L 6 AS 281/23

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 13 AS 5/20
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 AS 281/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

1. Ist der Sachverhalt und damit die Hilfebedürftigkeit als Voraussetzung eines Anspruchs auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende auf Grund unklarer Einkommensverhältnisse noch nicht geklärt, darf der Leistungsträger den Leistungsanspruch nicht endgültig ablehnen. 

2. Der Leistungsträger hat vielmehr dem Betroffenen formlos mitzuteilen, dass eine abschließende Entscheidung auf Grund der ausstehenden Ermittlungen noch nicht möglich ist und bei längerem Zeitbedarf hierfür über die Erbringung vorläufiger Leistungen zu entscheiden. Diese kann er ablehnen, wenn es an den Voraussetzungen des § 41a Abs. 1 Satz 1 SGB II fehlt, namentlich ein Anspruch nicht hinreichend wahrscheinlich ist.

3. Insofern ist die Ablehnung einer vorläufigen Entscheidung von einer vorläufig ablehnenden Entscheidung zu unterscheiden, für die es keinen Bedarf gibt.
 

Der Beklagte hat der Klägerin die Hälfte der zur Rechtsverfolgung notwendigen Kosten zu erstatten.

 
Gründe

Der Beklagte hat – nach Abwägung aller im Einzelfall maßgeblichen Umstände und Ausübung des dem Gericht in diesem Zusammenhang bestehenden Ermessens – der Klägerin die Hälfte ihrer zur Rechtsverfolgung notwendigen Kosten zu erstatten.

Das Verfahren ist auf Grund der von der Klägerin abgegebenen und auf die Klage insgesamt bezogenen Erledigungserklärung vom 4. Februar 2025, die als Klagerücknahme auszulegen ist, erledigt (§ 102 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG –). Der Senat hat daher, nachdem die Klägerin Kostenantrag gestellt hat, durch Beschluss (nur noch) über die Kosten zu entscheiden (vgl. 102 Abs. 3 Satz 1 SGG). Der Beschluss ergeht allein durch den Berichterstatter (vgl. § 155 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5, Abs. 4 SGG).

Da die erstinstanzliche Entscheidung durch die Klagerücknahme – auch hinsichtlich der Kostenregelung – wirkungslos geworden ist (vgl. § 202 Satz 1 SGG i.V.m. § 296 Abs. 3 Satz 1 Halbs. 2 Zivilprozessordnung – ZPO –; hierzu: BSG, Urteil vom 1. Juli 2010 – B 13 R 58/09 R, BSGE 106, 254, Rn. 36; B. Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/B. Schmidt, SGG – Kommentar, 14. Aufl. 2023, § 102 Rn. 9), hat der Senat dabei über die gesamten Verfahrenskosten, einschließlich der des Vorverfahrens, zu befinden (vgl. nur BSG, Beschluss vom 3. Mai 2018 – B 8 SO 44/17 B –, juris, Rn. 3). Entsprechend dem Rechtsgedanken aus § 91a ZPO und § 161 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung entscheidet das Gericht dabei nach billigem Ermessen unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes. Dabei sind einerseits die Erfolgsaussichten der Klage zum Zeitpunkt der Erledigung von Bedeutung (vgl. nur BSG, Urteil vom 7. September 1998 – B 2 U 10/98 R –, SozR 3-1500 § 193 Nr. 10); andererseits können namentlich die Gründe für die Klageerhebung und die Erledigung zu berücksichtigen sein (vgl. u.a. BSG, Beschluss vom 3. Mai 2018 – B 8 SO 44/17 B –, juris, Rn. 2 und insgesamt B. Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/B. Schmidt, SGG – Kommentar, 14. Aufl. 2023, § 193 Rn. 13 ff.; für ein Überwiegen des Veranlassungsprinzips: Hessisches LSG, Beschluss vom 7. Februar 2003 – L 12 B 93/02 RJ –, juris, Rn. 19). 

Ausgehend von diesen Grundsätzen erscheint es im vorliegenden Verfahren sach- und ermessensgerecht, den Beklagten zu verpflichten, der Klägerin die Hälfte der zur Rechtsverfolgung notwendigen Kosten zu erstatten. 

Zwar hatte die Klage zum Zeitpunkt der Erledigung nur geringe Aussichten auf Erfolg: Die Beteiligten haben in der Hauptsache darum gestritten, ob die vom Beklagten verfügte (endgültige) Ablehnung von Arbeitslosengeld II durch den Bescheid des Beklagten vom 29. Oktober 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Dezember 2019 im Hinblick auf das anrechenbare Einkommen rechtmäßig war oder ob der Klägerin immerhin für die Monate Oktober bis Dezember 2019 ein Leistungsanspruch zustand. Insoweit bestanden, nachdem die tatsächliche Höhe des selbständigen Einkommens der Klägerin geklärt war, zum Zeitpunkt der Verfahrensbeendigung nach der im Rahmen der Kostenentscheidung gebotenen summarischen Prüfung nur geringe Erfolgsaussichten. 

Für die Berechnung selbständigen Einkommens war – auch bei einer sogleich abschließenden Bewilligung – von einem auf den Bewilligungszeitraum bezogenen Durchschnittseinkommen auszugehen (vgl. § 3 Abs. 4 Satz 1 der Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-Verordnung in der im Streitzeitraum maßgeblichen Fassung). Dabei spricht alles dafür, dass der vorangegangene Bewilligungszeitraum bis 30. September 2019 jedenfalls hinsichtlich der Anspruchsdauer schon bei Erhebung der hiesigen Klage bindend beschieden war, nachdem bereits das diesbezügliche Widerspruchsverfahren nicht die Dauer des Leistungszeitraums, sondern (nur) die Höhe der gewährten Leistungen betroffen haben dürfte. Damit konnte im hiesigen Klageverfahren letztlich nur noch der Endzeitpunkt des Bewilligungs- und damit des für die Einkommensberechnung maßgeblichen Zeitraums umstritten sein.

Mit dem streitigen Bescheid vom 29. Oktober 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Dezember 2019 hat der Beklagte eine sogleich, abschließende und gerade keine vorläufige Entscheidung erlassen. Vor diesem Hintergrund und mit Blick auf den einjährigen Regelbewilligungszeitraum von einem Jahr aus § 41 Abs. 3 Satz 1 SGB II erscheint der vom Beklagten zugrunde gelegte Bewilligungszeitraum von sechs Monaten, der sich aus dem Berechnungsbogen zu dem angefochtenen Bescheid ergibt, nicht selbstverständlich; denkbar wäre vielmehr auch, dass auf einen am 1. Oktober 2019 beginnenden Jahreszeitraum abzustellen sein könnte. Die Klägerin hat allerdings bestätigt, dass bei einer Durchschnittsbildung über die Zeit vom 1. Oktober 2019 bis zum 30. September 2020 kein für sie günstigeres Ergebnis zu erwarten wäre. 

Dagegen ist die von ihr vorgenommene Beschränkung des Zeitraums, für den sie Leistungen geltend macht, auf die Zeit bis Ende Dezember 2019 nach der im Rahmen der Kostenentscheidung gebotenen summarischen Prüfung – in Übereinstimmung mit der erstinstanzlichen Entscheidung – kaum geeignet, zu einem niedrigeren anrechenbaren Einkommen zu gelangen: Die entsprechende Anspruchsbeschränkung dürfte als Verzicht zu deuten sein. Als solcher dürfte er aber wegen der damit einhergehenden Belastung des Beklagten nach § 46 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Erstes Buch – Allgemeiner Teil – (SGB I) unwirksam sein; das Bayerische Landessozialgericht (Urteil vom 16. Juli 2024 – L 7 AS 122/23 –, juris, Rn. 39 f.) hat dazu jüngst und nach summarischer Prüfung überzeugend ausgeführt: Zwar sei es dem Antragsteller unbenommen, durch die Antragstellung den Leistungsbeginn und damit – in Verbindung mit § 41 Abs 3 SGB II – die Lage des Bewilligungszeitraums zu bestimmen. Hingegen unterfalle die nachträgliche Beschränkung eines Antrags nicht der rechtlich zulässigen Disposition des Antragstellers, wenn dadurch die materiell-rechtlichen Leistungsvoraussetzungen innerhalb des Bewilligungszeitraums zu seinen Gunsten verändert werden sollen. Dies müsse zumindest dann gelten, wenn – wie vorliegend – eine derartige Veränderung zu Lasten der Steuerzahler ginge (vgl. zu nachträglichen Beschränkung eines Antrags, um Einkommen zu Vermögen umzuqualifizieren: BSG, Urteil vom 24. April 2015 – B 4 AS 22/14 R, juris, Rn 23). Ähnliche Überlegungen gelten nach summarischer Prüfung für die von der Klägerin vorgenommene Beschränkung ihres Antrags und des Zeitraums, für den sie Leistungen geltend macht, jedenfalls dann, wenn die Antragsbeschränkung – wie hier – erst nach Bescheidung des Antrags erfolgt.

Von erheblichen Erfolgsaussichten der Klägerin zum Zeitpunkt der Erledigung kann vor diesem Hintergrund und bei summarischer Prüfung nicht ausgegangen werden – was sie mit ihrer Klagerücknahme im Übrigen auch akzeptiert hat.

Da der angegriffene Bescheid jedoch nach wiederum summarischer Prüfung sowohl bei Einlegung des Widerspruchs als auch noch bei Klageerhebung in erster Instanz rechtswidrig war, erscheint es ermessensgerecht, den Beklagten zu einer hälftigen Übernahme der Rechtsverfolgungskosten zu verpflichten. Die endgültig ablehnende Entscheidung vom 29. Oktober 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Dezember 2019 auf der Basis eines zu diesem Zeitpunkt nur prognostizierten Einkommens dürfte zum Zeitpunkt ihres Erlasses rechtswidrig gewesen sein. Das aus dem Rechtstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz) und dem Vorbehalt des Gesetzes (§ 31 SGB I) sowie dem Untersuchungsgrundsatz (§ 20 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – [SGB X]) folgende Verbot des vorzeitigen Verfahrensabschlusses steht einer abschließenden Entscheidung vor Klärung der Sach- und Rechtslage entgegen, sofern keine gesetzlich eingeräumte Schätzbefugnis oder Ähnliches besteht; ergeht sie dennoch, ist sie (von Anfang an) rechtswidrig (vgl. nur BSG, Urteil vom 29. November 2012 – B 14 AS 6/12 R –, BSGE 112, 221, Rn. 18; BSG, Urteil vom 21. Juni 2011 – B 4 AS 21/10 R, BSGE 108, 258, Rn. 16; BSG Urteil vom 29. April 2015 – B 14 AS 31/14 R, SozR 4-4200 § 40 Nr. 9; aus der Literatur: Berchtold SGb 2020, 393 und Kallert, in: Rolfs/Knickrehm/Deinert, BeckOGK (Gagel), SGB II, § 41a – Stand: 1. März 2022 – Rn. 14). Dabei kann es sowohl um Umstände gehen, die zwar schon vorliegen, aber noch nicht festgestellt sind, als auch um Tatsachen, die noch gar nicht feststellbar sind, weil es sich um zukünftige Entwicklungen handelt (vgl. die Materialien zur Einführung von § 41a: BT-Drucks. 18/8041, S. 51; außerdem: Kallert, in: Rolfs/Knickrehm/Deinert, BeckOGK (Gagel), SGB II, § 41a – Stand: 1. März 2022 – Rn. 7).

In der Konsequenz darf bei erkennbar offenem Sachverhalt weder eine abschließende Bewilligung noch eine endgültig ablehnende Entscheidung ergehen: Eine abschließende Entscheidung, sei sie positiv oder negativ für die Klägerin, durfte daher angesichts der unklaren Höhe des selbständigen Einkommens der Klägerin im Bewilligungszeitraum bei Erlass des Bescheides vom 29. Oktober 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Dezember 2019 noch nicht ergehen. Dem steht nicht entgegen, dass – worauf der Beklagte im Ausgangspunkt zutreffend hinweist – eine vorläufig ablehnende Entscheidung gesetzlich nicht vorgesehen ist (vgl. in diese Richtung – zur Parallelregelung im Arbeitsförderungsrecht – BSG, Urteil vom 2. Mai 2012 – B 11 AL 23/10 R –, SozR 4-1300 § 63 Nr. 17; ebs. Kallert, in: Rolfs/Knickrehm/Deinert, BeckOGK (Gagel), SGB II, § 41a – Stand: 1. März 2022 – Rn. 61 ff.). Das führt aber keineswegs dazu, dass in einer entsprechenden Situation trotz ungeklärter Sach- und Rechtslage sogleich eine abschließende (Ablehnungs )Entscheidung ergehen dürfte: Vielmehr hat der Leistungsträger unter diesen Umständen, also beim möglichen, aber noch nicht feststehenden Fehlen von Hilfebedürftigkeit, von einer endgültigen Entscheidung zunächst abzusehen (und wird dies in aller Regel dem Leistungsberechtigen formlos mitzuteilen haben); zugleich hat er, sofern es zur Klärung des Sachverhalts längerer Zeit im Sinne von § 41a Abs. 1 Satz 1 SGB II bedarf, über die Erbringung vorläufiger Leistungen zu entscheiden, die er selbstverständlich auch ablehnen kann, wenn die Voraussetzung aus § 41a SGB II nicht vorliegen, namentlich also ein Anspruch dem Grunde nach nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vorliegt. Diese Ablehnung vorläufiger Leistungen ist aber sowohl von der vorläufigen als auch der abschließenden Ablehnung endgültig zustehender Leistungen zu unterscheiden.

Da der streitige Bewilligungszeitraum bei Beendigung des Klageverfahrens (längst) abgelaufen war und es daher zu diesem Zeitpunkt nur noch um endgültig zustehende Leistungen gehen konnte, dürfte es auf diese Zusammenhänge für die Beurteilung der Erfolgsaussichten nicht mehr angekommen sein: Aus dem fehlerhaft verfrüht als abschließende Entscheidung erlassenen streitigen Bescheid erwächst – selbstverständlich – kein materieller Anspruch auf Arbeitslosengeld II und es dürfte jedenfalls an einem Rechtsschutzbedürfnis für dessen Aufhebung im Rahmen der Anfechtungsklage fehlen, nachdem der Beklagte eine inhaltlich entsprechende Entscheidung sogleich wieder zu erlassen hätte. 

Der Beklagte hat jedoch durch sein Vorgehen die Klage veranlasst: Zum Zeitpunkt der Klageerhebung hatte die Klägerin angesichts der noch nicht abgeschlossenen Einkommensentwicklung ein nachvollziehbares Interesse daran, die ablehnende Entscheidung nicht bindend werden zu lassen. Anders als der Beklagte in seinem Schriftsatz vom 21. November 2024 ausgeführt hat, musste sie sich insofern auch nicht auf das Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X verweisen lassen, sondern durfte verhindern, dass ein zu diesem Zeitpunkt rechtswidriger Bescheid zunächst bestandskräftig wird. Dem lässt sich, anders als der Beklagte meint, auch nicht entgegenhalten, dass die Leistungsträger unter Zugrundelegung dieser Rechtsauffassung gar keine in die Zukunft gerichteten Ablehnungsbescheide mehr treffen dürften. Vielmehr gilt nur für die endgültige Bewilligung wie für die endgültige Ablehnung, dass entsprechende Bescheide noch nicht rechtmäßig ergehen dürfen, solange der Sachverhalt erkennbar noch nicht abschließend geklärt ist, weil konkret beschreibbare offene Umstände vorhanden sind. Handelt es dagegen nur um die ganz allgemeine Unsicherheit zukünftiger Entwicklungen, ist eine abschließende Entscheidung möglich, die dann im Übrigen über § 48 SGB X und gerade nicht über § 44 SGB X zu korrigieren ist (vgl. Kallert, in: Rolfs/Knickrehm/Deinert, BeckOGK (Gagel), SGB II, § 41a – Stand: 1. März 2022 – Rn. 73).

Insofern hatte die Klägerin durch Anlass zur Widerspruchseinlegung und auch noch zur Klageerhebung in erster Instanz; bei Einleitung des Berufungsverfahrens dagegen war der Sachverhalt dagegen geklärt, so dass die Fortführung des Verfahrens absehbar erfolglos bleiben musste. Nach allem erscheint dem Senat die Verpflichtung des Beklagten, der Klägerin die Hälfte der notwendigen Rechtsverfolgungskosten zu erstatten, ermessensgerecht.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
 

Rechtskraft
Aus
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