L 17 U 305/98

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
17
1. Instanz
SG Duisburg (NRW)
Aktenzeichen
S 6 U 137/96
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 17 U 305/98
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 2 U 41/00 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 14. Oktober 1998 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist, ob beim Kläger eine Berufskrankheit (BK) nach Nr. 2108 der Berufskrankheiten- Verordnung (BKV) vorliegt und durch Gewährung von Verletztenrente zu entschädigen ist.

Der 1934 geborene Kläger erlernte von 1949 bis 1954 das Handwerk eines Tischlers und war in der Folgezeit in fünf kurzzeitigen Beschäftigungsverhältnissen in der Landwirtschaft, Möbelherstellung, im Stahlbetonbau, in der Stahlindustrie (im Hafen) sowie wiederum im Stahlbetonbau tätig. Die letztgenannte Tätigkeit als Zimmerer und Einschaler im Stahlbetonbau übte er auch anschließend von 1959 bis 1973 in insgesamt 16 Beschäftigungsverhältnissen aus. Vom Februar 1973 bis zum Mai 1983 arbeitete der Kläger bei vier verschiedenen Arbeitgebern als Polier im Stahlbetonhochbau und war zuletzt vom 01.06.1983 bis zum 30.09.1994 als Polier bei der P ... und Sohn Bauunternehmung GmbH in D ... beschäftigt. Seit dem 07.10.1992 war er durchgehend arbeitsunfähig krank. Nach dem Bezug einer Berufsunfähigkeitsrente bezieht er seit 1995 eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit.

Im Mai 1993 erstattete der Arzt für Orthopädie Dr. v ... H ... die den Kläger betreffende ärztliche Anzeige über eine BK nach Nr. 2108 der BKV. Als Ergebnis der Untersuchung und Diagnose teilte er eine lumbale Facettenarthrose sowie eine lumbale Bandscheibenprotrusion L4/5 und L5/S1 mit. In seinem Befund- und Behandlungsbericht vom 10.08.1993 gab er an, der Kläger befände sich seit 1988 wiederholt und seit September 1992 fortgesetzt in seiner Behandlung. Er habe über Beschwerden im Bereich der Hals- und Lendenwirbelsäule (HWS, LWS) mit Muskelhartspann geklagt. Eine am 14.06.1993 durchgeführte Kernspintomographie der LWS habe einen kleinen medianen subligamentär gelegenen und linksbetonten Bandscheibenprolaps L3/4 sowie geringfügige Bandscheibenprotrusionen L4/5 und L5/S1 und eine hochgradige Chondrose L3/4 ergeben. Am 16.07.1993 sei aufgrund des Bandscheibenvorfalls L3/4 links medial zunächst eine Diskographie und anschließend eine Lasernukleotomie L3/4 durchgeführt worden.

Der Technische Aufsichtsdienst (TAD) der Beklagten führte zunächst aus, der Kläger habe während seiner Tätigkeiten als Einschaler von Juli 1955 bis Februar 1973 in der überwiegenden Anzahl der Arbeitsschichten schwere Lasten gehoben und getragen bzw. Arbeiten in extremer Rumpfbeugehaltung in überdurchschnittlichem Maße (mindestens 30 % Zeitanteil/Schicht) i.S.d. BK 2108 verrichtet. Während der TAD die anschließenden Beschäftigungszeiten des Klägers als Polier von 1973 bis 1992 aber zunächst davon ausnahm, ging der Technische Aufsichtsbeamte (TAB) F ... in seiner Stellungnahme vom 19.10.1994 dann davon aus, bei der Firma P ... habe der Kläger nur ca. 40 % seiner Poliertätigkeit für Überwachungs- und Koordinierungsarbeiten aufgewendet, ansonsten aber noch körperlich mitgearbeitet. Daraus ergebe sich jedoch lediglich eine Gefährdung von ca. 24 % Zeitanteil, so daß für die Poliertätigkeit nicht in der überwiegenden Anzahl der Arbeitsschichten eine überdurchschnittliche körperliche Beanspruchung i.S.d. BK 2108 anzunehmen sei.

In einer beratungsärztlichen Stellungnahme vertrat der Arzt für Chirurgie Dr. H ... unter dem 28.04.1995 die Ansicht, aus medizinischer Sicht sprächen mehrere Gesichtspunkte gegen das Vorliegen einer BK. Der Beginn der Rückenbeschwerden erst 1975 weise auf die überwiegende Bedeutung rein altersbedingter, schicksalhafter Verschleißerscheinungen hin. Dabei werde diese Annahme dadurch gestützt, daß auch an der HWS, einem beruflich nicht belasteten Wirbelsäulenabschnitt, Verschleißerscheinungen bestünden, deren Ausmaß das der degenerativen Veränderungen an der LWS sogar noch deutlich überstiegen. Auch der überwiegend auf ein Segment beschränkte Verschleiß an der LWS bei ansonsten nur geringen, völlig altersentsprechenden Veränderungen an den übrigen Bewegungssegmen ten der LWS spreche - wie auch die bekannten Verschleißerscheinungen an beiden Hüftgelenken - eher gegen als für den Zusammenhang mit einer beruflichen Belastung.

Nach Zustimmung zu dieser gutachterlichen Stellungnahme durch Priv.-Doz. Dr. J ... von der Landesanstalt für Arbeitsschutz Nordrhein-Westfalen lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 20.07.1995 die Anerkennung einer BK nach Nr. 2108 der Anlage zur BKV ab. Die wirbelsäulenschädigende Tätigkeit sei vom Kläger vor dem 01.04.1988 aufgegeben worden; danach sei er nicht mehr ausreichend i.S.d. BK belastend tätig gewesen. Ansprüche aus der gesetzlichen Unfallversicherung bestünden daher nicht.

Den dagegen vom Kläger am 14.08.1995 erhobenen Widerspruch, dem ein Schreiben der P ... und Sohn GmbH vom 22.01.1996 sowie eine Zusammenstellung seiner verschiedenen ausgeübten Tätigkeiten für die Zeit von 1983 bis 1992 beigefügt waren, wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 10.04.1996, zur Post gegeben am 15.04.1996, zurück. Zur Begründung führte sie darin aus, selbst wenn die Rückwirkungsklausel nicht anzuwenden wäre, sei grundsätzlich davon auszugehen, daß der Kläger bei seiner Tätigkeit als Polier bei der Firma P ... wirbelsäulenbelastende Tätigkeiten nur in geringem Umfang ausgeführt und eine überdurchschnittliche Belastung daher nicht vorgelegen habe. Ungeachtet der arbeitstechnischen Voraussetzungen sprächen aber in medizinischer Hinsicht mehrere Gesichtspunkte gegen das Vorliegen einer BK.

Am 17.05.1996 hat der Kläger beim Sozialgericht (SG) Duisburg Klage erhoben und zur Begründung die Bescheinigung des Dr. v ... H ... vom 10.07.1996 vorgelegt.

Das SG hat eine Arbeitgeberauskunft von der P ... Bauunternehmung GmbH vom 13.09.1996 eingeholt, zu der die Beklagte eine erneute Stellungnahme ihres TAD vorgelegt hat, wonach dieser für die Poliertätigkeit des Klägers seit 1983 eine 50 %-ige körperliche Mitarbeit unterstellt. Da aber der zeitliche Umfang der belastenden Tätigkeiten der ausschließlich als Beton- und Stahlbetonbauer tätigen Beschäftigten lediglich mit insgesamt 40 % der täglichen Arbeitsschicht einzuschätzen sei, sei im Falle des Klägers lediglich von einer Gesamtbelastung von ca. 20 % pro täglicher Arbeitsschicht auszugehen. Bei einem solchen Belastungsumfang aber seien die arbeitstechnischen Voraussetzungen i.S.d. BK Nr. 2108 nicht gegeben.

Nach Vorlage erneuter Aufstellungen über seine Poliertätigkeiten bei der Firma P ... durch den Kläger hat das SG von Amts wegen ein Gutachten von dem Facharzt für Orthopädie Dr. F ... in B ... vom 24.04.1998 eingeholt. Der Sachverständige (SV) hat beim Kläger neben schweren multisegmentalen degenerativen Veränderungen an der HWS und einem Verdacht auf Morbus Forestier/Ott (Spondylitis hyperostotica mit Ossifizierung des vorderen Längsbandes) mit Bewegungseinschränkung und reaktiven Cervikalgien und Cervikobrachialgien sowie neben erheblichen degenerativen multisegmentalen Veränderungen an der Brustwirbelsäule (BWS) i.S. einer ventral wie bilateral betonten, zum Teil überbrückenden (spangenbildenden) Spondylose und einer erheblichen Fehlhaltung i.S. einer rechtskonvexen hochthorakalen Seitverbiegung erhebliche degenerative Veränderungen an der LWS im Segment L3/4 mit Höhenminderung des Zwischenwirbelraums und eine Osteochondrose, eine Spondylose, eine Bewegungseinschränkung der LWS respektive des BWS-LWS-Komplexes, sowie reaktive Lumbalgien und Ischialgien mit pseudoradikulärer Symptomatik festgestellt. Abschließend ist er zu dem Ergebnis gekommen, daß der Kläger mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht an einer bandscheibenbedingten Erkrankung gemäß Nr. 2108 der Anlage zur BKV leide.

Mit Urteil vom 14.10.1998 hat das SG Duisburg, gestützt auf das Gutachten Dr. F ..., die Klage abgewiesen.

Gegen das ihm am 03.11.1998 zugestellte Urteil hat der Kläger am 01.12.1998 Berufung eingelegt. Zur Begründung trägt er im wesentlichen vor, in seinem Fall seien die arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK nach Nr. 2108 erfüllt und das Gutachten Dr. F ... sei nicht überzeugend. Nicht zutreffend sei dessen Feststellung, die LWS-Veränderungen seien altersentsprechend. Ob und inwieweit vorliegende Veränderungen altersentsprechend seien, sei medizinisch-wissenschaftlich nicht geklärt. Den operierten Bandscheibenvorfall L3/4 im Ergebnis als altersentsprechend zu bezeichnen, sei zynisch. Da sich nach dem Gutachten Dr. F ... die Veränderungen im Bereich der HWS sowie der BWS des Klägers selbständig erklärten, könnten sie insoweit keine ursächlichen Auswirkungen auf die bestehenden Veränderungen im Bereich der LWS entfalten.

Der Kläger beantragt schriftsätzlich,

das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 14.10.1998 abzuändern und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 20.07.1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.04.1996 zu verurteilen, ihm eine Verletztenrente nach einer MdE um mindestens 20 v.H. wegen einer BK nach Nr. 2108 der Anlage zur BKV zu gewähren, hilfsweise, weiteren Beweis darüber zu erheben, daß die arbeitstechnischen Voraussetzungen entsprechend dem Vortrag im Schriftsatz vom 11.03.1999 für den Zeitraum bis Oktober 1992 erfüllt sind, durch Einholung eines arbeitstechnischen Sachverständigengutachtens, weiter hilfsweise, Beweis darüber zu erheben, daß entsprechend dem Vortrag im diesseitigen Schriftsatz vom 11.03.1999 die bandscheibenbedingten Veränderungen der LWS deutlich altersüberschreitend sind, die HWS-Veränderungen auf der Spondylitis hyperostotica und die Veränderungen der BWS auf der dortigen Fehlhaltung beruhen, womit in diesem Sinne ein die haftungsausfüllender polysegmentaler Befall der gesamten Wirbelsäule nicht vorliegt und im übrigen auch keine epidemiologischen Untersuchungen vorhanden sind, die belegen, daß im Falle des Bestehens von HWS-Veränderungen auch gleichartige LWS-Veränderungen vorhanden sind und es von daher einer medizinisch-wissenschaftlichen Grundlage entbehrt, beim Vorliegen gleichartiger HWS-owie LWS-Veränderungen von einem schicksalsmäßigen polysegmentalen Befall auszugehen, der die beruflichen Belastungen der Nr. 2108 völlig in den Hintergrund drängt, durch Einholung eines weiteren orthopädischen bzw. chirurgischen Sachverständigengutachtens.

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie ist der Ansicht, die arbeitstechnischen und medizinischen Voraussetzungen der BK nach Nr. 2108 der Anlage zur BKV seien nicht erfüllt. Die beim Kläger bestehenden Veränderungen der LWS in den Segmenten L1/2, L2/3, L4/5 sowie L5/S1 seien nach dem Gutachten Dr. F ... durchaus altersentsprechend. Die Bandscheiben in diesem Bereich wiesen keine Höhenminderung der Zwischenwirbelräume auf.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Streitakte verwiesen. Auf den Inhalt der den Kläger betreffenden Verwaltungsakte der Beklagten, der ebenfalls Gegenstand der Beratung war, wird verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die zulässige Berufung ist unbegründet.

Zu Recht hat das SG die Klage abgewiesen, denn der angefochtene Verwaltungsakt ist rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Gewährung von Verletztenrente, denn die bei ihm im Bereich der LWS bestehenden Veränderungen stellen keine BK nach Nr. 2108 der Anlage zur BKV dar.

Der Anspruch des Klägers richtet sich noch nach den Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO), da er Verletztenrente auch für die Zeit vor dem Inkrafttreten des Siebten Buches des Sozialgesetzbuches - Gesetzliche Unfallversicherung - (SGB VII) zum 01.01.1997 begehrt (Art. 36 des Unfallversicherungs- Einordnungsgesetzes [UVEG], § 212 SGB VII).

Nach § 551 Abs. 1 Satz 1 RVO gilt als Arbeitsunfall auch eine BK. BK en sind nach § 551 Abs. 1 Satz 1 RVO Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrats bezeichnet hat und die ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 genannten Tätigkeiten erleidet. Mit der am 01.01.1993 in Kraft getretenen 2. Verordnung zur Änderung der BKVO (jetzt: BKV) vom 18.12.1992 (2. ÄndVO) ist die Liste der BK en um die Nrn. 2108 bis 2110 erweitert worden. Damit ist der Weg eröffnet, bandscheibenbedingte Erkrankungen der LWS und der HWS als BK anzuerkennen. Die hier allein streitige BK 2108 erfaßt bandscheibenbedingte Erkrankungen der LWS durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können.

Die Feststellung einer BK setzt grundsätzlich voraus (vgl. zum folgenden: Bereiter-Hahn/ Schieke/ Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung - Handkommentar - § 551 RVO Rdn. 3; Mehrtens/ Perlebach, Die Berufskrankheiten-Verordnung - Kommentar - E 551 Rdn. 9, 10), daß zum einen in der Person des Versicherten die sog. arbeitstechnischen Voraussetzungen erfüllt sind, d.h., daß der Betreffende im Rahmen seiner versicherten Tätigkeiten schädigenden Einwirkungen i.S.d. BK ausgesetzt gewesen ist, die geeignet sind, einen entsprechenden Gesundheitsschaden zu bewirken (haftungsbegründende Kausalität). Zum anderen muß ein Zusammenhang zwischen der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung bestehen (haftungsausfüllende Kausalität). Während die arbeitstechnischen Voraussetzungen und der Gesundheitsschaden voll bewiesen sein müssen, reicht zur Bejahung des Kausalzusammenhangs zwischen der schädigenden Einwirkung und dem Gesundheitsschaden die hinreichende Wahrscheinlichkeit aus (vgl. BSG SozR 2200 § 548 Nr. 38; § 551 Nr. 1). Bezüglich der hier streitigen BK müssen also i.S.d. Vollbeweises eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS (Gesundheitsschaden) und die arbeitstechnischen Voraussetzungen "langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten" oder "langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung" (= haftungsbegründende Kausalität) vorliegen, und dieser Gesundheitsschaden muß i.S.d. unfallrechtlichen Kausalitätslehre (vgl. dazu BSG SozR 2200 § 551 Nr. 1; SozR 3-2200 § 548 Nrn. 4, 11, 14; Bereiter-Hahn/ Schieke/ Mehrtens, a.a.O. § 548 RVO Rdn. 3 und Rdn. 3.4) wesentlich ursächlich oder mitursächlich auf die belastende berufliche Tätigkeit zurückzuführen sein (haftungsausfüllende Kausalität).

Die Regelung der BK nach Nr. 2108 der Anlage zur BKV ist auslegungsbedürftig, weil zahlreiche Zweifelsfragen hinsichtlich der Voraussetzungen für die Anerkennung dieser BK bestehen und der Verordnungsgeber sich abstrakter und unbestimmter Begriffe bedient hat, um - so das BSG - die Berücksichtigung neuer medizinischer Erkenntnisse zu ermöglichen (BSG SozR 5680 Art. 2 Nr. 1; vgl. auch BSG Urteil vom 18.12.1997 - 2 RU 84/94 - = SGb 1999, 39 ff. sowie zuletzt - Die Verfassungsmäßigkeit der Regelung bejahend -: BSG Urteil vom 23.03.1999 - B 2 U 12/98 R -). Zum einen ist nämlich weitgehend ungeklärt, was z.B. unter "langjährigem Heben und Tragen schwerer Lasten" zu verstehen ist, zum anderen fehlen auch gesicherte Erkenntnisse darüber, ab wann denn nun derartige Belastungen bandscheibenbedingte Erkrankungen im Bereich der LWS verursachen können, zumal sich das Schadensbild auch ohne körperliche Belastung schicksalhaft entwickeln kann und derartige Erkrankungen in der Bevölkerung allgemein weit verbreitet sind (vgl. z.B. Ludolph/ Spohr/ Echtermeyer, BG 1994, 349, 352; Plagemann/ Hontschik, Medizinische Begutachtung im Sozialrecht, 3. Aufl., S. 180).

Unter Berücksichtigung der in dem zur BK 2108 vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung herausgegebenen Merkblatt für die ärztliche Untersuchung (abgedruckt bei Mehrtens/ Perlebach, a.a.O. M 2108 S. 1 ff.), das zwar keine verbindliche, im Range der Verordnung stehende Erläuterung darstellt, aber Hinweise für die Beurteilung von möglichen Zusammenhängen aus arbeitsmedizinischer Sicht gibt und daher als wertvolles Hilfsmittel für das Erkennen einer BK anzusehen ist (vgl. dazu Urteil des erkennenden Senats vom 11.11.1998 - L 17 U 141/96 -), beschriebenen Kriterien hat der Senat aufgrund der arbeitstechnischen Ermittlungen der Beklagten keine Zweifel, daß der Kläger während seiner Tätigkeit als Einschaler i.S.d. streitigen BK ausreichend wirbelsäulenbelastend tätig war und daher die arbeitstechnischen Voraussetzungen für die Entstehung der BK (haftungsbegründende Kausalität) gegeben sind.

Ist auch der TAD der Beklagten in seinen Stellungnahmen davon ausgegangen, daß der Kläger mit seiner Tätigkeit als Einschaler von 1955 bis 1973 die arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK 2108 erfüllte und durch diese Zeitdauer von mehr als 17 Jahren auch das Merkmal der Langjährigkeit zu bejahen ist, kann dahingestellt bleiben, ob insbesondere während der Poliertätigkeit des Klägers bei der Firma P ... entsprechend den Feststellungen des TAD der Beklagten lediglich mit einem Zeitanteil von 24 % nicht in der überwiegenden Anzahl der Arbeitsschichten eine überdurchschnittliche Belastung i.S.d. BK 2108 anzunehmen ist. Jedenfalls kann entgegen der von der Beklagten wohl nicht mehr ernsthaft vertretenen Auffassung nicht davon ausgegangen werden, der Kläger habe, weil er seit 1973 als Polier wirbelsäulenbelastende Tätigkeiten in geringerem Umfang verrichtete, die wirbelsäulenschädigenden Tätigkeiten bereits vor dem 01.04.1988 aufgegeben, und schon deshalb sei aufgrund der Rückwirkungsklausel des Art. 2 Abs. 2 der 2. ÄndVO zur BKV ein Entschädigungsanspruch ausgeschlossen. Die Stichtagsregelung der genannten Bestimmung knüpft an den Eintritt des Versicherungsfalls an. Für den Ausschluß für Entschädigungsansprüchen bedeutet dies, daß bereits vor dem Stichtag des 01.04.1988 sämtliche Tatbestandsmerkmale der BK erfüllt gewesen sein müßten. Insoweit läßt sich hier aber nicht feststellen, daß bereits vor dem 01.04.1988 eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS vorgelegen und diese insbesondere vor dem Stichtag objektiv zur Unterlassung aller LWS-belastenden Tätigkeiten gezwungen hat. Mithin ist vorliegend der Eintritt des Versicherungsfalls vor dem Stichtag nicht feststellbar.

Nicht wahrscheinlich gemacht ist hingegen - wie das SG zutreffend erkannt hat - die haftungsausfüllende Kausalität. Der Senat stützt sich in der medizinischen Beurteilung in erster Linie auf das im sozialgerichtlichen Verfahren eingeholte Gutachten von Dr. F ..., durch das - im Ergebnis - die medizinische Beurteilung der Zusammenhangsfrage durch den im Verwaltungsverfahren beratungsärztlich gehörten Dr. H ..., dessen Darlegungen urkundsbeweislich zu verwerten waren, bestätigt worden ist. Beim Kläger liegen nach den Feststellungen des Sachverständigen auf orthopädischem Fachgebiet die im Tatbestand dieses Urteils aufgeführten Gesundheitsstörungen vor.

Nach Abschnitt III des o.a. Merkblatts für die ärztliche Untersuchung können unter bestimmten Umständen durch Heben und Tragen schwerer Lasten oder durch Arbeiten in extremer Rumpfbeugehaltung folgende bandscheibenbedingte Erkrankungen verursacht werden: lokales Lumbalsyndrom, mono- und polyradikuläre lumbale Wurzelsyndrome sowie ein Kaudasyndrom. Unter bandscheibenbedingten Erkrankungen sind nach der Amtlichen Begründung der Bundesregierung zur 2. ÄndVO (Bundesrats-Drucksache 773/92) Bandscheibendegeneration (Diskose), Instabilität im Bewegungssegment, Bandscheibenvorfall (Prolaps), degenerative Veränderungen der Wirbelkörperabschlußplatten (Osteochondrose), knöcherne Ausziehung an den vorderen und seitlichen Randleisten der Wirbelkörper (Spondylose), degenerative Veränderungen der Wirbelgelenke (Spondylarthrose) mit den durch derartige Befunde bedingten WS-Syndromen und Funktionseinschränkungen zu verstehen. Sowohl die Bandscheibenverschmälerung als auch die sekundären degenerativen Veränderungen des Bewegungssegments müssen - damit eine BK angenommen werden kann - das altersübliche Maß der natürlichen Bandscheibendegeneration deutlich überschreiten - sog. "Linksverschiebung" - (vgl. Mehrtens/ Perlebach, a.a.O., M 2108 Rdn. 7.1 S. 26 b; Schönberger/ Mehrtens/ Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 6. Aufl., S. 529, 537; Seehausen BG 1996, 444, 445; Pöhl/ Eilebrecht/ Hax/ Römer, BG 1997, 670, 676; Rompe/ Thürauf, Med. Sach. 1998, 116, 118; Urteil des erkennenden Senats vom 27.05.1998 - L 17 U 220/96 -; Beschluss vom 07.05.1999 - L 17 U 227/98 -; Urteil vom 11.08.1999 - L 17 U 107/98 -; LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 24.07.1997 = HVBG VB 25/98; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 13.08.1997 = HV-Info 30/1997 S. 2848 ff.).

Hiervon ausgehend liegt beim Kläger zwar eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS vor, weil es sich bei dem operierten Bandscheibenvorfall und den degenerativen Veränderungen im Segment L3/4 um solche handelt, die dem Alter des Versicherten deutlich vorauseilen und die damit BK en-relevant sind. Jedoch sprechen gewichtige Faktoren dagegen, daß die Bandscheibenschädigung im Be reich L3/4 wesentlich ursächlich auf die berufliche Tätigkeit des Klägers zurückzuführen ist.

Zum einen sind die wegen ihrer biomechanischen wie anatomischen Sonderstellung für angreifende Axial-, Scher- und Torsionskräfte ohnehin empfindlichen Segmente L4/5 und L5/S1 beim Kläger gerade frei von degenerativen Veränderungen bzw. weisen - das Segment L5/S1 betreffend - allenfalls altersentsprechende Veränderungen auf und außerdem ist dies auch bei den weiter oben liegenden Segmenten L1/2 und L2/3 der Fall. In den Segmenten L4/5 und L5/S1 fehlt es nicht nur an einer erheblichen Höhenminderung der Zwischenwirbelräume mit einer ausgeprägten Osteochondrose, sondern in den oberen Segmenten L1/2 und L2/3 fehlt es auch entsprechend an spondylophytären Veränderungen. Damit aber fehlt es an der erforderlichen Belastungskonformität, die für einen Ursachenzusammenhang mit den beruflichen Belastungen spräche (vgl. Mehrtens/ Perlebach, a.a.O., M 2108 Rdn. 7.1 S. 27). Zum anderen bestehen beim Kläger vergleichbare degenerative Veränderungen wie im Segment L3/4 auch an verschiedenen Segmenten der mittleren und unteren BWS, insbesondere aber an den Segmenten C3/4, C4/5 und C5/6 der HWS. Diese gleichartigen Veränderungen sprechen - wie der SV zu Recht dargetan hat - in hohem Maße für eine bestehende Schadens- bzw. Krankheitsanlage, weil der Kläger beruflichen Belastungen i.S.d. BK Nr. 2109 (bandscheibenbedingte Erkrankungen der HWS) nicht ausgesetzt war und für den Bereich der BWS keine Listen-BK existiert. So ist auch im Schrifttum anerkannt, daß eine polysegmentale Verteilung der Bandscheibenerkrankungen mit Beteiligung auch der HWS und der BWS auf eine starke konstitutionelle Veranlagung zum BS-Verschleiß hinweist. Bei polysegmentaler Verteilung ist ein Ursachenzusammenhang zwischen einer band scheibenbedingten Erkrankung der LWS und der beruflichen Belastung in der Regel als unwahrscheinlich anzusehen. Eine Wertung der beruflichen Belastungen als wesentliche Teilursache ist in Ausnahmefällen nur dann möglich, wenn ausgeprägte berufliche Belastungen vorgelegen haben und die Erkrankung im LWS-Bereich erkennbar einen größeren Schweregrad aufweist als in den anderen WS-Abschnitten (vgl. Mehrtens/ Perlebach, a.a.O. M 2108 Rdn. 7.1 S. 30; Plagemann/ Hontschik, a.a.O., S. 183). Gerade dies aber ist - wie oben dargelegt - beim Kläger nicht der Fall.

Aufgrund dieser herrschenden arbeitsmedizinischen Auffassung ist Dr. F ... daher zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, daß aufgrund der vorliegenden Untersuchungsbefunde nicht wahrscheinlich gemacht werden kann, daß die Bandscheibendegeneration der LWS bei L3/4 wesentlich ursächlich auf die belastende Tätigkeit i.S.d. BK 2108 zurückgeführt werden kann.

Das Berufungsvorbringen des Klägers gibt weder Anlaß zu einer an deren rechtlichen Beurteilung noch zu weiteren Ermittlungen, so daß der Senat den schriftsätzlich gestellten Hilfsanträgen nicht zu folgen brauchte.

Die arbeitstechnischen Voraussetzungen für die BK nach Nr. 2108 sind vorliegend - wie o.a. - als bewiesen anzusehen. Dabei geht der Senat zugunsten des Klägers davon aus, daß er auch während der Zeit der Tätigkeit als Polier hinreichenden Belastungen i.S.d streitigen BK ausgesetzt war. Davon ist auch der SV Dr. F ... ausgegangen.

Weitere medizinische Ermittlungen waren ebenfalls nicht erforderlich.

Wird die Entscheidung des Senats bereits allein durch die fehlende Belastungskonformität der vergleichsweise geringen degenerativen Veränderungen im LWS-Bereich getragen, ist zudem die - medizinisch laienhafte - Behauptung des Klägers, es liege bei ihm kein polysegmentaler Befall der gesamten WS vor, weil die Veränderungen in der HWS und BWS jeweils unterschiedliche und andere Ursachen hätten als die in der LWS und sich auch nicht auf diese aus wirkten, medizinisch durch nichts belegt und widerspricht den einleuchtenden und überzeugenden Darlegungen des SV Dr. F ... Da der Kläger im Berufungsverfahren auch keinen Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens nach § 109 SGG gestellt hat, mußte die Berufung mit der Kostenfolge des § 193 SGG erfolglos bleiben.

Zur Revisionszulassung bestand kein Anlaß (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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