskonflikte und eine Annäherung an die pathologisierende Familienkonstellation und die kindlichen Missbrauchserfahrungen gewesen. Als damaliges Beschwerdebild habe die Therapeutin ein hohes Körpergewicht, Arbeitsstörungen und Prüfungsängste, eine depressive Grundstimmung, Selbsthassgefühle, Amenorrhoe und Angstanflutungen in spezifischen Situationen (abends außerhalb der Wohnung, fremde Autos, unbekannte Männer) mitgeteilt. Die bei Dr. S ab 2005 aufgenommene psychotherapeutische Behandlung habe im zeitlichen Zusammenhang mit der Trennung und anschließenden Scheidung der Klägerin von ihrem ersten Ehemann und mit depressiven Schüben nach einer Lungenembolie sowie einer diagnostizierten Schlafapnoe 2004 sowie einer Beinvenenthrombose 2005 gestanden. Die den Berichten von Dr. S zu entnehmenden Schilderungen bezögen sich vorrangig auf die mit der aktuellen partnerschaftlichen Situation verbundenen Konflikte und das psychische Erleben dieser durch die Klägerin. Thematisiert worden sei in diesem Zusammenhang auch das Kindheitserleben mit Vernachlässigung, pathologischer Vaterbeziehung sowie dem Verhalten der Mutter, daneben die als mit Todesangst durch die Klägerin wahrgenommenen Krankheitsereignisse der Jahre 2004 und 2005. Das Gewaltereignis vom 14. Februar 1982 werde in einem Bericht vom 19. Mai 2006 einmalig erwähnt, jedoch nicht thematisiert. Nach den aktenkundigen medizinischen Unterlagen sei nach einem psychischen Zusammenbruch Mitte 2014 nach Erhalt der Diabetes-Diagnose auch das Gewaltereignis vom 14. Februar 1982 im Rahmen der tagesklinischen Behandlung in der Pklinik und der danach ab April 2015 bei der Diplom-Psychologin E aufgenommenen Psychotherapie mit in den therapeutischen Fokus gerückt. Die Sachverständige habe ihre Schlussfolgerung, wonach sie die Teilsymptomatik der PTBS auf das Gewaltereignis vom 14. Februar 1982 zurückführe, damit begründet, dass der von der Klägerin seit frühester Kindheit erlernte Prozess der Dissoziation/Verdrängung dazu geführt habe, dass die Klägerin nach der Gewalttat ihr Leben habe scheinbar unbeeinträchtigt weiterführen können. Sie sehe bei der Klägerin eine persönlichkeitsbildende wiederholte Traumatisierung im Kindesalter und seit früher Kindheit angeeignete Mechanismen und einen erlernten Prozess der Dissoziation und Verdrängung, was es der Klägerin ermöglicht habe, sich vom Elternhaus zu lösen, ein selbstständiges Leben zu führen, bis zur Gewalttat zupackend, selbstständig und lebensfroh gewesen zu sein sowie auch nach der Gewalttat mithilfe von Verdrängung ein nach außen hin intaktes Funktionsniveau aufrechtzuerhalten. Das Gericht könne dem von der Sachverständigen festgestellten Ursachenzusammenhang nicht mit der notwendigen Überzeugung folgen. Es verblieben aufgrund des für viele Jahre nach der Gewalttat von der Klägerin ohne entsprechende fachärztliche Behandlung – jedenfalls nach außen stabil - geführten Lebens mit Abschluss der Ausbildung, Aufbau eines eigenständigen Lebens mit Mittelpunkt in B, Aufnahme und Abschluss des Studiums und Berufstätigkeit sowie dem Eingehen langjähriger Beziehungen und auch Heirat Zweifel, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang nun die Gewalttat oder aber das persönlichkeitsprägende Kindheitserleben letztlich das komplexe psychische Beschwerdebild bei der Klägerin allein- oder mitverursacht habe. Darüber hinaus habe es im Leben der Klägerin immer wieder Brüche in Gestalt der konfliktbehafteten partnerschaftlichen Konstellationen und dem Krankheitserleben gegeben, in deren zeitlichem Zusammenhang die Klägerin psychotherapeutische Behandlung in Anspruch genommen habe. Die Kriterien der PTBS, die einen konkreten Bezug zu dem traumatisierenden Ereignis nahelegen könnten (C-Kriterium: Anhaltende Vermeidung von mit dem dramatisierenden Ereignis verbundenen Reizen sowie E-Kriterium: Deutliche Veränderungen des Erregungsniveaus und der Reaktivität im Zusammenhang mit dem traumatischen Ereignis) lägen bei der Klägerin nach den Feststellungen der Sachverständigen nicht vor. Vor dem Hintergrund des komplexen psychischen Beschwerdebildes und des ebenfalls traumatisierenden Kindheitserlebens der Klägerin habe das Gericht sich nicht von überwiegend ursächlich auf das Gewaltereignis zurückzuführenden und vom gesamten psychischen Beschwerdebild hinreichend abgrenzbaren psychischen Gesundheitsstörungen im Sinne und Ausmaß von Schädigungsfolgen nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG überzeugen können.

 

Gegen das ihr am 19. Januar 2023 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 20. Februar 2023 Berufung eingelegt. Sie rügt insbesondere, dass das Sozialgericht sich über die Einschätzung der Sachverständigen hinweggesetzt habe, ohne dass entsprechende medizinische Fachkenntnisse der Mitglieder der Kammer dokumentiert seien.

 

Der Senat hat auf Antrag der Klägerin nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ein psychiatrisches Kausalitätsgutachten bei dem Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Sexualmedizin, Prof. Dr. S vom 27. Januar 2024 eingeholt, das dieser nach ambulanten Untersuchungen am 12. November und am 9. Dezember 2023 erstellt hat und in dem er zu der Einschätzung gelangt ist, bei der Klägerin bestünden eine PTBS und eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradig. Der Sachverständige hat erklärt, die PTBS ergebe sich entsprechend den Kriterien nach ICD-10. Das A-Kriterium sei eindeutig als erfüllt anzusehen, da die Klägerin zum Zeitpunkt der Vergewaltigung wie auch während ihres Weges durch den Wald nach eigenen Angaben Todesangst verspürt habe. Zudem habe sie sich aufgrund der zunehmenden Gewaltbereitschaft des Täters und aufgrund der winterlichen Temperaturen nach der Vergewaltigung auch real in Todesgefahr befunden. Auch das B-Kriterium liege vor. Die Klägerin habe affektive Intrusionen und sich aufdrängende Erinnerungen geschildert. Dabei habe sie mit der Tat in Verbindung stehende Albträume sowie deutlich aversive Gefühle in Situationen geschildert, die der erlebten ähneln würden. Auch das Vermeidungsverhalten im Sinne des C-Kriteriums liege vor, weil die Klägerin keine Taxifahrten unternehme und keine Filme oder andere Medien mit Gewaltdarstellungen ansehe. Hinsichtlich des D-Kriteriums gebe es Hinweise auf Erinnerungslücken, da der genaue Ablauf der Vergewaltigung nicht sicher habe geschildert werden können, außerdem habe die Klägerin von innerer Anspannung, Reizbarkeit und (vor medikamentöser Einstellung) Ein- und Durchschlafstörungen berichtet. Auch das E-Kriterium sei erfüllt. Zwar sei es zur Ausbildung des vollen Erscheinungsbildes der PTBS erst nach rund fünf Jahren nach dem schädigenden Ereignis gekommen, was für einen verzögert auftretenden Verlauf spreche. Andererseits hätten sich in der Zwischenzeit durchaus Brückensymptome wie verstärkte Kontaktabbrüche, Rückzug aus nahen Beziehungen mit teilweise aggressiv-schädigendem Verhalten der Klägerin gegenüber Menschen, die um das schädigende Ereignis und ihre psychische Verfassung danach gewusst hätten, Gewichtszunahme von 30-40 kg innerhalb von 3-4 Jahren, starke affektive Reaktionen/Intrusionen, Vermeidungsverhalten und eine zunehmende depressive Stimmungslage gezeigt.

 

Die PTBS sei mit Sicherheit auf die Gewalttat vom 14. Februar 1982 zurückzuführen. Die rezidivierende depressive Störung sei weder im Sinne der erstmaligen Entstehung noch im Sinne der richtungsgebenden wesentlichen Verschlimmerung eines primär schädigungsunabhängigen Leidens mit Sicherheit oder auch nur wahrscheinlich auf die Gewalttat vom 14. Februar 1982 zurückzuführen. Die Gesundheitsstörungen auf somatischem Gebiet seien ebenfalls nicht auf das schädigende Ereignis zurückzuführen. Bezogen auf die depressive Störung hat der Sachverständige erklärt, es sei sehr wahrscheinlich, dass die Kombination aus anlagebedingten Faktoren, belastenden Lebensereignissen in der Kindheit und als belastend empfundenen akuten Lebensereignissen jeweils zum Ausbruch einer depressiven Episode geführt hätten und diese drei Faktoren zu etwa gleichen Teilen die rezidivierende depressive Erkrankung mitverursachten. Die Gewalttat vom 14. Februar 1982 trete demgegenüber in den Hintergrund und müsse als unwesentlich mit Blick auf die depressive Gesundheitsstörung angesehen werden. Die PTBS sei mit einem GdS von 20 zu bewerten. Die Symptome der PTBS führten zu keiner wesentlichen Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit.

 

Der Beklagte hat mit Schriftsatz vom 25. April 2024 als schädigungsbedingt eine psychoreaktive Störung mit einem GdS von 20 ab Antragstellung anerkannt. Er hat seinem Schriftsatz eine ausführliche Stellungnahme der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. A vom 2. April 2024 beigefügt. Die Ärztin hat die Diagnoseschlüssel nach DSM-V, DSM-IV und ICD-11 erläutert und ausgeführt, nach keinem dieser Diagnoseschlüssel könne die Diagnose einer PTBS abgeleitet werden, und zwar auch dann, wenn die geschilderten Symptome aus den drei vorliegenden Gutachten zusammengeführt würden. Nur nach dem Diagnoseschlüssel des ICD-10 lasse sich das Vollbild einer PTBS begründen, dies aber auch nur dann, wenn man einen verzögerten Beginn der auftretenden Symptome zulasse. Tue man dies nicht, sei es nach ICD-10 möglich, die Teilsymptome einer PTBS unter der unspezifischen Diagnose „sonstige Reaktion auf schwere Belastung“ (F 43.8) einzuordnen. Es sei allerdings das aktuellste Diagnosekriterium heranzuziehen, somit seien die Diagnoseschlüssel ICD-11 und DSM-V einschlägig. Unabhängig von der diagnostischen Einordnung der schädigungsbedingten posttraumatischen Symptome sei dem Gutachten von Prof. Dr. S insoweit zu folgen, als dieser eine wesentliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit verneine. Danach sei der Großteil der Beeinträchtigungen auf die schädigungsunabhängige rezidivierende depressive Erkrankung zurückzuführen. Anhand des geschilderten geregelten Tagesablaufs, der Freizeitgestaltung, der Fähigkeit, sich vollständig selbstständig zu versorgen ohne Hilfestellungen (mit Ausnahme einer Putzkraft), der Aufrechterhaltung von Freundschaften und Kontakten und der fehlenden Notwendigkeit für wiederholte stationäre traumaspezifische Behandlungen könne schädigungsbedingt nur eine leichtere psychische Störung anerkannt werden.

 

Mit Schriftsatz vom 28. Mai 2024 hat die Klägerin das Teilanerkenntnis angenommen, den Rechtsstreit aber nicht in Gänze für erledigt erklärt. Die Nichtanerkennung einer schädigungsbedingten PTBS sei nicht akzeptabel. Gerichte gingen regelmäßig davon aus, dass der ICD-10 Beurteilungsmaßstab sei. Ungeachtet dessen lägen aber sowohl die Voraussetzungen nach ICD-10 als auch nach ICD-11 vor. Der Senat hat bei dem Sachverständigen Prof. Dr. S eine ergänzende gutachterliche Stellungnahme vom 24. Juli 2024 eingeholt. Dieser hat erklärt, dass die Ausführungen von Dr. A nachvollziehbar seien, wenn diese ausführe, dass derzeit die Kriterien einer PTBS nur nach dem ICD-10 erfüllt seien. Es sei auch nachvollziehbar, soweit diese annehme, die diagnostischen Kriterien nach den aktuellsten Systemen, also ICD-11 und DSM-V, müssten erfüllt sein. Der Vorschlag, die Schädigungsfolge statt als PTBS nach ICD-10 als „psychoreaktive Störung“ zu bezeichnen, erscheine ihm als eine probate Lösung. Insoweit habe er keine Einwände.

 

Die Klägerin hat mit Schriftsatz vom 20. August 2024 erklärt, als Schädigungsfolge eine PTBS geltend zu machen. Außerdem begehre sie einen Gesamt-GdS von 30. Dies hat sie eingehend begründet. Hierzu hat der Senat eine weitere ergänzende gutachterliche Stellungnahme von Prof. Dr. S vom 12. Dezember 2024 eingeholt. Dieser hat erklärt, es sei nachvollziehbar, wenn man unabhängig von Kausalitätserwägungen rein final zu dem Ergebnis gelange, bei der Klägerin bestünden schwere psychische Störungen. Allerdings seien die seelischen Gesundheitsstörungen nur zu einem Teil auf das schädigende Ereignis zurückzuführen. Die Funktionsbeeinträchtigungen aufgrund der schädigungsabhängigen Gesundheitsstörung seien von leichterer Art und gingen für sich genommen nicht mit einer erkennbaren Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit einher.

 

Die Klägerin beantragt schriftlich und sinngemäß,

 

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 13. Dezember 2022 aufzuheben und den Beklagten unter entsprechender Änderung des Bescheides des Landes H vom 23. September 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. April 2016 in der Fassung des Teilanerkenntnisses vom 25. April 2024 zu verurteilen, bei der Klägerin aufgrund der Gewalttat vom 14. Februar 1982 als Schädigungsfolge eine posttraumatische Belastungsstörung anzuerkennen und ihr Leistungen nach einem Grad der Schädigungsfolgen von 30 zu gewähren.

 

Der Beklagte beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Er verweist auf seine versorgungsärztlichen Stellungnahmen und nimmt weiter an, dass bei der Klägerin weder eine PTBS noch ein höherer GdS als 20 festzustellen seien.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und die die Klägerin betreffenden Versorgungsakten des Beklagten Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

 

Der Senat kann ohne mündliche Verhandlung durch den Berichterstatter entscheiden, weil die Beteiligten zu dieser Entscheidungsform ihr Einverständnis erklärt haben (Klägerin mit Schriftsatz vom 18. Januar 2025, Beklagter mit Schriftsätzen vom 15. August und 24. Oktober 2024), § 124 Abs. 2 des SGG i. V. m. § 155 Abs. 4 und Abs. 3 SGG.

 

Die zulässige Berufung ist nicht begründet, soweit sie über das von dem Beklagten erklärte und von der Klägerin angenommene Teilanerkenntnis hinausgeht. Danach ist der Bescheid des Landes H vom 23. September 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. April 2016 in der Fassung des Teilanerkenntnisses vom 25. April 2024 rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, soweit damit die Feststellung der Schädigungsfolge PTBS sowie Leistungen nach einem höheren GdS als 20 abgelehnt worden sind.

 

Ein Entschädigungsanspruch nach dem wegen § 142 Abs. 2 Satz 1 des Vierzehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB XIV) hier anwendbaren OEG setzt zunächst voraus, dass die allgemeinen Tatbestandsmerkmale des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG gegeben sind. Danach erhält eine natürliche Person, die im Geltungsbereich des OEG durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Somit besteht der Tatbestand des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG aus drei Gliedern (tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind (vgl. Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 17. April 2013 - B 9 V 1/12 R – juris). Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennt auch das OEG drei Beweismaßstäbe. Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette (schädigender Vorgang, Schädigung und Schädigungsfolgen) des Vollbeweises. Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen. Denn ein darüber hinausgehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen. Das bedeutet, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können und verbleibende Restzweifel bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten. Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen Für die Kausalität selbst genügt gemäß § 1 Abs. 3 BVG die Wahrscheinlichkeit. Eine Wahrscheinlichkeit im Sinne des § 1 Abs. 3 Satz 1 BVG ist dann gegeben, wenn nach der geltenden wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht. Diese Definition ist der Fragestellung nach dem wesentlichen ursächlichen Zusammenhang angepasst, die nur entweder mit ja oder mit nein beantwortet werden kann. Es muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden. Für die Wahrscheinlichkeit ist ein deutliches Übergewicht für eine der Möglichkeiten erforderlich. Sie entfällt, wenn eine andere Möglichkeit ebenfalls ernstlich in Betracht kommt.

 

Dass hier ein schädigendes Ereignis vorliegt, steht außer Frage. Der Senat hat hier aufgrund des angenommenen Teilanerkenntnisses auch vom Vorliegen einer reaktiven Störung als Schädigungsfolge auszugehen. Einen Anspruch auf Feststellung einer PTBS als Schädigungsfolge hat die Klägerin nicht. Dabei bestehen bereits Zweifel daran, dass es im vorliegenden Fall auf die Feststellung einer PTBS neben oder anstelle der reaktiven Störung überhaupt ankommt. Denn nach dem in jedem Fall für die Bewertung der Schädigungsfolge einschlägigen Teil B Nr. 3.7 der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) wird hinsichtlich der Höhe des GdS nicht nach bestimmten Krankheiten, sondern nach der Stärke der Störungen differenziert. Es ergibt sich daraus also nicht, dass unterschiedliche Diagnosen auch eine unterschiedliche Beurteilung der Schwere der bei der Klägerin festgestellten Störungen bedingen (vgl. BSG, Beschluss vom 26. April 2022 - B 9 V 39/21 B – juris). Auch der Anspruch auf Heilbehandlung nach § 10 BVG/§§ 42 ff. SGB XIV dürfte vorliegend nicht mit der Diagnose zusammenhängen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn es um dasselbe Krankheitsbild geht und – wie hier – die Unterscheidung zwischen einer reaktiven Störung und einer PTBS letztlich akademischer Natur ist. Eine PTBS lässt sich hier aber ungeachtet dessen nicht feststellen. Dabei ist geklärt, dass medizinische Fragen, insbesondere zur Verursachung von Gesundheitsstörungen, auf der Grundlage des im Entscheidungszeitpunkt neuesten medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstands zu beantworten sind (BSG, Beschluss vom 26. April 2022 - B 9 V 39/21 B – juris). Den für den Senat im Zeitpunkt seiner Entscheidung maßgeblichen Erkenntnisstand bilden grundsätzlich das ICD-10 sowie das DSM-V ab (vgl. BSG, Urteil vom 28. Juni 2022 - B 2 U 9/20 R – juris). Nach der AWMF S3-Leitlinie der Deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatologie (DeGPT) „Posttraumatische Belastungsstörung“ Version vom 19. Dezember 2019 (Leitlinie PTBS) soll die Diagnostik nach den klinischen Kriterien der jeweils gültigen Version der ICD erfolgen (Leitlinie PTBS, S. 18). Dem aktuellen Erkenntnisstand entsprechen ICD-10 (Zehnte Revision der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme der WHO aus dem Jahre 1989, vom Deutschen Institut für medizinische Dokumentation und Information <DIMDI> ins Deutsche übertragen, herausgegeben und weiterentwickelt) und DSM-V (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-V, Deutsche Ausgabe herausgegeben von Peter Falkai und Hans-Ullrich Wittche, 2015 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG). Der ICD-11 ist zwar grundsätzlich seit dem 01. Januar 2022 anwendbar, jedoch tatsächlich nicht nutzbar (https://www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Klassifikationen/ICD/ICD-11/uebersetzung/_node.html, zuletzt abgerufen am 18. Februar 2025). Das DSM-V stellt mindestens seit dem Jahr 2019 den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand dar. Inzwischen wird die Gültigkeit des DSM-V als aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisstand in der Wissenschaft nicht mehr allgemein angegriffen, insbesondere nicht bezüglich der Diagnose der PTBS. Von seiner Aktualität wird vielmehr ohne Weiteres ausgegangen. Die geltenden Diagnosesysteme für die PTBS sind daher ICD-10 und DSM-V (BSG, Beschluss vom 14. Dezember 2022 – B 2 U 1/22 B – juris). Der Senat wendet hier indes nur das DSM-V an. Denn der ICD stellt ein weltweit anerkanntes System dar, mit dem medizinische Diagnosen einheitlich benannt werden. Das DSM ist ein auf psychische Störungen begrenztes Klassifikationssystem, welches im Vergleich zum ICD stärker operationalisiert ist. Dieses kann alternativ oder ergänzend zum ICD herangezogen werden und stellt den repräsentativen aktuellen medizinischen Erkenntnisstand im Bereich der Psychiatrie dar (vgl. BSG, Urteil vom 28. Juni 2022 - B 2 U 9/20 R – juris). Sowohl die alternative wie auch die ergänzende Anwendung des DSM-V ergeben vorliegend, dass eine PTBS nicht festgestellt werden kann.

 

Dass vorliegend die Voraussetzungen für eine PTBS nach DSM-V nicht erfüllt sind, haben die Sachverständigen G und Prof. Dr. S übereinstimmend angenommen.

 

Die diagnostischen Kriterien des DSM-V (TR Nr. 309.81) der PTBS lauten:

 

A. Traumatisches Ereignis: Die Person war mit einem der folgenden Ereignissen konfrontiert: Tod, tödlicher Bedrohung, schwerer Verletzung, angedrohter schwerer Verletzung, sexueller Gewalt, angedrohter sexueller Gewalt, und zwar in einer der nachfolgenden Weisen (mindestens eine):

 

1. Direkt ausgesetzt

 

2. Als Augenzeuge

 

3. Indirekt; erfahren, dass ein naher Verwandter oder ein Freund einem traumatischen Ereignis ausgesetzt war. Wenn dieses Ereignis ein Todesfall oder eine tödliche Bedrohung war, dann musste dieser bzw. diese die Folge von Gewalt oder eines Unfalles gewesen sein.

 

4. Konfrontation mit Details von traumatischen Ereignissen (z. B. als Ersthelfer, Polizist …), eventuell auch als Konfrontation durch elektronische Medien.

 

B. Wiedererleben: Das traumatische Ereignis wird wiederkehrend wiedererlebt und zwar in einer der nachfolgenden Weisen (mindestens eine):

 

1. Wiederkehrende, unfreiwillige und eindringliche belastende Erinnerungen (Kinder älter als 6 Jahre können diese potentiell in repetitivem Spiel ausdrücken).

 

2. Traumatische Albträume (Kinder können Albträume haben, ohne dass sich der Inhalt direkt auf das traumatische Ereignis bezieht).

 

3. Dissoziative Reaktionen (z. B. Flashbacks), in Dauer variierend von einer kurzen Episode bis zum Verlust des Bewusstseins (Kinder können das traumatische Erlebnis im Spiel nachstellen)

 

4. Intensiver oder langanhaltender Stress, nachdem die Person an das traumatische Erlebnis erinnert wurde (unabhängig von der Ursache für die Erinnerung).

 

5. Markante physiologische Reaktion, nachdem die Personen einem Reiz ausgesetzt war, der einen Bezug zum traumatischen Erlebnis hat.

 

C. Vermeiden: Anhaltendes starkes Vermeidungsverhalten von traumaassoziierten Reizen nach dem traumatischen Erlebnis (mindestens eines):

 

1. Traumaassoziierte Gedanken oder Gefühle

 

2. Traumaassoziierte externe Reize (z. B. Menschen, Orte, Unterhaltungen, Tätigkeiten, Objekte oder Situationen).

 

D. Negative Veränderungen von Gedanken und Stimmung: Die negativen Veränderungen von Gedanken und Stimmung begannen oder verschlechterten sich nach dem traumatischen Erlebnis (mindestens zwei):

 

1. Unfähigkeit, sich an wichtige Merkmale des traumatischen Erlebnisses zu erinnern (normalerweise dissoziative Amnesie; nicht aufgrund einer Kopfverletzung, Alkohol oder anderen Drogen)

 

2. Andauernde (und oft verzerrte) negative Annahmen von sich selbst oder der Welt (z. B. „Ich bin schlecht“, „Die ganze Welt ist gefährlich“)

 

3. Andauernde verzerrte Vorwürfe gegen sich selbst oder gegen andere, am traumatischen Erlebnis oder seinen negativen Folgen schuld zu sein

 

4. Andauernde negative traumaassoziierte Emotionen (z. B. Angst, Wut, Schuld oder Scham)

 

5. Markant vermindertes Interesse an wichtigen (nicht traumaassoziierten) Tätigkeiten

 

6. Das Gefühl, anderen fremd zu sein (z. B. Distanziertheit oder Entfremdung)

 

7. Eingeschränkter Affekt: andauernde Unfähigkeit, positive Emotionen zu empfinden

 

E. Veränderung in Erregung und Reaktionsfähigkeit: Traumaassoziierte Veränderungen in Erregung und Reaktionsfähigkeit, die nach dem traumatischen Erlebnis begonnen oder sich danach verschlechtert haben (mindestens zwei):

 

1. Gereiztes oder aggressives Verhalten

 

2. Selbstverletzendes oder leichtfertiges Verhalten

 

3. Erhöhte Vigilanz

 

4. Übermäßige Schreckreaktion

 

5. Konzentrationsschwierigkeiten

 

6. Schlafstörungen

 

F. Dauer: Das Störungsbild (alle Symptome in B, C, D und E) dauert länger als einen Monat.

 

G. Funktionelle Bedeutsamkeit: Das Störungsbild verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.

 

Die Sachverständige G hat sowohl das C- als auch das E-Kriterium verneint, sie hätte ausgehend von der Anwendung des DSM-V auch das D-Kriterium verneinen müssen, da sie insoweit nur ein Symptom mitgeteilt hat (Gefühl der anhaltenden Erschöpfung ohne depressive Stimmung), nach dem DSM-V aber mindestens zwei solcher Symptome vorliegen müssen. Der Sachverständige Prof. Dr. S hat bei Zugrundelegung des ICD-10 das D-Kriterium bejaht, welches nach dem DSM-V den Symptomen unter D 1. und E entspricht. Dabei ist er, wenn auch mit gewisser Zurückhaltung, von Hinweisen auf Erinnerungslücken ausgegangen, da der genaue Ablauf der Vergewaltigung nicht sicher habe geschildert werden können. Ob dieser „Hinweis“ auf Erinnerungslücken überzeugend ist, kann hier dahinstehen. Denn jedenfalls hat er keine weitere Symptomatik beschrieben, die denen des D-Kriteriums im Sinne des DSM-V entsprechen würde. Da das DSM-V aber mindestens zwei der darin aufgeführten Fälle verlangt, musste der Sachverständige Prof. Dr. S bei Anwendung des DSM-V ebenfalls die PTBS verneinen. Dass er dies auch so sieht, lässt sich seiner ergänzenden Stellungnahme vom 24. Juli 2024 entnehmen, nach der er die von der Versorgungsärztin vorgebrachten Einwände als nachvollziehbar angesehen hat.

 

Andere Schädigungsfolgen sind von der Klägerin nicht mehr geltend gemacht worden. Sie sind hier auch nicht ersichtlich. Dies gilt insbesondere für die so von der Sachverständigen G bezeichnete depressive Symptomatik und die von Prof. Dr. S festgestellte rezidivierende depressive Störung (gegenwärtig mittelgradig). Denn diese Störung ist nach den übereinstimmenden Einschätzungen der Sachverständigen nicht wahrscheinlich kausal auf das hier in Rede stehende Gewaltereignis zurückzuführen.

 

Die hier von dem Beklagten als Schädigungsfolge anerkannte reaktive Störung ist nach Teil B Nr. 3.7 der Anlage zu § 2 VersMedV als leichtere psychische Störung mit keinem höheren GdS als 20 zu bewerten, so dass die Klägerin keinen Rentenanspruch hat. Dabei verkennt der Senat nicht, dass die psychische Symptomatik der Klägerin insgesamt mit einem höheren GdS zu bewerten sein dürfte. Bei der Bewertung der Schädigungsfolge kann der Senat indessen nur die Funktionsbeeinträchtigungen berücksichtigen, die mit der Schädigungsfolge in Zusammenhang stehen. Insoweit folgt der Senat der Einschätzung des Sachverständigen Prof. Dr. S und nicht der der Sachverständigen G. Im Wesentlichen können hier nur die affektiven Intrusionen und ein gewisses Vermeidungsverhalten berücksichtigt werden. Albträume, aversive Gefühle in Situation die der erlebten ähneln (Scheibenwischergeräusche, Dämmerung, kalte Außentemperatur), und ein gewisses Vermeidungsverhalten erreichen hier nicht ein Ausmaß, das die Annahme einer wesentlichen Beeinträchtigung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit rechtfertigen könnte. Der Sachverständige hat in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 12. Dezember 2024 zu Einwänden der Klägerin überzeugend ausgeführt, dass die Behandler der Klägerin vor allem Einschränkungen, Symptome und Funktionsbeeinträchtigungen aufführten, die nicht im Zusammenhang mit der Schädigung der Klägerin stünden. Demgemäß hätten sich die dokumentierten fachärztlichen und psychotherapeutischen Behandlungen im Wesentlichen auf chronifizierte Leidenszustände bezogen, die nicht mit der Schädigung im Zusammenhang stünden. Leid und Beeinträchtigung aufgrund des Traumas würden demgegenüber in den Hintergrund rücken. Dies zeige sich auch daran, dass eine spezifische Traumabehandlung oder auch eine spezielle diesbezügliche Pharmakotherapie in den letzten Jahren nicht stattgefunden habe und auch aktuell nicht geplant sei.

 

Abschließend merkt der Senat nur ergänzend an, dass es hier wohl auch vertretbar wäre, anzunehmen, dass sich der Rechtsstreit hinsichtlich der Höhe des GdS durch das Anerkenntnis des Beklagten mit Schriftsatz vom 25. April 2024 und die teilweise Annahme desselben mit Schriftsatz der Klägerin vom 28. Mai 2024 erledigt hat. Denn in der Gesamtschau könnte die Erklärung der Klägerin durchaus so ausgelegt werden, dass sie den Rechtsstreit nur noch hinsichtlich der Schädigungsfolge PTBS fortführen wollte.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Die Revision ist nicht zugelassen worden, weil ein Grund hierfür gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG nicht vorliegt.

 

 

 

 

Rechtskraft
Aus
Saved