Zur Wiedererinnerung von Traumata in Fällen des sexuellen Missbrauchs. Die Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG ist nicht anwendbar, wenn aus eigener Erinnerung keine Angaben zum Tathergang gemacht werden können.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 17. Dezember 2018 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Die Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und auch im Übrigen zulässig. Sie hat jedoch in der Sache keinen Erfolg. Der Senat hält die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung für nicht erforderlich. Die Entscheidung über die Berufung konnte deshalb nach erfolgter Anhörung der Beteiligten gemäß § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Beschluss ergehen. Einer Entscheidung durch Beschluss steht nicht entgegen, dass die Klägerin mit Schriftsatz vom 18. Mai 2020 bzw. 10. Juni 2020 einem solchen Vorgehen widersprochen hat. § 153 Abs. 4 SGG setzt gerade nicht das Einverständnis der Beteiligten voraus. Vielmehr steht die Entscheidung, ob in dieser Weise vorgegangen wird, allein im Ermessen des Senats.
II.
Die Klägerin begehrt die Gewährung von Beschädigtenrente nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) i.V.m. den Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG).
Die 1965 geborene Klägerin beantragte im April 2014 bei dem beklagten Land die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG mit der Begründung, in der Zeit von 1967 bis 1977 „im familiären Kontext“ sexuell missbraucht worden zu sein. Hierdurch habe sie u.a. eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), Depressionen und Schlafstörungen erlitten. Auf Seite 2 des Antrages war von der Klägerin vermerkt worden, Ermittlungen im Hinblick auf den Täter bzw. einer Kontaktaufnahme zum Täter nicht zuzustimmen, weil der Erfolg ihrer Therapie dadurch massiv in Frage gestellt werde. Beigefügt war dem Antrag eine psychotherapeutische Stellungnahme der Dipl.-Psych. F. vom 19. März 2014, wonach es der Klägerin nicht möglich sei, ihre langjährigen und frühen Traumata im Detail zu schildern; Täterintrojekte bzw. kindliche Persönlichkeitsanteile reagierten aufgrund des internalisierten Schweigegebotes mit Panikattacken und tiefen depressiven Einbrüchen. Die Klägerin habe klare Erinnerungen und Flashbacks hinsichtlich der massiven sexualisierten Gewalt durch den Vater. Die Klägerin befinde sich, unterbrochen von stationären Aufenthalten, seit 2008 bei ihr in tiefenpsychologisch fundierter Einzelpsychotherapie mit traumatherapeutischem Schwerpunkt.
Das beklagte Land zog Berichte der die Klägerin behandelten Ärzte bei und befragte die Klägerin ergänzend zu dem erlittenen Missbrauch. Diese ließ im August 2014 über ihre Prozessbevollmächtigte mitteilen, bei ihr bestünden nur fragmenthafte, bildhafte Erinnerungen an sexualisierte Gewalterfahrung durch den Vater und diese seien in Form von Flashbacks aufgetreten. Konkrete Angaben könnten von ihr nicht verlangt werden. Dass sie Opfer sexueller Gewalt durch ihren Vater in der Kindheit geworden sei, dürfte unstreitig sein. Sollte von ihr verlangt werden, den sexuellen Missbrauch im Detail und in Einzelheiten zu schildern, so würde ihr dies Schaden zufügen, was nicht angemessen und verhältnismäßig sei. Im Übrigen verwies die Klägerin auf die Entscheidung des „Fonds sexueller Missbrauch“ vom 24. Februar 2014, mit der ihr Leistungen wegen des erlittenen sexuellen Missbrauches im familiären Bereich zuerkannt worden waren. Das beklagte Land zog Unterlagen der Geschäftsstelle „Fonds sexueller Missbrauch“, die Schwerbehindertenakten der Klägerin sowie deren Akten bei der Deutschen Rentenversicherung bei. Mit Bescheid vom 24. Juni 2015 lehnte das beklagte Land den Antrag der Klägerin mit der Begründung ab, die Klägerin habe trotz Aufforderung keine konkreten detaillierten Angaben zu den behaupteten Missbrauchsfällen gemacht; auch Zeugen, Nachweise oder weitere Beweismittel seien trotz ausdrücklicher Nachfrage nicht benannt oder vorgelegt worden. Unter Berücksichtigung der vorliegenden Unterlagen seien die behaupteten Ereignisse weder nachgewiesen, noch glaubhaft gemacht im Sinne des § 15 KOVVfG. In ihrem gegen diesen Bescheid erhobenen Widerspruch verwies die Klägerin im Wesentlichen auf Krankenhausberichte und behauptete, dass sich immer mehr körperliche Symptome im Hinblick auf den erlittenen sexuellen Missbrauch summierten. Außerdem sei sie im Dezember 1985 in G. in der H. überfallen und gewürgt worden; eine Vergewaltigung habe sie erfolgreich abwehren und fliehen können. Dieser Vorfall habe einen schweren Schock ausgelöst. Im Nachhinein sei ihr bewusst geworden, dass dieser Vorfall eine Retraumatisierung dargestellt habe. Außerdem habe sie den Diakon I., der damals ihre Kirchengemeinde betreut habe, auf die Vergangenheit angesprochen. Ihm sei klar gewesen, dass sie in ihrer Familie einen Missbrauch erlitten habe und er könne sich hieran noch erinnern. Ergänzend teilte die Klägerin im Oktober 2015 mit, dass der von ihr geschilderte Überfall in G. nicht als Antrag nach dem OEG anzusehen sei. Das beklagte Land versuchte daraufhin von dem Zeugen Klages eine schriftliche Auskunft zu erlangen, was allerdings ohne Ergebnis blieb. Mit Widerspruchsbescheid vom 17. Februar 2016 wies das beklagte Land den Widerspruch zurück. Detaillierte Aussagen der Klägerin zum sexuellen Missbrauch seien nicht gemacht worden. Die Klägerin verfüge lediglich über fragmenthafte Erinnerungen an den von ihr behaupteten sexuellen Missbrauch, deren Inhalt sie jedoch nicht mitteilen wollte. Damit habe die Klägerin keine Aussagen aus eigenem Wissen getätigt, was einer Glaubhaftmachung der geltend gemachten Gewalttaten entgegenstehe. Die behauptete Gewalttat habe damit weder nachgewiesen noch glaubhaft i. S .d. § 15 KOVVfG gemacht werden können.
Gegen den Widerspruchsbescheid hat die Klägerin Klage beim Sozialgericht (SG) Hannover erhoben, mit der sie die Gewährung von Beschädigtenrente begehrt hat. Sie sei zwischen 1967 und 1977 mehrfach Opfer sexuellen Missbrauchs durch ihren Vater geworden, was vom „Fonds Sexueller Missbrauch“ mit Bescheid vom 24. Februar 2014 anerkannt worden sei. Wegen der Folgen des sexuellen Missbrauchs beziehe sie Rente wegen voller Erwerbsminderung. Außerdem habe sie Krankenhausberichte vorgelegt, denen zu entnehmen sei, dass der erlittene sexuelle Missbrauch seit vielen Jahren zu starken körperlichen Beschwerden bei ihr führe. Im Oktober 2016 hat die Klägerin ergänzt, der Missbrauch habe in einem Zeitraum ab Kleinkindalter bis zum Alter von ca. 13 Jahren stattgefunden. Sie erinnere sich daran, dass sie morgens nach Missbrauchsvorfällen in der Nacht starke Schmerzen im Unterleib gehabt und geblutet habe. Konkret könne sie sich auch daran erinnern, dass sie sich als Kind abends im Bett schlafend gestellt habe. Im Kinderzimmer sei eine Tapete mit Äpfeln und Birnen angebracht gewesen, diese habe sie gezählt, damit sie einschlafen könne. Wichtig sei ihr damals immer gewesen, nicht mehr wach zu sein, wenn ihr Vater nach Hause kam. Dennoch habe der Missbrauch durch den Vater nicht verhindert werden können. Im Alter von 14 Jahren habe ihr Vater sie in eine Wäscherei und Färberei eines Bekannten geschickt, um dort Geld zu verdienen. Dort habe sie Dämpfe von Chemikalien eingeatmet. Sie wisse, dass es anschließend zu einem Missbrauchsvorfall gekommen sei. Sie könne sich konkret jedoch nur daran erinnern, dass sie Stunden später auf dem Marktplatz wieder zu sich gekommen sei. Ihr habe damals alles wehgetan und sie habe das Gefühl gehabt, unter Drogen gesetzt worden zu sein. Als Täter könne sie konkret den Vater, die Mutter und den Bekannten des Vaters benennen. Weitere Erinnerungsfragmente hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 3. Mai 2017 geschildert mit dem Zusatz, es bestehe der Verdacht auf frühkindliche, hochwirksame Gehirnwäsche und professionelle „mindcontrol“-Methoden des Vaters, die dieser bewusst gewählt habe, um ihr eine spätere Schilderung der Taten zu erschweren.
Das SG hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts Befundberichte der behandelnden Ärzte der Klägerin beigezogen und die Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung am 17. Dezember 2018 angehört. Mit Urteil vom selben Tag hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, es sei weder bewiesen, noch glaubhaft gemacht worden, dass die Klägerin Opfer vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriffe geworden sei. Tatzeugen gebe es nicht. Die Klägerin selbst erinnere keine konkreten Taten, die Schilderungen von Details seien ihr nicht möglich. Geschildert würden lediglich Randgeschehen von Szenarien, in denen Missbrauchshandlungen stattgefunden haben sollen, die Taten als solche seien nicht beschrieben worden. Aus der für die Klägerin gestellten Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung könne nicht auf den behaupteten sexuellen Missbrauch zurückgeschlossen werden. Die Möglichkeit, dass es sich bei den Schilderungen der Klägerin um Scheinerinnerungen handele sei nicht weniger wahrscheinlich, als die Möglichkeit, dass sich die geschilderten Taten tatsächlich ereignet haben. Mit therapeutischer Unterstützung seien explizite Bemühungen unternommen worden, sich an nicht zugängliche Erlebnisse zu erinnern, diese Erinnerungen seien erst im Lauf wiederholter Erinnerungsbemühungen entstanden und im Laufe der Zeit seien immer mehr Erlebnisse berichtet worden.
Gegen das ihr am 15. Februar 2019 zugestellte Urteil richtet sich die am 26. Februar 2019 eingegangene Berufung der Klägerin. Sie habe Angaben zu dem Missbrauch gemacht, es bestehe daher die gute Möglichkeit, dass sich die Ereignisse so zugetragen hätten, wie von ihr geschildert. Allein dieser Umstand reiche für einen Anspruch aus.
Die Klägerin beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen sinngemäß,
- das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 17. Dezember 2018 sowie den Bescheid des beklagten Landes vom 24. Juni 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Februar 2015 aufzuheben,
- das beklagte Land zu verurteilen, ihr wegen des in der Zeit von 1967 bis 1977 erlittenen sexuellen Missbrauchs durch ihren Vater Beschädigtenrente zu gewähren.
Das beklagte Land beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen,
die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom
17. Dezember 2018 zurückzuweisen.
Es hält das erstinstanzliche Urteil sowie seinen mit ihm überprüften Bescheid für zutreffend.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf dem beigezogenen Verwaltungsvorgang des beklagten Landes Bezug genommen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.
III.
Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der angefochtene Bescheid des beklagten Landes ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin demzufolge nicht in ihren Rechten. Der Klägerin steht kein Anspruch auf Beschädigtenrente zu.
Der Senat konnte sich nicht die notwendige Überzeugung bilden, dass die Klägerin in den Jahren 1967 bis 1977 von ihrem Vater wiederkehrend sexuell missbraucht worden und damit Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG geworden ist.
1. Grundsätzlich bedarf die Feststellung eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs i.S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG des Vollbeweises. Nach Maßgabe des § 15 Satz 1 KOVVfG, der gemäß § 6 Abs. 3 OEG auch im Opferentschädigungsrecht anzuwenden ist, sind hinsichtlich des schädigenden Vorgangs bei der Entscheidung die Angaben des Antragstellers, die sich auf mit der Schädigung im Zusammenhang stehende Tatsachen beziehen, zugrunde zu legen, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen und Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind. Die Beweiserleichterung des § 15 Satz 1 KOVVfG ist auch dann anwendbar, wenn für den schädigenden Vorgang keine Zeugen vorhanden sind (vgl. grundlegend BSG, Urteil vom 31. Mai 1989 – 9 RVg 3/89 – BSGE 65, 123, 125). Nach dem Sinn und Zweck des § 15 Satz 1 KOVVfG sind damit nur Tatzeugen gemeint, die zu den zu beweisenden Tatsachen aus eigener Wahrnehmung Angaben machen können (vgl. BSG, Urteil vom 17. April 2013, Az.: B 9 V 3/12 R).
Selbst dann, wenn unter Zugrundelegung dieser Grundsätze der erleichterte Beweismaßstab des § 15 KOVVfG angewendet werden könnte – wovon der Senat aber ausdrücklich nicht ausgeht, vgl. dazu 2.) – wäre das Vorliegen eines sexuellen Missbrauchs der Klägerin durch ihren Vater zur Überzeugung des Senats nicht glaubhaft gemacht i.S.d. § 15 KOVVfG.
Glaubhaftmachung i.S. des § 15 Satz 1 KOVVfG bedeutet die Darlegung einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 12. Auflage, 2017, § 128, RdNr. 3d m.w.N.), d.h. der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (vgl. BSG, Beschluss vom 8. August 2001, B 9 V 23/01 B, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4 S. 14 f m.w.N.). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, d.h. es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 12. Auflage, 2017, § 128, RdNr. 3d m.w.N.), weil nach der Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses (kein deutliches) Übergewicht zukommen. Die bloße Möglichkeit einer Tatsache reicht dagegen nicht aus, um die Beweisanforderung zu erfüllen.
Zu Recht hat bereits das SG darauf hingewiesen, dass die Klägerin keine konkreten Taten des von ihr behaupteten sexuellen Missbrauches durch ihren Vater geschildert hat. Hat sich die Klägerin zu Beginn des Verwaltungsverfahrens im Jahr 2014 zunächst darauf zurückgezogen, mit Rücksicht auf ihre psychische Erkrankung keine Details zu den Angriffen schildern zu wollen und in diesem Zusammenhang die Aufforderung des beklagten Landes zur Benennung von Einzelheiten als „nicht angemessen und verhältnismäßig“ zurückgewiesen, weil ihr dies gesundheitlichen Schaden zufügen würde, so ist im weiteren Verfahrenslauf deutlich geworden, dass keine seit 1967-1977 bestehenden konstanten Erinnerungen der Klägerin an den von ihr behaupteten Missbrauch existieren. Die Klägerin hat sich jahrelang überhaupt nicht an den von ihr behaupteten sexuellen Missbrauch erinnert, sondern sich diese „Erinnerungen“ im Rahmen von Therapiegesprächen ungefähr ab dem Jahr 2008 erarbeitet. Dabei hat die Klägerin bis heute keine konkreten Handlungen des behaupteten Missbrauches preisgegeben; beschrieben hat sie – und dies auch erst im Oktober 2016 bzw. im Mai 2017 – allenfalls Randgeschehen und Szenarien, aus denen die Klägerin darauf zurückschließt, sexuell missbraucht worden zu sein. Dabei ist auffällig, dass die eigentlichen Missbrauchshandlungen nicht thematisiert werden und sich der Täterkreis im Verfahrenslauf erweitert hat. War zunächst nur vom Vater als Einzeltäter die Rede, so hat die Klägerin im Oktober 2016 sowohl Vater, Mutter als auch (Zitat) „der Bekannte des Vaters“ als Täter benannt. Mit Schriftsatz vom 3. Mai 2017 hat die Klägerin sodann behauptet, Übergriffe seien durch „Täter aus der Bekanntschaft/Verwandtschaft des Vaters erfolgt in einer Wäscherei, im Jugendzeltlager, durch den Onkel in der DDR“.
Einerseits vermögen die „Ahnungen“ und „Vermutungen“ der Klägerin und der von ihr sodann gezogene Rückschluss auf sexuellen Missbrauch den Senat schon aus sich heraus nicht mit dem erforderlichen Wahrscheinlichkeitsgrad zu überzeugen. Denn es ist zu berücksichtigen, dass sich die entsprechenden Erinnerungen der Klägerin unter Einfluss von Therapien und nur sukzessiv entwickelt haben, was den vorliegenden medizinischen Unterlagen eindeutig zu entnehmen ist. So wird in dem Entlassungsbericht der J. vom 19. Januar 2009 darauf hingewiesen, dass die Klägerin berichtet habe, im beruflichen Umfeld immer wieder auf Situationen zu stoßen, in denen sie sich nicht ausreichend wehren könne; sie habe bereits verschiedene Therapien gemacht, im Rahmen derer ungreifbare „Ahnungen“ im Zusammenhang mit ihrem Vater hochgekommen seien. Vor ca. 14 Wochen seien wieder verschiedene Erinnerungen bzw. Ahnungen aufgetaucht, auf die sie körperlich sehr heftig reagiert habe. Auf Vermutungen bezüglich der Ursache ihrer Probleme angesprochen, antwortete die Klägerin, dass „irgendetwas geschehen sein müsse, was sie geprägt habe, sie könne es jedoch nicht benennen“. Als Hauptbelastungsfaktor beschrieb die Klägerin die Situation, „Dinge zu ahnen, schrittweise kleine Erinnerungsfunken zu bekommen und diese nicht richtig einordnen zu können“. Die Ärzte der Rehaklinik änderten daraufhin die bis dahin für die Klägerin benannte Diagnose „Depression“ in die Diagnose „Posttraumatische Belastungsstörung“ und empfahlen der Klägerin dringend die Weiterführung der bereits begonnenen ambulanten Psychotherapie im traumatherapeutischen Setting (vgl. 9.2 des Reha-Berichts).
Die Ärzte des K. Klinikums Dr. L. notierten anlässlich des stationären Aufenthaltes der Klägerin vom 20. August bis 26. Oktober 2009, die Klägerin befinde sich derzeit in einer schweren Krise, da immer mehr Erinnerungen an erlebte sexualisierte Gewalt in der Kindheit in ihr hochkämen und sie in Form von Flashbacks überfluten würden. Dies habe begonnen, nachdem sie sich nach einer Krebsdiagnose einer Chemotherapie und umfangreichen Operationen habe unterziehen müssen. Die Flashbacks hätten deutlich an Intensität und Frequenz zugenommen. Diagnostisch bestehe eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung vor dem Hintergrund massiver und wiederholter sexualisierter und körperlicher Gewalterfahrungen. Die Behandlung bestand in dieser Klinik u.a. aus psychotherapeutischen Einzelgesprächen, imaginativer Stressbewältigung und tiefenpsychologischen Behandlungen. Dabei wurden sowohl handlungsorientierte Selbstregulationsverfahren nach dem dialektisch-behavioralen Therapiekonzept wie auch Techniken der imaginativen Traumatherapie nach Reddemann genutzt und individuell ausgebaut. Weiter heißt es in diesem Entlassungsbericht hinsichtlich ihrer Kindheit bestünde bei der Klägerin eine weitreichende Amnesie. In der Therapie hätten sich auch deutliche Hinweise auf Probleme in der Partnerschaft der Klägerin ergeben.
Übereinstimmend mit diesem Verlauf lässt sich dem Bericht der M. Klinik vom 13. Februar 2011 entnehmen, dass für die Klägerin (erst) vor zwei Jahren die Diagnose einer Traumatisierung geäußert worden sei; es habe eine entsprechende Behandlung stattgefunden, nachdem erstmals bildhafte Erinnerungen in Form von Flashbacks aufgetreten seien. Die Klägerin litt zu diesem Zeitpunkt unter erheblicher Angst, den eigenen Erinnerungen nicht trauen zu können und ihren Eltern Unrecht zu tun. Auch hier findet sich der Hinweis für große Teile ihrer Kindheit liege bei der Klägerin Amnesie vor. Während dieses stationären Aufenthaltes ist die Klägerin mit tiefenpsychologisch fundierten Einzelgesprächen behandelt worden und die Klägerin nahm u.a. an einer Stabilisierungsgruppe für traumatisierte Patienten nach Reddemann teil, in denen sie Imaginationen erlernte. Die Ärzte in dieser Klinik notierten, bei der Klägerin bestünden erhebliche Schuldgefühle und starke Anspannung und mutmaßten hierzu, dass dies auf eine „stark abgewehrte Wut“ hindeute, die die Klägerin selbst häufig gar nicht spüre, „da es große innere Verbote gebe, die vermutlich von Täterintrojekten aus ihrer Vergangenheit stammten“. In Einzelkontakten ging es u.a. immer wieder darum, Täterintrojekte zu identifizieren, was der Klägerin während des Klinikaufenthaltes große Schwierigkeiten bereitete.
In Übereinstimmung mit den Klinikberichten teilte die die Klägerin behandelnde psychologische Psychotherapeutin F. in ihrem Befundbericht vom 21. Juni 2016 mit, die Klägerin seit dem 17. April 2008 bis fortlaufend mit tiefenpsychologisch fundierter Einzelpsychotherapie mit traumatischem Fokus zu behandeln; es bestehe nach wie vor eine massive PTBS-Symptomatik mit nur geringfügiger Besserung.
Auch das SG hat diesen Verlauf bereits erkannt und hierauf basierend zu Recht ausgeführt, erscheine es nicht relativ am wahrscheinlichsten, dass ein sexueller Missbrauch durch den Vater stattgefunden habe, denn es lasse sich nicht ausschließen, dass sich bei der Klägerin ohne tatsächliche Erlebnisbasis der irrige Eindruck verfestigt habe, in der Kindheit Opfer sexueller Übergriffe geworden zu sein.
Mit ihrer Berufungsbegründung macht die Klägerin nunmehr geltend, dass das mit größerem zeitlichem Abstand und nur sukzessive Äußern der erlittenen Taten typisch bei erlittenem sexuellen Missbrauch sei und gerade für die Wahrscheinlichkeit spreche, dass ein solcher stattgefunden habe; die Annahme, dass die Therapien sie insoweit beeinflusst hätten, sei nicht gerechtfertigt.
Das Phänomen des „späten Wiedererinnerns“ ist dem Senat aus einer Vielzahl ähnlich gelagerter Streitsachen bekannt. Zugleich ist ihm aber auch bekannt, dass Therapeuten immer wieder auf diesen Umstand hinweisen. Davon zu unterscheiden ist nach Auffassung des Senats aber die Frage, wie die Erlebnisbasiertheit solcher spät und sukzessive erinnerten Taten zu beurteilen ist. Nach Kenntnis des Senates geht die ganz herrschende Lehrmeinung im Bereich der Gedächtnisforschung davon aus, dass späte und sukzessive Tatschilderungen eher Zweifel an der Erlebnisbasiertheit begründen. Diese Erkenntnis hat der Senat zur Grundlage seiner ständigen Rechtsprechung gemacht und hält hieran auch weiterhin fest. Die Annahme, Erinnerungen an traumatische Ereignisse würden sich generell von anderen Erinnerungen qualitativ dahingehend unterscheiden, das sie gar nicht oder allenfalls fragmentiert erinnert werden könnten, findet durch empirische Untersuchungen keine systematische Unterstützung. Im Gegenteil: Traumatische Erlebnisse können i.d.R. besonders langfristig erinnert werden (vgl. Volbert/Steller in: Venzlaff/Foerster/Dreßing/Habermeyer, Psychiatrische Begutachtung, 6. Auflage 2015, S. 697) und generell ist davon auszugehen, dass emotional bedeutsame Ereignisse besonders dauerhaft behalten und in der Regel auch explizit erinnert werden können (vgl. auch: Julia Shaw, Das trügerische Gedächtnis, S. 186, 187). Eine traumabedingte Amnesie ist jedenfalls sicherlich nicht die typische Folge eines stressreichen Erlebnisses (vgl. Volbert in: Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S. 98; so auch schon Senatsurteil vom 21. September 2017, L 10 VE 25/14 veröffentlicht in juris). Substanzielle Beeinträchtigungen der expliziten Erinnerung, die deutlich über normale Vergessensprozesse hinausgehen, treten als Folge von traumatischen Ereignissen insbesondere auch bei PTBS-Patientin in der Regel nicht auf (vgl. Volbert/Steller in: Venzlaff/Foerster/Dreßing/Habermeyer, Psychiatrische Begutachtung, 6.Auflage 2015, S. 697). Die Auffassung, dass traumatische Erinnerungen im Gegensatz zu alltäglichen Erinnerungen in einer reproduktiven, nonrekonstruktiven Weise bis zur Entdeckung der Erinnerung bzw. der Möglichkeit der weiteren Verarbeitung erhalten bleiben, steht im Widerspruch zu gedächtnispsychologischen Erkenntnissen, nach denen durchgängig gezeigt wurde, dass Erinnern ein konstruktiver Prozess ist, bei dem nicht nur gespeicherte Bilder aktiviert werden (vgl. Volbert in: Beurteilung von Aussagen über Traumata, S. 92). Zeitweise nicht zugängliche Erinnerungen können somit gerade nicht als zuverlässig eingestuft werden: Menschen neigen dazu, Informationen ihren eigenen Schemata hinzuzufügen. Sind Menschen intrusiven, irritierenden, nicht einzuordnenden fragmentarischen Erinnerungen ausgesetzt, ist zu vermuten, dass sie diese fragmentarischen Erinnerungen mit Schemata versehen, unabhängig davon, ob die so einer fragmentierten Erinnerung zugeordnete Bedeutung mit dem Ursprungserlebnis etwas zu tun hat oder nicht. Solche „Erinnerungen“ können richtig sein, aber auch völlig falsch. Unter therapeutischen Gesichtspunkten können auch wenig mit der historischen Wahrheit korrespondierende Erinnerungskonstruktionen ihre Funktion erfüllen, ein Beleg für die Zuverlässigkeit der Erinnerung ergibt sich daraus nicht (Volbert in: Beurteilung von Aussagen über Traumata, S. 92). Bei der Wiederherstellung von Erinnerungen im wirklichen Leben ist nur eins klar: Wenn keine unanfechtbare Bestätigung vorliegt, kann ein Außenstehender nicht eindeutig sagen, ob eine bestimmte Erinnerung echt oder fabriziert ist (Volbert in: Beurteilung von Aussagen über Traumata, S. 92). Es gibt bislang keine Methode, die eine Differenzierung zwischen suggerierten, subjektiv aber als wirklich erachteten und tatsächlich erlebnisfundierten Aussagen erlaubt. Dies liegt u.a. darin begründet, dass lediglich vorgestellte, imaginierte bzw. intern generierte Pseudoerinnerungen nach denselben Organisationsprinzipien im menschlichen Gedächtnis repräsentiert sein können wie Erlebnisse in der Wachwirklichkeit. Folglich tragen die entsprechend rekonstruierten Gedächtnisinhalte bzw. Aussagen ein ähnliches Merkmalsgepräge und sind u.U. weder durch die betroffene Person selbst, noch durch Dritte hinsichtlich ihres Wirklichkeitsstatus unterscheidbar (vgl. Greuel: Was ist Glaubhaftigkeitsbegutachtung (nicht)? In: Themenheft Glaubhaftigkeitsbegutachtung der DGfPI, Heft 2 2009, S. 78).
Zum anderen wird mit der Berufung geltend gemacht, dass aus der bei der Klägerin vorliegenden Gesundheitsstörung („massive psychische Gesundheitsschäden“) darauf zu schließen sei, dass sie Opfer von Gewalttaten geworden sein müsse. Auch dieser Gesichtspunkt ist dem Senat aus einer Vielzahl von Fällen bekannt. Die ständige Rechtsprechung des Senates geht auf der Grundlage der herrschenden medizinischen Lehrmeinung und aus juristischen Erwägungen heraus aber in die entgegengesetzte Richtung. Aus dem Vorliegen bestimmter Gesundheitsstörungen kann nicht auf konkrete Ursachen geschlossen werden (vgl. u.a. Urteil des Senats vom 29. September 2016, L 10 VE 44/11, vgl. hierzu auch LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 23. Februar 2018, L 13 VG 26/14).
Schließlich kann die Klägerin für ihren Anspruch auch nichts aus dem Bescheid der beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend angesiedelten Geschäftsstelle „Fonds Sexueller Missbrauch“ vom 24. Februar 2014 herleiten. Denn diese Entscheidung stellt gerade keinen rechtlichen Nachweis darüber dar, dass die von der Klägerin behauptete Tat überhaupt oder durch eine bestimmte Täterin bzw. einen bestimmten Täter begangen wurde, wie sich schon aus dem Text dieses Bescheides ergibt, in dem ausdrücklich darauf hingewiesen wird, der Bescheid stelle keinen Wahrheitsbeweis dar.
2. Im Übrigen schließt sich der Senat der Ansicht an, wonach die Beweiserleichterung des § 15 KOVVfG schon nicht zur Anwendung gelangen kann, wenn aus eigener Erinnerung keine Angaben zum Tathergang gemacht werden können (vgl. Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 3. August 2017, L 6 VU 4530/16 unter Hinweis auf Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 30. November 2006, B 9a VS 1/05 R) bzw. § 15 Satz 1 KOVVfG nicht zu einer Verringerung der Vortragslast dahingehend führt, dass nur noch eine vergleichsweise oberflächliche und detailarme Schilderung des als Gewalttat angegebenen Geschehens ausreichend wäre (vgl. Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 11. Juli 2018, L 20 VG 30/17), wie dies die Berufungsbegründung des Prozessbevollmächtigten der Klägerin nahelegt. Vielmehr müssen die Angaben des Betroffenen so klar und detailreich sein, dass sich hieraus der vollständige Sachverhalt so weit konkretisieren lässt, wie es für die Annahme eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs i.S.d. § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erforderlich ist. Unter Berücksichtigung dieser Maßgaben scheidet die Anwendung von § 15 KOVVfG vorliegend aus. Die Klägerin hat keine Erinnerung an das eigentliche Missbrauchsgeschehen bzw. hat diese bis heute nicht so klar und detailreich benannt, dass sich hieraus der vollständige Sachverhalt rekonstruieren ließe, den der Senat seiner Entscheidung zu Grunde zu legen hat.
Ist aber § 15 KOVVfG nicht anwendbar, so bedarf die Feststellung eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs i.S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG des Vollbeweises. Weil der Senat den sexuellen Missbrauch schon nicht für glaubhaft hält, ist er erst recht nicht im Vollbeweis belegt.
Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung der §§ 183, 193 SGG.
Anlass für die Zulassung der Revision besteht nicht, § 160 Abs. 2 SGG.