Der Bescheid der Beklagten vom 23.09.2021 in Fassung des Widerspruchsbescheides vom 07.04.2022 wird aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung im gesetzlichen Umfang ab 01.06.2021 zu gewähren.
Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
Tatbestand
Streitig ist eine Rente wegen Erwerbsminderung. Die 1959 geborene Klägerin war zuletzt regulär als Bäckereifachverkäuferin beschäftigt und beantragte am 01.06.2021 bei der Beklagten eine Erwerbsminderungsrente.
Die Beklagte zog diverse medizinische Unterlagen bei und lehnte mit Bescheid vom 23.09.2021 den Antrag der Klägerin ab. Dagegen legte diese am 05.10.2021 Widerspruch ein. Mit Widerspruchsbescheid vom 07.04.2022 wurde der Widerspruch als unbegründet zurückgewiesen, da nach dem Ergebnis der medizinischen Ermittlungen bei der Klägerin noch ein Leistungsvermögen für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes (leichte bis mittelschwere Arbeiten mit weiteren Einschränkungen) für mindestens 6 Stunden täglich vorliege. Im Hinblick auf einen möglichen Rentenanspruch wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit verwies die Beklagte die Klägerin, ausgehend von dem bisherigen Hauptberuf als Verkaufsfahrerin für Backwaren, auf die Tätigkeit als Kassiererin im Einzelhandel.
Hiergegen hat die Klägerin am 20.04.2022 Klage erhoben.
Sie führt an, dass aufgrund der Gesamtheit der diagnostizierten Erkrankungen eine Arbeitsfähigkeit nicht mehr gegeben sei.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 23.09.2021 in Fassung des Widerspruchsbescheides vom 07.04.2022 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin Rente wegen voller, hilfsweise teilweiser Erwerbsminderung, hilfsweise teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit ab Antragstellung in gesetzlichem Umfang zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte verweist auf ihre Bescheide.
Das Gericht hat Befundberichte von R, R1, V, B, Z und J beigezogen. Ferner wurden ein psychiatrisch-psychosomatisches Gutachten bei B1 und ein orthopädisches Zusatzgutachten bei A eingeholt.
Nach dem Gutachten von A vom 28.09.2022 bestehen auf orthopädischem Fachgebiet folgende Gesundheitseinschränkungen:
- Funktions- und Belastungseinschränkungen der Hals-, Brust-, und Lendenwirbelsäule bei Thorakolumbalskoliose mit sekundären degenerativen Veränderungen, vor allem im Bereich der Lendenwirbelsäule mit zeitweise pseudoradikulärer Schmerzausstrahlung in das linke Bein ohne neurologische Ausfallsymptomatik - mittel
- Belastungseinschränkung beider Kniegelenke bei beginnender Gon- und Retropatellararthrose – leicht
Die Klägerin könne noch leichte Arbeiten 6 bis 8 Stunden täglich an 5 Tagen in der Woche ausführen ohne Arbeiten mit schwerem Heben und Tragen von Lasten (Einzelhebebelastung 10 kg, Mehrfachhebebelastung 3 bis 5 kg ), Arbeiten mit ständigem Stehen sowie ständiger Wirbelsäulenzwangshaltung (Bücken, Oberkörpervorbeuge-, Überkopfarbeiten), Arbeiten mit Stauchung und Vibration der Wirbelsäule, Arbeiten mit Absturzgefahr auf Leitern und Gerüsten, Arbeiten mit ständigem Hocken, Knien sowie gehäuftem Treppensteigen verrichten.
Nach dem Gutachten von B1 vom 16.12.2022 bestehen folgende Gesundheitsstörungen:
Auf psychiatrisch-psychosomatischen Fachgebiet:
Symptomdiagnosen:
- Mittelgradige, depressive, agitierte, somatisierte Depression (ICD 10: F 32.1)
- Angstzustände vor einem neuen Herzinfarkt, sonstige phobische Störung (ICD 10: F 40.8)
- Nikotinabhängigkeit (10 Zigaretten pro Tag), (ICD 10: F 17.24)
- Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, (ICD 10: F 45.41)
Strukturdiagnose:
- Altruistisch-pflichtbewusste Bildung der Persönlichkeit mit reduzierter individueller Belastbarkeit und Kompensationsfähigkeit der Struktur
körperliche Diagnosen im Übrigen (übernommen)
- Leicht- bis mittelgradige bewegungs- und belastungsabhängige Schmerzen und Funktionsstörungen der Knie links, der Hände beidseits (Polyarthrose), der Wirbelsäule, schwere S-förmige Skoliose (thorako-lumbal), kein Hinweis auf sensomotorisches Defizit
- Zustand nach Herzinfarkt in 6/2022, 3- Gefäßerkrankung (2 Stentsetzungen), weiterhin gute linksventrikuläre Funktion
- Arterielle Hypertonie und hypertensive Herzerkrankung
- Schilddrüsenfunktionsstörung, mit Schilddrüsenmedikamenten gebessert,
Das Gutachten kommt zu dem Schluss, die Klägerin sei nur noch in der Lage, leichte Arbeiten unter 3 Stunden täglich mit den von dem orthopädischen Zusatzgutachter genannten Funktionseinschränkungen, ohne Akkord- und Nachtarbeit, ohne Gefährdung durch Reizstoffe und Witterungseinflüsse, mit unterdurchschnittlicher nervlicher Belastung, unterdurchschnittlichem Arbeits- und Zeitdruck und unterdurchschnittlichem Konzentrationsvermögen auszuführen.
Dem Gericht liegen ferner die ergänzenden Stellungnahmen von A vom 6.12.2022 sowie von B1 vom 04.01.2023, 28.03.2023 und 05.04.2024 vor.
Wegen Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozess- und Beklagtenakten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung waren.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig.
Die Klage ist auch begründet, denn die angegriffenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat Anspruch auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung.
Gemäß § 43 Abs. 2 Satz 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie
1. voll erwerbsgemindert sind,
2. in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Tätigkeit oder Beschäftigung entrichtet haben und
3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen gelten in gleicher Weise für eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung und sind erfüllt.
Voll erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Die medizinischen Anspruchsvoraussetzungen für eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung nach § 43 Abs. 1 SGB VI erfordern, dass ein Versicherter nicht mindestens 6 Stunden täglich einsatzfähig ist. Ergänzend führt § 43 Abs. 3 SGB VI aus, dass nicht erwerbsgemindert ist, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig sein kann, wobei die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen ist.
Die Klägerin leidet unter Erkrankungen auf internistischem, orthopädischem und psychiatrisch-psychosomatischem Fachgebiet, die länger als 6 Monate bestehen und einen leistungsmindernden Dauereinfluss auf die Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben haben. Auf die in den Gutachten angeführten Diagnosen und beschriebenen Leistungseinschränkungen wird verwiesen.
Die Kammer hat keine Zweifel, dass die Sachverständigen die medizinischen Befunde zutreffend erhoben und aus ihnen die richtigen sozial-medizinischen Schlussfolgerungen gezogen haben. Die von den Sachverständigen gezogenen Schlussfolgerungen entsprechen auch den allgemein anerkannten Begutachtungsmaßstäben. Der grundsätzlichen Kritik des sozialmedizinischen Dienstes der Beklagten an den Feststellungen des Gutachters B1 insbesondere der integrierenden Würdigung der somatischen Befunde (einschließlich der Feststellungen des orthopädischen Zusatzgutachters) und der dabei verwendeten Methoden und Bewertungsmaßstäbe folgt die Kammer nicht.
Der Gutachter bewertet die Auswirkungen der gesundheitlichen Beeinträchtigungen unter Integration der nach den einschlägigen Leitlinien zu erhebenden umfangreichen Gesichtspunkte, wobei hierzu die erhobenen bzw. mitgeteilten medizinischen Befunde und im Sinne einer umfassenden Konsistenzprüfung nicht nur Beschwerdevalidierung und Konsistenzprüfung im Hinblick auf die mitgeteilten Beschwerden und Alltagsaktivitäten, sondern auch eine Einschätzung der Persönlichkeitsstruktur, des bisherigen Behandlungs- und Krankheitsverlaufs sowie Prognosekriterien zählen. Diese Gesichtspunkte werden in Anlehnung an den Beschwerdevalidierungsscore BSS nach Schepank und den Mini ICF im Hinblick auf den Leistungsfähigkeitsstatus integrierend gewürdigt. Beim Beeinträchtigungs-Schwere-Score (BSS) handelt es sich um ein theorieunabhängiges Experten-Ratingverfahren, mit dem die Beeinträchtigung eines Menschen durch seine psychogene Erkrankung eingeschätzt werden kann. Die Einschätzung der Beeinträchtigungsschwere erfolgt auf drei zentralen Dimensionen mit jeweils fünf Skalenstufen: (1) körperliche Beeinträchtigung, (2) Beeinträchtigung im psychischen Bereich und (3) sozialkommunikative Beeinträchtigung, d. h. auf einer zwischenmenschlichen oder Verhaltensdimension. Der Summenwert ergibt den Schweregrad (zw. 0 und max. 12), die Punktwerte der drei Dimensionen ergeben ein Profil der Beeinträchtigung.
Der BSS wurde zwar für andere Zwecke konzipiert, insbesondere zur Einschätzung der Behandlungsbedürftigkeit psychischer Erkrankungen, und im Hinblick auf das Behandlungssetting und epidemiologisch-medizin-soziologische Forschungen (vgl. H. Schepank: Psychogene Erkrankungen der Stadtbevölkerung. Springer 1987), entwickelt, er ist mit entsprechenden Modifikationen - insbesondere Einbeziehung der somatisch begründeten Fähigkeitseinschränkungen und Leistungslimitierungen und einem auf die Anforderungen des allgemeinen Arbeitsmarktes angepassten Bewertungsscore- auch ein geeignetes Instrument bei der Bewertung der Leistungseinschränkungen.
Erforderlich zur Leistungsfeststellung ist eine wertende Gesamtbetrachtung, da es der Komplexität der Leistungseinschränkung nicht gerecht würde, nur aufgrund jeweils einzelner Elemente z.B. einer Auffälligkeit des Ergebnisses eines Beschwerdevalidierungstests oder einer Diskrepanz zwischen der Selbsteinschätzung nach dem Beck-Depressions-Inventar und dem Untersuchungsbefund in der Begutachtungssituation, zu einer Leistungseinschätzung zu gelangen. Erforderlich ist es vielmehr, aufgrund aller verwertbaren Gesichtspunkte zu einem kohärenten Gesamtbild zu kommen, das geeignet ist, eine der richterlichen Überzeugung vergleichbare Überzeugung des Sachverständigen zu begründen, die im weiteren gerichtlichen Verfahren überprüft und rational diskutiert werden kann. Für die erforderliche integrierende Gesamtwürdigung stellt die modifizierte Anwendung des BSS nur ein, wenn auch zentrales Instrument dar. Die von B1 gewählte Vorgehensweise bei der Ermittlung des Leistungs- und Fähigkeitsstatus wird von der Kammer für überzeugend und hinreichend transparent erachtet, da sie durch explizite Würdigung der einzelnen Gesichtspunkte einen rationalen Diskurs über die getroffene Leistungseinschätzung ermöglicht, d.h. sie ist rational kritisierbar, auch wenn bei den einzelnen Bewertungsschritten jeweils ein Erfahrungswissen zum Tragen kommt, das nicht in jedem Fall umfassend explizierbar ist. Eine Bewertung, die ohne methodische Grundlagen im Bereich der Würdigung subjektiven Erlebens, wie dem Schmerzgeschehen, allein unter Verweisung auf Autorität oder Erfahrungswissen des Gutachters zu einer Leistungseinschätzung kommt, ist einer Überprüfung im gerichtlichen Verfahren nicht zugänglich und erfüllt demgegenüber nicht die Begründungsanforderungen an ein sozialmedizinisches Gutachten, insbesondere bei der Bewertung der Auswirkungen des Schmerzerlebens bei Erkrankungen mit psychischen und somatischen Faktoren (vgl. SG Nordhausen, Urteil vom 26. Oktober 2023 – S 20 R 1313/20 –, Rn. 38 - 40, juris).
Gegen diese bisherige Einschätzung der 20. Kammer sind von der Beklagten Einwendungen hinsichtlich der verwendeten Methoden des Gutachters als auch der korrekten Anwendung dieser Methoden erhoben worden, die allerdings nicht zu überzeugen vermögen. Hinsichtlich der Einzelheiten des Vortrags wird dabei auf die umfangreichen Schriftsätze der Beklagten sowie die Bekundungen im Erörterungstermin vom 16.11.2023 durch den Beratungsarzt N verwiesen, mit denen sich die Kammer bei der Entscheidungsfindung auseinandergesetzt hat. Zum Teil sind diese Einwände der Sache nach in einer Reihe von anderen Verfahren erhoben worden, in diesem Verfahren jedoch umfassend, wobei durch Nachfragen des Gerichts auf eine Präzisierung des Vortrags hingewirkt wurde.
Aus Sicht der Kammer lässt sich die Argumentation der Beklagten wie folgt in vier Themenbereiche gliedern:
Die Einwendungen beziehen sich auf die Art der Befunderhebung und / oder ihre Dokumentation (a) sowie gegen das Bewertungsverfahren als solches. Letzteres wird als intransparent und nicht operationalisierbar (b) kritisiert. Darüber hinaus werden Legitimität und Legalität (c) einer solchen Vorgehensweise in Abrede gestellt. Schließlich wird die Bewertung immanent bezogen auf das eigene Bewertungsschema als widersprüchlich kritisiert d).
Zu a) – Vorwurf der unzureichenden Befunderhebung:
Durch den Gutachter ist klargestellt worden, dass er bei der Erhebung des psychiatrischen Befundes das AMDP-System verwendet, bei dem es sich in wesentlichen Teilen um ein Fremdbeurteilungssystem handelt. Im Erörterungstermin vom 16.11.2023 wurde seitens des Beratungsarztes der Beklagten, N, die vorher schriftlich geäußerte Kritik zunächst nicht mehr aufrecht erhalten, in weiteren schriftlichen Stellungnahmen jedoch wiederholt.
Das AMDP-System besteht aus einem Glossar psychopathologischer Symptome (dem AMDP-Manual, mehreren Rating-Bögen (psychischer Befund, somatischer Befund, Anamnese), welche die standardisierte Erfassung eines Befundes ermöglichen sollen. Im Rahmen der Gutachtenerstellung wird in der Regel das AMDP eingesetzt, um den psychopathologischen Befund sprachlich zu beschreiben. Dabei dient das AMDP als Glossar, um die Bezeichnungen im Befund zu standardisieren.
In dem Gutachten von B1 wird bei der Schilderung des psychischen Befundes die Begrifflichkeit des AMDP-Systems verwendet. Deutlich wird auch, dass der Befund insoweit von dem Selbstbeurteilungsinstrument des BDI- II abgegrenzt wird. Angaben aus diesem Selbstbeurteilungsinstrument werden also gerade nicht, wie von Beklagtenseite wohl suggeriert, aus dem BDI-II einfach übernommen. Vielmehr erfolgt eine Fremdbeurteilung, die zwar die Angaben des Probanden berücksichtigt, diese aber auch aufgrund der Verhaltensbeobachtung in der Untersuchungssituation bewertet und einordnet. Schon aus der Gliederung des Gutachtens selbst ergibt sich, dass Grundlage des mitgeteilten Befundes eine Verhaltensbeobachtung ist. Hinzu kommt im nächsten Punkt die Mitteilung der Ergebnisse der angewandten Testdiagnostik, bei der das Selbstbeurteilungsinstrument des BDI-II nur eines der Instrumente ist. Hinzu kommen standardmäßig auch Validierungstests wie der SFSS und BEVA. Im Rahmen der Befunderhebung wird vom Gutachter B1 dabei, wie von anderen Gutachtern, das Ergebnis der Befunderhebung mitgeteilt, wobei diese Mitteilung auch Begründungselemente enthält. Dies unterscheidet die Darstellung in dem Gutachten von B1 nicht von der Darstellung der Befunde in anderen Gutachten, Reha-Entlassungsberichten oder Arztbriefen beziehungsweise Entlassungsberichten psychiatrischer Kliniken. Dies ist nicht verwunderlich, denn der Befund stellt definitionsgemäß das Ergebnis der psychiatrischen Untersuchung dar. (Vergleiche Berger, Psychische Erkrankungen- Klinik und Therapie, 5. Auflage München 2015 Seite 17 ff., 23). Zur Befunderhebung gehören die Erfassung der soziodemografischen Daten, die Erfassung der Krankheitsanamnese (aktuell somatische und psychische Anamnese, somatische und psychische Vorgeschichte, Familienanamnese, Biografie und Lebensgeschichte, Beurteilung der sozialen Situation, Erfassung somatischer Befunde, die Beurteilung der aktuellen und prämorbiden Persönlichkeit sowie schließlich der psychopathologische Befund selbst. (Berger a.a.O. S.20). Diese Informationen werden unter Punkt 2 des Gutachtens erhoben und ausführlich mitgeteilt.
Zu b) - Vorwurf der fehlenden Operationalisierbarkeit der vom Gutachter verwendeten Methode:
Hier ist zunächst zu klären, auf welcher Problemstellung die Forderung nach Operationalisierbarkeit beruht (bb), welche Maßstäbe anzulegen sind (cc) und worauf die Kritik der Beklagtenseite mit der Forderung nach Operationalisierbarkeit zielt bzw., was nicht gemeint ist (aa). Die vorgenommene Operationalisierung muss dabei den von der Rechtsprechung konkretisierten gesetzlichen Maßstäben entsprechen (dd) und dem aktuellen gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisstand entsprechen (ee). Diese Anforderungen können aber sowohl unter den praktischen Rahmenbedingen als auch theoretisch nur näherungsweise erfüllt werden und erfordern, wie dies auch in den Leitlinien der Beklagten zum Ausdruck kommt, ein pragmatisches Vorgehen mit problemadäquaten Maßstäben (ff).
aa) - Zur Zielrichtung der Kritik:
Soweit auf das Instrument der Operationalisierten Psychiatrischen Diagnostik (OPD) abgestellt wurde, das von der Beklagten im Erörterungstermin eingeführt wurde, ist von Beklagtenseite später schriftsätzlich klargestellt worden, dass die Verwendung dieses Instruments für die Leistungsfeststellung nicht gefordert wurde. Es ist angesichts der Methodenvielfalt und auch der verschiedenen konzeptionellen Ansätze bei Bewertung und Therapie psychischer Störungen weder rechtlich noch wissenschaftlich geboten. Vielmehr ist im Rahmen der Gewährleistung der allgemeinen Anforderungen an eine evidenzbasierte wissenschaftliche Begründung im Bereich der Diagnostik psychischer Störungen von einer einstweilen legitimen Methodenvielfalt auszugehen.
bb) - Zum Problemhintergrund der Forderung nach Operationalisierung:
Tatsächlich ist die Diagnostik und Bewertung psychischer Störungen in mehrfacher Hinsicht mit besonderen Anforderungen und Schwierigkeiten verbunden. Die Leitlinien für die sozialmedizinische Begutachtung > Sozialmedizinische Beurteilung bei psychischen und Verhaltensstörungen> August 2012 incl. Update 2018 nennen z.B.
- Kriterien für die Begutachtung von Menschen mit psychischen Störungen im Auftrag der gesetzlichen Rentenversicherung müssen insbesondere die Funktionen und Aktivitäten berücksichtigen, die für die Teilhabe am Erwerbsleben maßgeblich sind. Eine umfassende und klar abgrenzende Darstellung der Begutachtungskriterien, ihres Zusammenwirkens und ihrer Gewichtung im Einzelfall ist bei psychischen und Verhaltensstörungen oft deutlich schwieriger als bei somatischen Krankheiten. Zudem sind motivationale Aspekte auf Seiten des Probanden zu beachten.
- Reaktionen des Gutachters auf den verbalen und nonverbalen Ausdruck des zu Begutachtenden wie unbewusste, aber auch bewusste Gefühle, Erwartungen, Fantasien, Wünsche, Vorurteile und körperliche Reaktionen, ausgelöst durch den Patienten und determiniert durch die eigene psychosoziale Entwicklung des Gutachters, wobei vor allem frühe Beziehungserfahrungen eine wichtige Rolle spielen. Dieser Einfluss bleibt den Beteiligten häufig unbewusst und ist bezüglich der möglichen Auswirkungen nicht zu unterschätzen. Affekte wie Empörung und Antipathie, aber auch Mitleid oder Zuneigung können sich - sofern unreflektiert - im Ergebnis der Begutachtung niederschlagen und dieses verzerren. Es ist daher gerade in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Begutachtung von großer Bedeutung, dass der Gutachter um Gegenübertragungsphänomene weiß und mit diesen selbstreflektierend umgeht. Beispielsweise kann bei Begutachtungen im Rahmen von Anträgen auf Erwerbsminderungsrente die Gefahr unreflektiert-aversiver Reaktionen seitens des Gutachters bestehen, wenn der Proband aufgrund bestimmter Persönlichkeitseigenschaften oder Verhaltensweisen negative Affekte beim Gutachter auslöst, deren Zusammenhang mit der eigenen Biografie und Prägung diesem nicht bewusst sind. Hier könnte der Gutachter versucht sein, dem Probanden eine Täuschung nachzuweisen und dafür „Indizien” zu suchen, ohne hierbei den unbewussten Konflikt aus der nötigen Distanz wahrzunehmen.
Hinzu kommt: Sowohl in rechtlicher als auch medizinisch-psychiatrischer Sicht muss eine Einordnung des Sachverhalts auf theoretische Konstrukte erfolgen.
- Solche Konstrukte, die sich nicht auf unmittelbar sinnlich gegebene bzw. wahrnehmbare Gegenstände erstrecken, stellen z.B. Diagnosen, insbesondere die ICD oder DSM Diagnosen, dar. Gerade anhand der verschiedenen Begrifflichkeiten in den unterschiedlichen Versionen dieser Manuals wird deutlich, dass es sich hierbei um Konstrukte handelt. Alte Diagnose(-systeme) werden revidiert und verworfen und neue nach dem aktuellen evidenzbasierten Forschungsstand und einem Verfahren zur wissenschaftlichen Konsensbildung aufgenommen (vgl. hierzu anschaulich: Frances, Normal, Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen, Köln 2013). Dies gilt genauso für Diagnosekriterien.
- Relevante theoretische Konstrukte rechtlicher Art sind z.B. Begriffe wie „zumutbare Willensanspannung“.
Die Forderung nach Operationalisierbarkeit des sozialmedizinischen Dienstes der Beklagten lässt sich daher anhand folgender dem Eintrag Operationalisierung in Wikipedia entnommener Definition illustrieren.
Die Operationalisierung oder Messbarmachung legt fest, wie ein theoretisches Konstrukt (z. B. Schwerkraft, Intelligenz oder Gerechtigkeit) beobachtbar und messbar gemacht werden soll. Sie hat in allen empirisch arbeitenden Wissenschaften eine große Bedeutung, da sie die Grundlage dafür ist, Messungen durchführen zu können. Wichtig ist eine geeignete Operationalisierung etwa bei der Prüfung von Hypothesen. Das Ergebnis einer empirischen Untersuchung kann wesentlich von der Wahl der Operationalisierung abhängen. Daher müssen Indikatoren (Antworten auf Testfragen) bzw. Operationalisierungen in der Wissenschaft drei wesentliche Qualitätskriterien erfüllen:
- Objektivität bzw. intersubjektive Nachvollziehbarkeit
- Reliabilität (Zuverlässigkeit)
- Validität (Gültigkeit)
cc) - Maßstäbe und Grenzen:
Leitlinien, Diagnosesysteme und standardisierte Tests sollen den Entscheidungsprozess operationalisieren. Hierbei ist jedoch zu bedenken, dass im Bereich medizinischer Diagnostik im Allgemeinen und der psychiatrischen Diagnostik im Besonderen die Operationalisierung zwar dazu beiträgt, die oben genannten Qualitätskriterien zu erfüllen, dies jedoch nur näherungsweise möglich ist (vgl. hierzu Kahneman, Sibony, Sunstein, Noise - Was unsere Entscheidungen verzerrt und wie wir sie verbessern können, insbes, Kapitel 22: Leitlinien in der Medizin, S.314: „Hauptgrund für den begrenzten Erfolg der Leitlinien scheint zu sein, dass in der Psychiatrie die diagnostischen Kriterien einiger Störungen noch immer vage und schwer zu operationalisieren sind.“).
Auch die Anwendung operationalisierter Diagnosesysteme knüpft an eine entsprechende praktisch-klinische Ausbildung und das darin erworbene Erfahrungswissen an. Dies kommt methodisch in den Diagnosesystemen selbst zum Ausdruck, die bestimmte Feststellungen oder Wertungen durch sogenannte Ankerbeispiele erläutern. Dies gilt zum Beispiel für BSS nach Schepank oder auch den Mini-ICF. (Vgl. hierzu Schepank, Psychogene Erkrankungen der Stadtbevölkerung, Eine epidemiologisch tiefenpsychologische Feldstudie in Mannheim, Berlin-Heidelberg 1987, S.319f, Linden, Baron, Muchalla, Ostholt-Corsten, Fähigkeitsbeeinträchtigungen bei psychischen Erkrankungen, Diagnostik, Therapie und sozialmedizinische Beurteilung in Anlehnung an das Mini ICF.APP, 2 Aufl. Bern, 2022, S.94: „Da die ICF kein Messinstrument sind, sollten Operationalisierungen vorgenommen werden, die eine reliable Erfassung ermöglichen. Es werden verhaltensnahe Ankerdefinitionen vorgegeben“).
Daher kommt der Befunderhebung durch einen erfahrenen Sachverständigen eine besondere Bedeutung zu. Um für die Beurteilung auf das dafür notwendige Erfahrungswissen, das in intuitiven Erkennen von Regelmäßigkeiten besteht, zurückgreifen zu können, muss der Beurteiler zuvor die Gelegenheit gehabt haben, diese Regelmäßigkeiten durch eine langjährige Übung zu erlernen (Kahnemann, Schnelles Denken, Langsames Denken, München 2012 S. 296). Zu Recht führt die oben zitierte Leitlinie der Beklagten auch aus: „Die ICF und darauf basierende Assessments können den Begutachtungsprozess zwar unterstützen, ersetzen jedoch nicht die sozialmedizinische Kompetenz und gutachterliche Erfahrung.“
Die notwendige Anwendung von (implizitem) Erfahrungswissen in der Begutachtungssituation hat auch zur Folge, dass die Anforderungen an Begründung und Nachweis der Bewertung nicht überzogen werden dürfen. Es wäre von der Beklagten unredlich, im Rahmen gerichtlich bestellter Gutachter höhere Dokumentationspflichten und Begründungerfordernisse zu verlangen als sie bei der Entscheidung in ihrer eignen Verwaltungspraxis zugrunde legt.
dd) - Zur Operationalisierung rechtlicher Maßstäbe:
Das gleiche gilt für die Maßstäbe, die für die Feststellung einer Erwerbsminderung anzulegen sind. Dies wird an dem Verständnis der Beklagten des zentralen Begriffs der zumutbaren Willensanspannung deutlich. Hierzu führt die o.g. Leitlinie der Beklagten (zutreffend) aus: (S.54 f) „Die „zumutbare Willensanspannung“ ist ein ursprünglich aus der Rechtsprechung stammendes Konstrukt. Dahinter steht eine prognostische Aussage im Hinblick auf ein spezifisches Ziel, beispielsweise die Fortführung oder Aufnahme einer Erwerbstätigkeit. Letztlich geht es um die Abgrenzung zwischen „Können“ und „Wollen.“ Der Begriff „Willenskraft“ steht hier unter anderem für die aktive und motivierte Durchführung Erfolg versprechender Behandlungen und für gesundheitsförderliche Eigeninitiative in ausreichender Intensität und Dauer mit dem Ziel der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit. Gerade bei psychiatrisch-psychotherapeutischen Begutachtungen klaffen die Auffassungen bezüglich dessen, was - bei entsprechender Motivation - noch zumutbar sei, zwischen Gutachter und Begutachtetem nicht selten auseinander. Die gutachterliche Problematik liegt in der mangelhaften Operationalisierung des Begriffs der „zumutbaren Willensanspannung“. „Zumutbare Willensanspannung“ ist letztlich nicht objektiv messbar. Ihre Ausprägung hängt unter anderem von
• störungsspezifischen und
• persönlichkeitsstrukturellen Faktoren sowie
• von individueller Erfahrung und
• gesellschaftlichen Konventionen ab.“
Ebenfalls ein Konstrukt stellt der Begriff des allgemeinen Arbeitsmarktes dar. Dieser ist problematisch, weil er durch die Rechtsprechung bisher nicht positiv, sondern nur negativ definiert ist. Die negative Definition ist überdies im Hinblick auf die „Summierungsrechtsprechung“ prinzipiell offen. (Sellnick: Erwerbsminderung – Summierung von Leistungseinschränkungen und allgemeiner Arbeitsmarkt – Anmerkung zu BSG, Urteil vom 11. Dezember 2019 – B 13 R 7/18 R; Beitrag A16-2020 unter www.reha-recht.de; 18.06.2020).
Eine eindeutige Festlegung des Begriffs der aufgehobenen Erwerbsfähigkeit wird auch nicht durch das von der oben genannten Leitlinie empfohlene Instrument des Mini-ICF-APP gewährleistet. Dieses Instrument strukturiert zwar die Darstellung der für die Feststellung der Erwerbsminderung wichtigen Kriterien, bietet als Orientierung allerdings lediglich den Maßstab der verschiedenen Beschäftigungen in einem Hotel an. Unklar bleibt insoweit, auf welche Tätigkeiten genau Bezug genommen wird, welches Berufsbild dort jeweils zugrunde gelegt wird, wie das Anforderungsprofil definiert ist und bei welcher Einschränkung der jeweiligen Fähigkeitsdimension davon ausgegangen werden kann, dass eine entsprechende Leistungsfähigkeit nicht mehr gegeben ist. Daher ist wie bei Benennung eines Verweisungsberufs zu fordern, dass die Verweisung hinreichend konkret ist, um einerseits dem Rentenantragsteller eine Orientierung für eine konkret anzustrebende berufliche Tätigkeit zu geben und andererseits im gerichtlichen Rechtsschutz eine Überprüfung der Angemessenheit der Verweisungstätigkeit zu ermöglichen. Deshalb ist erforderlich, dass eine konkrete Bezeichnung der benannten Tätigkeit i.S. eines feststehenden Begriffs existiert, die die geforderte Überprüfung und Orientierung zulässt; d.h., dass eine Subsumtion der Tätigkeitsbeschreibung und der Anforderungen unter den Begriff der benannten Tätigkeit möglich ist. (SG Nordhausen, Urteil vom 18. Januar 2024 – S 20 R 28/20 –, juris). Es muss ein typischer Arbeitsplatz benannt werden, einzelne Arbeiten oder Arbeitsvorgänge anzugeben, genügt nicht. Die typisierende Beschreibung des Arbeitsinhalts muss erkennen lassen, welche Anforderungen an das Leistungsvermögen sowie an die Kenntnisse und Fähigkeiten der Versicherten gestellt werden. (SG Nordhausen, Urteil vom 15. Dezember 2022 – S 20 R 1915/18 –, Rn. 29, juris)
Der Mini-ICF liefert so zwar ein Beschreibungsschema für erwerbstätigkeitsrelevante Fähigkeitsdimensionen und stellt somit einen Fortschritt im Hinblick auf Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Bewertung dar, ist aber als solcher keine hinreichende Operationalisierung des Begriffs der Erwerbsfähigkeit.
ee) - Zum wissenschaftlichen Diskussionsstand:
Tatsächlich hat der Gutachter sein methodisches Vorgehen im Rahmen einer umfangreichen Begutachtungstätigkeit in Anlehnung an den BSS-Schwerescore von Schepank entwickelt und auch der Fachöffentlichkeit präsentiert (vgl. hierzu: Bornhütter, Psychische Erkrankungen als Grund der Erwerbsminderung - Die „zumutbare Willensanstrengung“ oder der Psyche ausgeliefert sein, Sozialrecht aktuell, Sonderheft 2018 S.47ff). Da insoweit weder rechtliche Vorgaben noch ein wissenschaftlicher Konsens für ein leistungsfähigeres methodisches Vorgehen ersichtlich ist, wurde das Vorgehen des Gutachters in einer Vielzahl von Fällen von verschiedenen Gerichten unterschiedlicher Instanzen als Entscheidungsgrundlage akzeptiert und somit für zulässig erachtet. Hinzuweisen ist insoweit auch darauf, dass auch der Sozialmedizinische Dienst der Beklagten selbst diese Methode jedenfalls dann akzeptiert hat, wenn das Gutachten für die Kläger negativ ausfiel.
ff) - Zum Erfordernis eines pragmatischen Vorgehens und eines entsprechenden Maßstabs:
Das Vorgehen des Gutachters erleichtert eine zusammenfassende Bewertung, wobei er sich nicht allein auf dieses Schema stützt, sondern zur Kontrolle u.a. eine Analyse der Fähigkeitsdimensionen des Mini-ICF APP vornimmt, die auch den Vergleich dieser Feststellungen (z.B. im Hinblick auf das Durchhaltevermögen) auf die Anforderungen des allgemeinen Arbeitsmarktes dient. Damit wird im Ergebnis ein höherer Grad der Transparenz des Zustandekommens der Leistungsbewertung erreicht, als dies in aller Regel der Verwaltungspraxis der Beklagten entspricht.
So lange kein wissenschaftlicher Konsens, z.B. aufgrund weiterer wissenschaftlicher Erforschung des Verhältnisses von Fähigkeitsprofil und Erwerbstätigkeitschance erzielt wird, der von der Rechtsprechung mitgetragen wird und eine weitere Konkretisierung auch nicht durch den Gesetz- bzw. Verordnungsgeber erfolgt, bleibt nur ein pragmatisches Vorgehen. Einem solchen pragmatischem Vorgehen, das auch von der DRV gefordert wird, entspricht die Methodik des Gutachters. Das Vorgehen wird von der oben zitierten Leitlinie wie folgt charakterisiert (S.56): „Der pragmatische Umgang mit dem Problem der „zumutbaren Willensanspannung“ stellt sich folgendermaßen dar: Wenn sich ein Proband nicht mehr leistungsfähig fühlt, muss der Gutachter zunächst feststellen, ob dieser subjektiven Angabe überhaupt eine psychische Störung zu Grunde liegt, einschließlich der Abgrenzung gegenüber Simulation. Hat der Gutachter eine psychische Störung diagnostiziert, muss er die bestehende Symptomatik beschreiben und quantifizieren, unter Berücksichtigung von möglicher Verdeutlichung, Aggravation oder Dissimulation. Schließlich muss der Gutachter die resultierenden Beeinträchtigungen der Aktivitäten und Teilhabe (am Erwerbsleben) präzise und möglichst konkret darstellen.
Wenn ein Proband hingegen aufgrund einer psychischen Störung die Hemmungen oder Barrieren, die einer Arbeitsaufnahme entgegenstehen, mit „zumutbarer Willensanspannung“ nicht mehr überwinden kann, muss das Leistungsvermögen als aufgehoben betrachtet werden, unabhängig von einem unter Umständen zeitlich uneingeschränkten körperlichen Leistungsvermögen.“
„Die sozialmedizinische Beurteilung kann sich jedoch nicht nur auf den aktuellen psychischen Befund stützen, sondern muss in der Zusammenschau aller erhobenen Befunde und Informationen erfolgen, auch unter Berücksichtigung des Längsschnittes. Personenbezogene Kontextfaktoren wie Krankheits- und Alltagsbewältigung, soziale Kompetenz und Integration sind ebenso in die Gesamtbeurteilung einzubeziehen wie psychische und somatische Komorbidität. Bei der „Übersetzung“ von psychischem Befund und weiteren Informationen in Fähigkeitsdimensionen beziehungsweise Begutachtungskriterien und in die Beurteilung des Leistungsvermögens kann die ICF eine wertvolle Unterstützung bieten“ (a.a.O. S.32).
Dieses ganze Bündel von Kriterien muss vom Gutachter zu einer Gesamtbeurteilung aggregiert werden, die zu einem eindeutigen Ergebnis kommt und möglichst transparent und nachvollziehbar ist, ohne dass hierfür ein operationalisierbares Verfahren, das zu einem eindeutigen Ergebnis kommt, vorhanden ist.
Ein pragmatisches Vorgehen beinhaltet nach Auffassung der Kammer, die Anforderungen an die gutachterliche und richterliche Überzeugungsbildung nicht zu überdehnen:
Der Eintritt einer rentenberechtigenden Leistungsminderung muss im Wege des Vollbeweises festgestellt sein; vernünftige Zweifel am Bestehen der Einschränkungen dürfen nicht bestehen. Allerdings setzt § 286 ZPO (i.V.m § 202 SGG) auch keine vollständige Freiheit von allen Zweifeln voraus. Für die richterliche Überzeugungsbildung ist ein brauchbarer Grad an Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet, sie aber nicht völlig ausschließt, notwendig und hinreichend. Diese Gewissheit muss die Prüfung der Beweise aufgrund objektiver, einleuchtender nachvollziehbarer Erwägungen erkennen lassen und intersubjektiv diskutierbar und nachvollziehbar sein. (So Bender/Häcker/Schwarz-Schwarz, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 5.Aufl. München 2021, Rn 607-618). Diese in der strafrechtlichen Rechtsprechung für § 286 ZPO entwickelten Grundsätze sind gemäß § 202 SGG auch in der sozialgerichtlichen Rechtsprechung gültig, überdies ist kein Grund ersichtlich, warum für die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente strengere Anforderungen zu stellen sein sollten, als für die Verhängung einer langjährigen Freiheitsstrafe. (SG Nordhausen, Urteil vom 15. Dezember 2022 – S 20 R 956/19 –, Rn. 29, juris).
Dass Gutachter auf psychiatrischem Fachgebiet – wie die Praxis der Sozialgerichte aber auch wissenschaftliche Untersuchungen (Philipp, Med Sach 106 5/2010, S. 181ff, Meins, Med Sach 106 4/2010, S. 153ff) zeigen, in Grenzfällen nicht selten zu unterschiedlichen Leistungseinschätzungen gelangen, führt in der sozialgerichtlichen Praxis nicht dazu, dass die Gutachten nicht als geeignetes Beweismittel für einen Vollbeweis angesehen werden. Andernfalls würde der Anspruch auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente aufgrund psychischer Erkrankungen und physischer Komorbidität entgegen dem Willen des Gesetzgebers weitgehend leerlaufen. (SG Nordhausen, Urteil vom 30. April 2015 – S 20 R 1842/13 –, Rn. 55, juris).
Im Hinblick auf das erforderliche pragmatische Vorgehen wäre ein Vortrag, der darauf hinausläuft, dass bei gerichtlichen Gutachten höhere und strengere und gegebenenfalls überhaupt nicht erfüllbare Maßstäbe anzulegen sind, als sie der eigenen Verwaltungspraxis entsprechen, zurückzuweisen.
c) - Zur rechtlichen Zulässigkeit der Einbeziehung somatischer Faktoren
Das Vorbringen der Beklagten läuft darauf hinaus, dass im Rahmen der eines psychiatrischen Hauptgutachtens eine integrierende Würdigung somatischer Belastungsfaktoren z.B. auf orthopädischen oder internistischem Fachgebiet illegitim oder rechtlich unzulässig sei. Dem folgt die Kammer nicht. Soweit der Vorwurf erhoben wird, dass die Einbeziehung der somatischen Faktoren in die Leistungsbewertung im Rahmen des abgewandelten Schemas nicht wissenschaftlich validiert und rechtlich unzulässig sei, ist zunächst darauf zu verweisen, dass die vom Gutachter gewählte Methodik wie oben (b) ee)) dargelegt mit dem aktuellen wissenschaftliche Diskussionsstand vereinbar ist und verkennt, dass die Einbeziehung der somatischen Faktoren in die Leistungsbewertung dem Gutachter sogar rechtlich abverlangt wird. Dies ergibt sich zudem aus den Vorgaben der Beweisanordnung, die eine integrierende Würdigung sowohl der somatisch als auch der psychisch begründeten Fähigkeitseinschränkungen fordert, weil dies für eine richtige Bewertung sachlich erforderlich ist. Eine solche Einbeziehung somatischer Faktoren wird im Übrigen auch von der einschlägigen Leitlinie der Beklagten selbst gefordert. Es handelt sich bei der Methode des Gutachters dabei nicht um ein starres Schema, sondern nur um ein Hilfsmittel, um die verschiedenen Aspekte argumentativ zu aggregieren. Der Verzicht auf dieses Hilfsmittel würde im Ergebnis zu weniger Transparenz führen. Das gestufte methodische Vorgehen des Gutachters gewährleistet damit im Übrigen auch einen höheren Grad der Operationalisierung. Der explizite und implizite Vorwurf der Willkürlichkeit und Intransparenz von Seiten des sozialmedizinischen Dienstes der Beklagten ist daher unzutreffend. Anzumerken ist insoweit, dass die Entscheidung über das Vorliegen einer Erwerbsminderung sich am Ende als juristische Bewertung darstellt, die durch eine gutachterliche oder sonstige sozialmedizinische Würdigung nicht ersetzt wird. Diese ist nur ein - wenn auch entscheidendes Hilfsmittel. Die durch das Bewertungsschema des Gutachters erreichte Transparenz ist daher kein Mangel, sondern bedeutet einen Gewinn an Nachvollziehbarkeit. Dass sich dieses komplex gestaltet, ist nicht dem Bewertungsschema selbst anzulasten, sondern dem Umstand, dass die umfangreichen Feststellungen, die sowohl nach Auffassung der Beklagten als auch der Rechtsprechung zu erheben sind, zu einer Gesamtbewertung aggregiert werden müssen.
Zurückzuweisen ist schließlich auch das Vorbringen, die Abwandlung einer wissenschaftlichen Methode stelle eine Urheberrechtsverletzung dar. Dies verkennt, dass wissenschaftliche Theorien und Methoden gerade nicht Gegenstand des Schutzes des Urheberrechts sind, sondern man zwischen der Methode und Theorie als solcher und der konkreten sprachlichen Darstellung unterscheiden muss. Andernfalls könnte wissenschaftlicher Fortschritt durch das Urheberrecht behindert oder vereitelt werden. (Siehe zu dieser Problematik: Sellnick, Der Gegenstand des Urheberrechts, Der urheberrechtliche Werkbegriff aus Sicht der analytischen Philosophie, Semiotik und Wissenschaftstheorie, Sinzheim 1995).
d) Vorwurf der Abweichung von den eigenen Maßstäben
Soweit von der Beklagten kritisiert wird, dass die Leistungseinschätzung von dem eigenen Bewertungsschema des Gutachters abweiche, weil er trotz des Vorliegens eines Summenwertes des BSS-Instruments von 7 von einem aufgehobenen Leistungsvermögen von unter 3 Stunden arbeitstäglich ausgehe, verweist die Kammer auf die Klarstellung des Gutachters in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 11.07.2024.
Danach ist die Schweregradbeurteilung (BSS) im Hinblick auf die Erwerbsfähigkeit keine strikte Beurteilung, sondern eine vorläufige in einem mehrstufigen Prüfverfahren. Erst nach einem umfangreichen Prüfverfahren mit einer Plausibilitäts- und Konsistenzprüfung, einer Prognose, Bewertung und Überprüfung des positiven und des negativen Leistungsvermögen mit dem Mini ICF erfolge danach die endgültige Festlegung. Der Mini-ICF mit Erfassung und Quantifizierung von kontextadjustierten Fähigkeitsbeeinträchtigungen beschreibt danach ein negatives psychisches Leistungsvermögen. Im Fall der Klägerin zeigen sich danach erhebliche Einschränkungen der Flexibilität und Umstellungsfähigkeit der Widerstands- und Durchhaltefähigkeit sowie der Fähigkeit zur Planung und Strukturierung von Aufgaben. Deshalb könne die Klägerin aufgrund ihrer eingeschränkten körperlichen und vor allem seelischen Ressourcen kein durchschnittliches Arbeitstempo, kein durchschnittliches Konzentrationsvermögen, keine durchschnittliche Ausdauer und keine ausreichende Frustrationstoleranz beziehungsweise emotionale Steuerungsfähigkeit und Durchhaltevermögen aufbringen. Die Klägerin sei mit den üblichen Anforderungen an einen Arbeitsplatz überfordert, da die dargestellten Leistungseinschränkungen in jeglichem betrieblichen Umfeld relevant auftreten.
Diese Einschätzung wird von der Kammer geteilt. Bei dieser Bewertung legt der Gutachter erkennbar die ihm bekannte Auffassung der 20. Kammer zugrunde, dass jedenfalls dann, wenn ein „vernünftig und billig denkender Arbeitgeber“ einen solchen Arbeitnehmer aufgrund der gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu erwartenden quantitativen und qualitativen Minderleistungen oder fehlender Integrationsfähigkeit in die üblichen betrieblichen Abläufe entweder gar nicht erst einstellen würde oder aber berechtigt wäre, ihn (weil die fehlende Leistungsfähigkeit oder das Verhalten nicht subjektiv vorwerfbar sondern behinderungsbedingt sind) personenbedingt sozial gerechtfertigt zu kündigen, eine Leistungsfähigkeit zu den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes nicht mehr vorliegt. (SG Nordhausen, Urteil vom 21. Juli 2022 – S 20 R 84/20 –, Rn. 29, juris hinsichtlich der Abgrenzung zwischen der Leistungsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt und einer Tätigkeit in einer WfBM).
Die Kostentscheidung folgt aus § 193 SGG.