Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts vom 14.06.2023 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die Versorgung mit Medizinal-Cannabis zu Lasten der beklagten Krankenkasse.
Die Klägerin (* 00.00.0000) ist bei der Beklagten gegen Krankheit versichert. Sie leidet u.a. an einer Migräne mit Aura (G43.1 <Diagnoseschlüssel gemäß ICD-10-GM>) sowie einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (F45.41), des Weiteren besteht eine Arthritis (M05.30). Ein GdB von 60 ist anerkannt (seelische Störung; Migräne), zudem bezieht die Klägerin eine Rente wegen Erwerbsminderung.
Am 29.03.2021 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Versorgung mit Medizinal-Cannabis (Antrag vom 20.03.2021). Nach umfangreichen Behandlungen und Untersuchungen blieben nach Aussagen von „Spezialisten“ nur alternative Heilmethoden. Diesbezüglich sei ihr Cannabis auf Privatrezept verschrieben worden, dass sie jetzt – privat finanziert – über mehrere Monate eingenommen habe (täglich abends 0,5 g). Dies bewirke zum ersten Mal seit über 20 Jahren eine Linderung der schlimmsten Symptome.
Die Beklagte forderte daraufhin unter dem 01.04.2021 bei dem Facharzt für Neurologie und Psychiatrie H., weitere Auskünfte an. Dies teilte sie mit Post vom gleichen Tage der Klägerin mit und wies diese weiter darauf hin, dass sie beabsichtige, ggf. anschließend Beratung seitens des MD einzuholen; die Entscheidung könne nach Eingang der Unterlagen bis zu fünf Wochen dauern und sie melde sich spätestens am 20.05.2021 wieder bei der Klägerin. Nachdem der Arzt H. nicht antwortete, lehnte die Beklagte den Antrag ab (Bescheid vom 27.04.2021).
Am 24.06.2021 bat die Klägerin die Beklagte telefonisch, ihren Arzt nochmals an die Auskunftserteilung zu erinnern. Die Beklagte wandte sich daraufhin erneut an den H., der nunmehr die angeforderten Auskünfte erteilte; dabei verwies er u.a. darauf, dass die Behandlung bei dem Arzt B. durchgeführt werden solle, da dieser langjährige Erfahrung in der Behandlung mit Cannabis habe. Die Beklagte bat auch diesen daraufhin um Erteilung eines aktuellen schmerztherapeutischen Befundberichts und beauftragte schließlich den MD mit einer Begutachtung.
Der MD gelangte zu der Einschätzung, dass die Klägerin unter einer schwerwiegenden Migränesymptomatik leide, die ihre Lebensqualität nachvollziehbar erheblich beeinträchtige. Geplant sei angeblich eine Verordnung durch B., der den Antrag nach seinen Angaben jedoch nicht unterstütze. Aus den vorliegenden Unterlagen gehe somit kein verordnender Vertragsarzt hervor, der die Therapie mit Cannabinoiden unterstütze, weshalb die Anspruchsvoraussetzungen formal nicht erfüllt seien (Sozialmedizinisches Gutachten vom 10.02.2022).
Die Beklagte lehnte die Versorgung mit Cannabis daraufhin erneut ab (Bescheid vom 22.02.2022).
Zur Begründung ihres hiergegen erhobenen Widerspruchs legte die Klägerin eine ärztliche Stellungnahme B. (vom 14.03.2022) vor, wonach dieser den Antrag auf Kostenübernahme für die Versorgung mit Cannabis „befürworte“. Die Klägerin sei mit den üblichen Analgetika, die „alle“ versucht worden seien, nicht ausreichend schmerzfrei einzustellen; die Klägerin erhalte ihre Migränetherapie von neurologischer Seite. Die Verordnung von Cannabis sei notwendig und sollte übernommen werden.
Die Beklagte wies den Widerspruch zurück (Widerspruchsbescheid vom 26.04.2022). Zwar sei der Widerspruch unzulässig, weil die Klägerin ihn per E-Mail erhoben habe, sie nehme ihn aber dennoch zur Prüfung an. Der Widerspruch sei jedoch unbegründet, weil bereits keine ärztliche Verordnung von Cannabis vorliege. Dem Antrag sei auch keine begründete Einschätzung beigefügt gewesen und eine solche auch nicht nachgereicht worden; die schlichte Verordnung genüge den gesetzlichen Anforderungen nicht. Es könne zwar davon ausgegangen werden, dass bei der Klägerin eine schwerwiegende Erkrankung vorliege, es sei aber nicht dargelegt, dass eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistungen nicht zur Verfügung stehe oder aber im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes nicht zur Anwendung kommen könne. Die von der Klägerin vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen hülfen nicht weiter; es handle sich nicht um begründete Einschätzungen im Gesetzessinne. Es könne daher nicht zu Gunsten der Klägerin davon ausgegangen werden, dass eine Standardtherapie nicht zur Verfügung stehe; vielmehr sei davon auszugehen, dass schulmedizinische Behandlungsmöglichkeiten wie u.a. Arzneimittel, Schmerztherapie und Reha-Maßnahmen vorhanden und nicht ausgeschöpft seien.
Die Klägerin hat hiergegen am 24.05.2022 Klage zum Sozialgericht Köln erhoben.
Sie hat vorgetragen, es bestünden erhebliche Beeinträchtigungen der beruflichen Leistungsfähigkeit und privaten Lebensführung; teilweise sei sie an bis zu 25 Tagen monatlich erheblich beeinträchtigt. Aufgrund dieser Erkrankung befinde sie sich seit 2002 in dauerhafter medizinischer Behandlung. Eine Medikation mit Migränemitteln sei im Ergebnis ohne Besserung verlaufen. Sie habe sich aufgrund der sich weiterhin ergebenden depressiven Phasen sogar in (tages-) stationäre Behandlung begeben müssen. Dass die Einnahme eines Cannabis-Medikaments eine spürbare positive Entwicklung des Krankheitsverlaufs ergebe, sei bereits durch die Praxis nachgewiesen. Soweit die Beklagte auf psychopathologische Komorbiditäten verweise, stünden diese im Zusammenhang mit der schwerwiegenden Migräne-/Schmerzsymptomatik; die Reduzierung der Schmerz- und Migränesymptomatik würde auch zu einer Verbesserung der psychischen Situation führen.
Die Klägerin hat beantragt,
- den Bescheid der Beklagten vom 22.02.2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.04.2022 aufzuheben,
- die Beklagte zu verurteilen, sie antragsgemäß mit medizinischen Cannabis-Produkten zu versorgen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat den angefochtenen Bescheid verteidigt.
Das Sozialgericht hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 14.06.2023). Zwar gehe auch die Kammer nach Auswertung der eingeholten Befundberichte davon aus, dass die Klägerin unter einer schwerwiegenden Erkrankung – u.a. an einer Migräne mit Aura, arzneimittelinduzierten Kopfschmerzen und einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren – leide. Im vorliegenden Fall stünden für die Behandlung der Klägerin aber Standardmethoden zur Verfügung. Es sei nicht nachgewiesen, dass sie diese nicht verträgt oder dass sie ohne Erfolg geblieben sind. Der behandelnde Neurologe H. habe im Verwaltungsverfahren ausgeführt, aufgrund einer schweren Migräneerkrankung und komplexen Kopfschmerzsymptomatik erfolge neben einer von ihm verordneten prophylaktischen und symptomatischen Medikation eine zusätzliche schmerztherapeutische Behandlung. Es erfolge eine dem medizinischen Standard entsprechende Therapie der Migräne (Prophylaxe mit Anjovy und Bedarfsarznei in der Attacke mit Sumatriptan) sowie eine hochdosierte antidepressive Medikation (Duloxetin 90 mg); unter dieser Behandlung sei es schon zu einer Verbesserung der Symptomatik gekommen. Die Hausärztin U. habe im gerichtlichen Verfahren ausgeführt, es stehe eine medikamentöse Therapie nach medizinischem Standard zur Verfügung. Weiter sei auch nicht erkennbar, dass eine Standardtherapie nicht zur Anwendung kommen könne, da es an einer begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes fehle. Den diesbezüglichen Anforderungen würden die vorliegenden ärztlichen Stellungnahmen und Ausführungen nicht gerecht. Die begründete Einschätzung habe dabei der Versicherte als Voraussetzung des Versorgungs- und Genehmigungsanspruchs beizubringen.
Gegen das ihrem Prozessbevollmächtigten am 23.06.2023 zugestellte Urteil wendet sich die Klägerin mit ihrer am 27.06.2023 eingelegten Berufung.
Sie macht geltend, sie leide an einer schwerwiegenden Erkrankung, namentlich einer schweren Migräneerkrankung mit komplexer Kopfschmerzsymptomatik, die neben der bereits verordneten prophylaktischen und symptomatischen Medikation einer zusätzlichen schmerztherapeutischen Behandlung bedürfe, sowie ferner erheblichen Schlafstörungen. Zu Unrecht gehe das Sozialgericht davon aus, dass eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung zur Verfügung stehe. Unter Behandlung mit Cannabisprodukten trete der Spannungskopfschmerz nicht auf; es komme daher zu einer Heilung in der Form, dass die Krankheitssymptome entfielen. Dies habe B. in seiner Stellungnahme vom 14.03.2022 bestätigt; zudem habe er ein therapieresistentes, chronisches Schmerzsyndrom bestätigt. Es handle sich somit um eine vertragsärztliche Stellungnahme, die, gesetzlich vorgeschrieben, ausführe, dass eine Behandlung mit allgemein zugelassenen Behandlungsmethoden nicht erfolgversprechend gewesen sei. Das Sozialgericht habe seine eigene Sachkunde vor weitere medizinische Aufklärung gesetzt und insbesondere nicht beachtet, dass sich eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbar positive Einwirkung auf die Kopfschmerzen und die Schlafstörungen unter der Behandlung mit Cannabis nachweisen lasse. B. habe ihr gegenüber erklärt, dass die medizinischen Voraussetzungen für eine Verordnung von Cannabisprodukten vorlägen, ohne jedoch ein den formalen Anforderungen entsprechendes ärztliches Attest auszustellen.
Im Berufungsverfahren hat die Klägerin darüber hinaus Kassenbelege der Stadtapotheke Venlo über den Erwerb von Cannabispräparaten in Form getrockneter Blüten aus den Jahren 2020 bis 2024 vorgelegt; wegen der Einzelheiten wird auf die Anlagen zum Schriftsatz vom 13.09.2024 verwiesen.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Köln vom 14.06.2023, sowie den Bescheid der Beklagten vom 22.02.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.04.2022 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an sie 9.555,08 € zu zahlen sowie sie zukünftig mit Medizinal-Cannabis als Sachleistung zu versorgen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält den angegriffenen Gerichtsbescheid für rechtmäßig.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen. Dieser ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Köln vom 14.06.2023 ist zulässig, aber unbegründet.
Der Senat entscheidet über die Berufung dabei in der Besetzung gemäß § 153 Abs. 5 SGG mit dem Berichterstatter und den ehrenamtlichen Richtern, nachdem er diesen die Berufung übertragen hat (vom 16.05.2024).
Zulässigkeitsbedenken bestehen auch nicht im Hinblick auf die ursprüngliche Klage. Dass die Klägerin ihren Widerspruch zunächst per E-Mail erhob, ist jedenfalls deshalb ohne Belang, weil die Behörde auch über einen formwidrigen Widerspruch sachlich entscheiden kann (B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl. 2023, § 84 Rn. 7). Aus demselben Grund kann dahinstehen, ob es sich bei dem Fax, mit dem die Klägerin ihren Widerspruch erneut an die Beklagte übermittelte, um ein E-Mail-to-Fax-Verfahren oder aber ein Computerfax handelte (zur Unterscheidung vgl. LSG NRW, Beschluss vom – L 6 AS 1482/22 B ER – juris Rn. 3).
Das Sozialgericht hat die Klage auch in der Sache zu Recht abgewiesen. Der angefochtene Bescheid vom 22.02.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.04.2022 (§ 95 SGG) ist rechtmäßig und die Klägerin nicht beschwert (§ 54 Abs. 2 S. 1 SGG). Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Versorgung mit Medizinal-Cannabis als Sachleistung (dazu 1) und auch nicht auf Kostenerstattung für insoweit in der Vergangenheit selbst beschaffte Leistungen (dazu 2).
1. Ein Anspruch auf Versorgung mit Cannabis als Sachleistung ergibt sich weder aus § 31 Abs. 6 S. 1 SGB V (dazu a) noch aus anderen Anspruchsgrundlagen (dazu b und c).
a) Gemäß § 31 Abs. 6 S. 1 SGB V haben Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von u.a. getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität, wenn eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht (Nr. 1 Buchst. a) oder im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann (Nr. 1 Buchst. b), und eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht (Nr. 2).
aa) Dass eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung im Falle der Klägerin nicht zur Verfügung stünde, ist nicht ersichtlich. Zwar steht eine Standardtherapie nicht nur dann nicht zur Verfügung, wenn es sie generell nicht gibt, sondern auch, wenn sie im konkreten Einzelfall ausscheidet, weil der Versicherte sie nachgewiesenermaßen nicht verträgt oder erhebliche gesundheitliche Risiken bestehen oder sie trotz ordnungsgemäßer Anwendung im Hinblick auf das beim Patienten angestrebte Behandlungsziel ohne Erfolg geblieben ist (vgl. dazu BSG, Urteil vom 10.11.2022 – B 1 KR 28/21 R – Rn. 22 f. m.w.N.). Zwar hat die Klägerin zur Begründung ihrer Berufung geltend gemacht, das Sozialgericht sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass eine Standardtherapie zur Verfügung stehe. Dass indes Standardtherapien zur Verfügung stehen und auch bei der Klägerin angewandt worden sind, ergibt sich indes aus den aktenkundigen befund- und behandlungsunterlagen. Nach diesen befund- und behandlungsunterlagen ist auch nicht ersichtlich, dass die einschlägigen Standardtherapien in Bezug auf das Behandlungsziel gänzlich erfolglos geblieben wären. So hat, worauf bereits das Sozialgericht hingewiesen hat, insbesondere der behandelnde Neurologe H. im Verwaltungsverfahren mitgeteilt, dass eine dem medizinischen Standard entsprechende Therapie der Migräne (Prophylaxe mit Anjovy und Bedarfsarznei in der Attacke mit Sumatripin) und der Depression (Duloxetin) erfolge und es unter dieser Behandlung „schon zu einer Verbesserung der Symptomatik gekommen [sei]“ (Fragebogen vom 29.10.2021). Es solle allerdings „nun die zusätzliche [!] Behandlung mit Cannabinoiden“ versucht werden (Attest vom 01.07.2021). In ihrem vom Sozialgericht beigezogenen Befundbericht (vom 21.09.2022) hat auch die Hausärztin U. bestätigt, dass eine medikamentöse Standardtherapie zur Verfügung stehe. Dass andere Behandlungsversuche frustran verlaufen sein mögen, was die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat erneut betont hat, ist nach allem nicht ausschlaggebend.
B. verweist dagegen, wie das Sozialgericht ebenfalls bereits festgestellt hat, lediglich pauschal darauf, „alle“ üblichen Analgetika seien versucht worden, die Klägerin aber nicht ausreichend schmerzfrei einstellbar (Attest vom 14.03.2022). Die weiteren aktenkundigen Stellungnahmen des Facharztes für Allgemein- und für Innere Medizin G. (vom 25.09.2020) und des Facharztes für Innere Medizin J. (vom 20.08.2020) verhalten sich zur Verfügbarkeit von Standardtherapien dagegen gar nicht.
bb) Weiter fehlt es an der danach notwendigen begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes i.S.d. § 31 Abs. 6 S. 1 Nr. Nr. 1 Buchst. b SGB V.
Steht fest, dass für die Behandlung der Erkrankungen der Klägerin dem medizinischen Standard entsprechende, evidenzbasierte Leistungen zur Verfügung stehen, bedarf es einer begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes, warum diese Therapien unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustands dennoch nicht zur Anwendung kommen können. Dem behandelnden Vertragsarzt kommt insoweit eine Einschätzungsprärogative zu, an die begründete Einschätzung sind aber hohe Anforderungen zu stellen. Deshalb muss die begründete Einschätzung des Vertragsarztes die bestehenden Erkrankungen und bisher angewandten Behandlungskonzepte sowie das mit der Cannabis-Behandlung angestrebte Behandlungsziel benennen, die für die Abwägung der Anwendbarkeit verfügbarer Standardtherapien mit der Anwendung von Cannabis erforderlichen Tatsachen vollständig darlegen und eine Abwägung unter Einschluss möglicher schädlicher Wirkungen von Cannabis erkennen lassen (dazu zuletzt BSG, Urteil vom 20.03.2024 – B 1 KR 24/22 R –, Rn. 19 f.; grundlegend BSG, Urteil vom 10.11.2022, a.a.O. Rn. 24 ff.).
Vorliegend hat die Klägerin auf einen entsprechenden Hinweis des Senats (vom 30.01.2024) noch im Berufungsverfahren aber ausdrücklich mitgeteilt, die Arztpraxis B., die ihr das streitgegenständliche Cannabis (Cannabisblüten Bedrocan ®) verschreibt, werde keine entsprechende Verordnung erstellen; diese habe ihr gegenüber erklärt, dass die medizinischen Voraussetzungen für eine Verordnung von Cannabis vorlägen, ohne jedoch ein den formalen Anforderungen entsprechendes ärztliches Attest auszustellen.
cc) Auf die Vorlage einer begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes kann aus Rechtsgründen nicht verzichtet werden. Soweit die Klägerin geltend macht, die begründete Einschätzung i.S.d. § 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 Buchst. b SGB V sehe materiell-rechtliche Voraussetzungen vor, deren Vorliegen anhand eines Sachverständigengutachtens durch den Senat geprüft werden könne, entspräche dies nicht Sinn und Zweck der begründeten Einschätzung.
Der Gesetzgeber wollte die ärztliche Therapiefreiheit auch innerhalb der Vorgaben des Leistungsrechts der GKV stärken. Die Abwägung des Vertragsarztes, ob eine verfügbare Standardtherapie zur Behandlung der Erkrankung angewendet werden kann oder ob Cannabis zur Anwendung kommen soll, ist damit der Überprüfung durch Krankenkassen und Gerichte weitgehend entzogen; insoweit besteht eine Einschätzungsprärogative des Vertragsarztes (BSG, Urteil vom 10.11.2022, a.a.O. Rn. 25). § 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 Buchst. b SGB V stellt klar, dass es zwar auf die Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes ankommt, ob Cannabis die verbleibende Behandlungsalternative ist; die Beachtlichkeit seiner Einschätzung ist aber an das Erfordernis einer von ihm zu erbringenden Begründung gebunden, die eine Prüfung ihrer objektiven Grundlagen ermöglicht (BSG, a.a.O. Rn. 28). Die Einschätzungsprärogative der Vertragsärztin bzw. des Vertragsarztes und das Erfordernis einer begründeten Einschätzung gehen mithin Hand in Hand. Denn in der begründeten Einschätzung ist gerade die gründliche Abwägung niederzulegen, aufgrund derer der Vertragsarzt die Therapieentscheidung für eine Verordnung von Cannabis getroffen hat (so auch Urteil des Senats vom 05.06.2024 – L 10 KR 39/22 – <n.v.>). Durch die notwendige gründliche Abwägung aller therapeutischen Alternativen zur Cannabismedikation seitens des Vertragsarztes soll verhindert werden, dass der Patient eine allgemein anerkannte, wirksame Behandlungsmethode nicht nutzt, er vermeidbaren Gesundheitsgefahren ausgesetzt wird und die Gemeinschaft der Beitragszahler nicht mit Kosten für eine unwirksame oder den Patienten gefährdende Therapie oder mit Mehrkosten gegenüber einer verfügbaren Standardtherapie belastet wird (dazu BSG, a.a.O. Rn. 31).
dd) Angesichts dieses Regelungszwecks rechtfertigt auch das weitere Vorbringen der Klägerin, wonach B. sich aufgrund des damit verbundenen Aufwands außerstande sehe, eine begründete Einschätzung nach § 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 Buchst. b SGB V zu erstellen, ein solches Verhalten aber nicht zu Lasten der Versicherten gehen könne, keine Abweichung vom Erfordernis einer begründeten Einschätzung. Diese betrifft danach insbesondere nicht nur bloße Mängel "im Innenverhältnis" zwischen Krankenkasse und Vertragsarzt. Inwieweit der Vertragsarzt ggf. verpflichtet ist, eine begründete Einschätzung zu erstellen, ist zudem nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens.
ee) An dieser Rechtslage hat sich auch mit dem Cannabisgesetz vom 27.03.2024 (BGBl. I Nr. 109) nichts geändert. Zwar hat der Gesetzgeber damit Cannabis insbesondere aus dem Kreis der nicht verkehrsfähigen Betäubungsmittel gestrichen (Anl. I <zu § 1 Abs. 1 BtMG>, vgl. nunmehr insbes. §§ 2 f. KCanG, §§ 3 ff. MedCanG). Weiter hat die Klägerin mit Recht darauf hingewiesen, dass das Bundessozialgericht sich in seiner Rechtsprechung zu den Anforderungen an die begründete Einschätzung i.S.d. § 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 Buchst. b SGB V auch auf die Bestimmungen des BtMG gestützt hat (vgl. BSG, Urteil vom 20.03.2024, a.a.O. Rn. 20). Daneben hat es jedoch ausdrücklich auch auf die Vorgaben des Arzthaftungsrechts für die Behandlung mit einer (noch) nicht allgemein anerkannten medizinischen Behandlungsmethode sowie Gründe des Patientenschutzes abgestellt (a.a.O.). Die Legalisierung von Cannabis auf der einen und dessen Abgabe zu Lasten der GKV sind damit weiterhin zwei unterschiedliche Fragen, zumal der Gesetzgeber § 31 Abs. 6 SGB V im Rahmen der Cannabislegalisierung unberührt gelassen hat.
b) Der Anspruch ergibt sich auch nicht aus § 2 Abs. 1a SGB V, weil die Erkrankung der Klägerin zwar unstreitig schwerwiegend i.S.d. § 31 Abs. 6 S. 1 SGB V, jedoch nicht lebensbedrohlich oder regelmäßig tödlich oder einer solchen Erkrankung wertungsmäßig vergleichbar i.S.d. § 2 Abs. 1a SGB V ist. Letzteres setzte vielmehr voraus, dass beispielsweise der nicht kompensierbare Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion in naher Zeit drohte (vgl. dazu BSG, Urteil vom 24.01.2023 – B 1 KR 7/22 R –, Rn. 29 m.w.N. <st.Rspr.>).
c) Die Klägerin kann ihren Anspruch auf Versorgung mit Medizinal-Cannabis als Sachleistung auch nicht auf § 13 Abs. 3a S. 6 SGB V stützen, denn die sog. Genehmigungsfiktion verschafft den Versicherten keinen eigenständigen Sachleistungs-, sondern lediglich einen Kostenerstattungsanspruch (ausführlich dazu BSG, Urteil vom 26.05.2020 – B 1 KR 9/18 R –, Rn. 10 ff.; zu den Voraussetzungen der Genehmigungsfiktion i.Ü. sogleich 2).
2. Weil ihr nach allem kein Sachleistungsanspruch zusteht, scheidet auch ein Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs. 3 S. 1 SGB V aus. Weiter besteht auch kein Kostenerstattungsanspruch aufgrund einer Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs. 3a S. 7 SGB V. Danach ist die Krankenkasse, wenn Beschaffen sich Leistungsberechtigte nach Ablauf der maßgeblichen Bescheidungsfristen eine erforderliche Leistung selbst beschaffen, zur Erstattung der hierdurch entstandenen Kosten verpflichtet, zur Erstattung der hierdurch entstandenen Kosten verpflichtet. Diese Voraussetzungen sind indes nicht erfüllt.
a) Die Beklagte hat die maßgeblichen Fristen gewahrt. Einschlägig war insoweit die Fünfwochenfrist des § 13 Abs. 3a S. 1 Var. 1 SGB V, denn die Beklagte beabsichtigte, eine gutachtliche Stellungnahme des MDK einzuholen, und teilte dies der Klägerin gemäß § 13 Abs. 3a S. 2 SGB V auch bereits am 01.04.2021 mit. Die Ablehnungsentscheidung erging sodann unter dem 27.04.2021 und damit innerhalb von fünf Wochen nach Eingang des Antrages am 29.03.2021. Dass die Beklagte der Klägerin mit ihrer Zwischennachricht auch mitgeteilt hatte, dass die Entscheidung nach Eingang der Unterlagen bis zu fünf Wochen dauern könne und sie sich spätestens am 20.05.2021 wieder bei ihr melden werde, ist insoweit ohne Belang (vgl. § 13 Abs. 3a S. 5 Hs. 1 SGB V).
b) Die telefonische Bitte der Klägerin vom 24.06.2021 setzte keine neuen Bescheidungsfristen in Gang. Insbesondere lag in dieser telefonischen Bitte zur Überzeugung des Senats kein neuerlicher Antrag i.S.d. §13 Abs. 3a S. 1 SGB V, sondern allenfalls ein Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X. Denn ausweislich des von der Beklagten vorgelegten Telefonvermerks bat die Klägerin darin lediglich – offenbar den Hinweis der Beklagten aus dem Bescheid vom 27.04.2021 aufgreifend, wonach sie, sobald der Arzt H. die Unterlagen vorlege, „die Bearbeitung wiederaufnehmen [könne]“ –, den H. nochmals an die Auskunftserteilung zu erinnern. Die Richtigkeit dieses Telefonvermerks hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung auf Nachfrage des Senats bestätigt. Damit bezog sich die Bitte der Klägerin aber eindeutig auf ihren ursprünglichen Antrag vom 29.03.2021 (vgl. dazu BSG, Urteil vom 27.08.2019 – B 1 KR 14/19 R – Rn. 14, dort zum "Nachtrag" zu einem vorherigen Antrag). Der als Ausnahmeregelung eng auszulegende § 13 Abs. 3a SGB V erfasst aber schon nach seinem Wortlaut lediglich die Entscheidung der Krankenkasse über den Leistungsantrag, denn die Fristen laufen ab Antragseingang (§ 13 Abs. 3a S. 1 SGB V). Zweck des § 13 Abs. 3a SGB V ist es überdies, die Bewilligungsverfahren bei den Krankenkassen zu beschleunigen und damit eine schnelle Klärung der Leistungsansprüche herbeizuführen. Dieser Zweck ist mit der Entscheidung der Krankenkasse über den Leistungsantrag innerhalb der ab Antragstellung laufenden Frist erreicht (vgl. BSG, Urteil vom 24.04.2018 – B 1 KR 10/17 R – Rn. 9, dort zur Entscheidung über einen Widerspruch).
c) Soweit die vorgelegten Kassenbelege Einkäufe aus Zeiten vor Antragstellung bei der Beklagten betreffen, scheidet ein Kostenerstattungsanspruch überdies auch schon deshalb aus, weil § 13 Abs. 3a S. 7 SGB V einen solchen Anspruch ausdrücklich nur Leistungen gewährt, die Versicherte sich „nach Ablauf der Frist“ selbst beschaffen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 Abs. 1 SGG.
Anlass, gemäß § 160 Abs. 2 SGG die Revision zuzulassen, besteht nicht.