L 17 U 246/00

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
17
1. Instanz
SG Köln (NRW)
Aktenzeichen
S 18 U 157/97
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 17 U 246/00
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 2 U 40/02 B
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 14. April 2000 geändert. Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist die Berücksichtigung eines höheren Jahresarbeitsverdienstes (JAV) bei der dem Kläger von der Beklagten gewährten Verletztenrente.

Der 1939 geborene Kläger war nach anfänglicher beruflicher Tätigkeit als Metzger und einer Umschulung zum Bürokaufmann ca. 14 Jahre als Angestellter bei der ...-Bank AG in W ... beschäftigt. Seit Beendigung dieses Arbeitsverhältnisses am ...1987 ist er arbeitslos und steht seit dem 01.09.1987 im Leistungsbezug der Bundesanstalt für Arbeit, zuletzt in Form von Arbeitslosenhilfe.

Am 04.07.1994 erlitt er auf dem Weg zu seinem Geldinstitut, um erstmals nach Überweisung der Leistungen des Arbeitsamtes am 22.06.1994 Geld abzuheben, einen Unfall, bei dem er sich einen Bruch seines linken Handgelenks zuzog.

Die Beklagte bewilligte dem Kläger mit Bescheid vom 05.06.1996 wegen der Folgen dieses Arbeitsunfalls ab 22.02.1996 eine Dauerrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 v.H. und legte der Berechnung der Rente den Mindest-JAV in Höhe von 28.224,- DM (60 v.H. der zur Zeit des Arbeitsunfalls maßgebenden Bezugsgröße in Höhe von 47.040,- DM) zuzüglich der Anpassungen zugrunde.

Zur Begründung seines dagegen erhobenen Widerspruchs machte der Kläger die Feststellung des JAV nach billigem Ermessen gem. § 577 der Reichsversicherungsordnung (RVO) geltend.

Mit Widerspruchsbescheid vom 27.05.1997 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers im Wesentlichen mit der Begründung zurück, eine erhebliche Unbilligkeit des zugrundegelegten Mindest-JAV sei nicht zu erkennen, weil der Kläger im Unfallzeitpunkt bereits an nähernd sieben Jahre arbeitslos gewesen sei und Arbeitslosenhilfe bezogen habe.

Am 30.06.1997 hat der Kläger beim Sozialgericht (SG) Köln Klage erhoben und weiterhin eine höhere Verletztenrente unter Zugrunde legung eines nach billigem Ermessen höher festzustellenden Mindest-JAV begehrt. Zur Begründung hat er u.a. ausgeführt, bei der Berechnung seiner Rente müsse von dem Einkommen ausgegangen werden, das er durch seine letzte Erwerbstätigkeit erzielt habe, weil er unfreiwillig arbeitslos geworden sei, sich vom Erwerbsleben nicht abgewandt habe und die zuletzt von ihm bezogene Arbeitslosenhilfe nicht seiner normalen Lebenshaltung entspreche.

Nach Erörterung der Umstände, die zur Beendigung des letzten Arbeitsverhältnisses des Klägers führten, und seinem Vortrag, dass er sich in der Folgezeit auch außerhalb des Bankgewerbes um eine Arbeitsstelle beworben habe, hat das SG von der Beklagten aufgrund der Rentenversicherungsunterlagen der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) den JAV des Klägers zum Unfallzeitpunkt errechnen lassen und sodann die Beklagte verurteilt, unter Abänderung der angefochtenen Bescheide der Rente des Klägers unter Berücksichtigung des § 577 RVO einen höheren JAV zugrundezulegen.

Auf die Entscheidungsgründe des Urteils vom 14.04.2000 wird Bezug genommen.

Gegen das ihr am 19.09.2000 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 27.09.2000 Berufung eingelegt. Sie ist nach wie vor der Ansicht, die Festsetzung des Mindest-JAV im vorliegenden Fall sei bei Berücksichtigung aller Umstände nicht in erheblichem Maß unbillig, weil es sich bei der Arbeitslosigkeit des Klägers nicht nur um eine vorübergehende Notlage handele.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 14. April 2000 zu ändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger, der das erstinstanzliche Urteil für zutreffend hält, beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Streitakte verwiesen. Auf den Inhalt der den Kläger betreffenden Verwaltungsakte der Beklagten, der ebenfalls Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, wird Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist auch begründet.

Das SG hat der Klage zu Unrecht stattgegeben. Die Beklagte hat der Rentenberechnung in den angefochtenen Bescheiden zutreffend gem. § 575 RVO 60 v.H. der im Zeitpunkt des Arbeitsunfalls maßgebenden Bezugsgröße (§ 18 des Vierten Buches des Sozialgesetzbuches - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung - [SGB IV]) zuzüglich der Anpassungen als JAV zugrundegelegt und die Feststellung eines JAV nach billigem Ermessen nach § 577 RVO abgelehnt.

Der Anspruch des Klägers auf Entschädigung wegen der Folgen des Arbeitsunfalls richtet sich noch nach den Vorschriften der RVO, da sich der Versicherungsfall vor Inkrafttreten des nunmehr für die gesetzliche Unfallversicherung maßgebenden Siebten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VII) am 01.01.1997 ereignet hat (Art. 36 des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes [UVEG], § 212 SGB VII). Zur Anwendbarkeit der Vorschrift des § 214 Abs. 3 SGB VII gegen die Wortauslegung des § 214 Abs. 2 Satz 1 SGB VII verweist der Senat auf die zutreffenden Ausführungen des SG und schließt sich ihnen an.

Die Verletztenrente wird in der gesetzlichen Unfallversicherung nach dem JAV berechnet (§ 581 RVO). Nach § 571 Abs. 1 RVO gilt als JAV das Arbeitseinkommen des Verletzten im Jahr vor dem Arbeitsunfall (Satz 1). Für Zeiten, in denen der Verletzte im Jahr vor dem Arbeitsunfall kein Arbeitseinkommen bezog, wird das Arbeitseinkommen zugrundegelegt, das durch eine Tätigkeit erzielt wird, die der letzten Tätigkeit des Verletzten vor dieser Zeit entspricht (Satz 2). Ist er früher nicht tätig gewesen, so ist die Tätigkeit maßgebend, die er zur Zeit des Arbeitsunfalls ausgeübt hat (Satz 3).

Da der Kläger während des vor dem Unfall liegenden Jahres ledig lich Arbeitslosenhilfe und damit kein Arbeitsentgelt (§ 14 Abs. 1 SGB IV) erzielt hat, scheidet eine Berechnung des JAV sowohl nach § 571 Abs. 1 Satz 1 RVO als auch eine Anwendung des § 571 Abs. 1 Satz 2 RVO aus. Die Anwendung des Satzes 1 setzt nämlich voraus, dass der Verletzte während des vor dem Unfall liegenden Jahres ununterbrochen Arbeitsentgelt bezogen hat und die Anwendung des Satzes 2 setzt voraus, dass der Verletzte im Jahr vor dem Arbeitsunfall mindestens während eines Teils dieses Jahres Arbeitsentgelt bezogen hat. Eine Ausfüllung des ganzen Jahres vor dem Arbeitsunfall mit fiktivem Arbeitsentgelt ist nicht zulässig (BSG SozR 2200 § 571 Nr. 23 m.w.N.). Eine Berechnung des JAV nach § 571 Abs. 1 Satz 3 RVO kommt ebenfalls nicht in Betracht, weil der Kläger zur Zeit des Arbeitsunfalls keine entgeltliche Tätigkeit ausgeübt hat (BSG SozR 2200 § 571 RVO Nr. 10), sondern arbeitslos war.

Der JAV des Klägers war deshalb nach § 575 RVO zu bemessen (BSG, a.a.O.; Bereiter-Hahn/Schieke/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, 4. Aufl., § 575 Rdnr. 1). Nach § 575 Abs. 1 Nr. 1 RVO beträgt der JAV 60 v.H. der im Zeitpunkt des Arbeitsunfalls maßgebenden Bezugsgröße (§ 18 SGB IV). Die Bestimmung des JAV in den angefochtenen Bescheiden ist in dieser Weise geschehen. Die im Zeitpunkt des Arbeitsunfalls maßgebende Bezugsgröße betrug 47.040,- DM. 60 v.H. von 47.040,- DM sind 28.224,- DM und die Beklagte hat unter Berücksichtigung der Anpassungen ab 22.02.1996 einen JAV von 28.300,20 DM sowie ab 01.07.1996 einen JAV von 28.433,21 DM zugrundegelegt.

Eine Feststellung des JAV nach billigem Ermessen gem. § 577 RVO hat die Beklagte zu Recht abgelehnt.

Nach dieser Vorschrift, die auch bei der Feststellung des JAV gem. § 575 RVO Anwendung finden kann (BSG, a.a.O.), ist der JAV im Rahmen des § 575 RVO nach billigem Ermessen festzustellen, wenn der u.a. nach § 575 RVO berechnete JAV in erheblichem Maße unbillig ist. Dabei kann das Gericht die Wertung, ob der berechnete JAV in erheblichem Maße unbillig zu niedrig festgesetzt ist, selbst vor nehmen, weil der Unfallversicherungsträger insoweit nicht nach seinem Ermessen entscheidet und ihm in dieser Frage auch kein Beurteilungsspielraum zusteht (BSG vom 09.12.1993 - 2 RU 48/92 - m.w.N.). Erst wenn die in erheblichem Maße bestehende Unbilligkeit feststeht, hat der Unfallversicherungsträger eine Ermessensentscheidung hinsichtlich der Höhe des JAV zu treffen, die nur im Rahmen des § 54 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gerichtlich nachprüfbar ist (BSG vom 30.10.1991 - 2 RU 61/90 -).

Entgegen der Ansicht des SG ergeben sich für eine Unbilligkeit des nach § 575 Abs. 1 Nr. 1 RVO festgestellten JAV keine Anhaltspunkte, insbesondere konnten keine Feststellungen dazu getroffen werden, dass die Zugrundelegung des Mindestarbeitsverdienstes zur JAV-Berechnung in erheblichem Maße unbillig ist. Denn nach der Zielvorstellung des Gesetzgebers (BT-Drucks. IV/120 S. 57 zu §§ 570 bis 578, Begründung zum Entwurf des UVNG vom 30.04.1963; BGBl. I 241 -; s. auch BSGE 28, 274, 276; 44, 12, 14; 51, 178, 180; BSG vom 30.10.1991 - 2 RU 61/90 -) soll das als unbillig empfundene Ergebnis vermieden werden, ein aus besonderen Gründen vorübergehend niedriges, der normalen Lebenshaltung des Verletzten nicht entsprechendes Arbeitsentgelt und Arbeitseinkommen als JAV bei der Rentenberechnung zugrundezulegen und zum Maßstab für die gesamte Laufzeit der Rente zu machen ( BSG SozR 2200 § 571 RVO Nr. 10; BSGE 32, 169, 173; BSG vom 30.10.1991 - 2 RU 61/90 - und vom 09.12.1993 - 2 RU 48/92 -). Solche besonderen, den vorliegen den Einzelfall kennzeichnenden Gründe, die als Ursache dafür in Betracht kommen, die Lebenshaltung nur vorübergehend von der Arbeitslosenhilfe bestreiten zu müssen, sind im Falle des Klägers nicht ersichtlich. Er hatte keine neue Arbeitsstelle in Aussicht und seine Angaben, er habe sich nach dem Verlust seiner Arbeitsstelle auch außerhalb des Bankgewerbes um Arbeit beworben, reichen angesichts des Alters des Klägers - 48 Jahre bei Verlust der letzten Arbeitsstelle und fast 55 Jahre im Unfallzeitpunkt - und der allgemeinen Arbeitsmarktlage keinesfalls aus, um vorliegend begründet davon ausgehen zu können, der Lebensstandard des Klägers beruhe nur vorübergehend auf Leistungen wegen Arbeitslosigkeit bzw. auf Arbeitslosenhilfe. Die Situation des Klägers entsprach bzw. entspricht vielmehr dem Schicksal einer Vielzahl von älteren Langzeitarbeitslosen, deren Chancen, auf den Arbeitsmarkt zurückkehren zu können, bei der schon seit Jahren bestehenden hohen Arbeitslosenquote als äußerst gering einzuschätzen sind.

Auch der vom SG vorgenommene Vergleich mit den vom BSG entschiedenen Fällen (vgl. BSGE 44, 12; 28,274) führt zu keiner anderen Beurteilung.

Zwar ist die Feststellung des SG richtig, dass sich die Lebenssituation des Klägers von den Lebensverhältnissen der Verletzten in diesen beiden Fällen unterschied, jedoch ist weder allein wegen der unterschiedlichen Sachverhalte noch wegen der Annahme des SG, vorliegend habe sich der Kläger im Gegensatz zu diesen beiden Fällen noch nicht vom Erwerbsleben abgewandt, der Schluss zu lässig, es sei nicht gerechtfertigt, bei der Festsetzung des JAV des Klägers sein vormaliges Erwerbsleben völlig außer Acht zu lassen. Denn weder der Entscheidung im Fall des Gewerkschaftsse kretärs (BSGE 44, 12) noch dem Urteil im Fall der Packerin (BSGE 28, 274) ist zu entnehmen, dass nur dann nicht mehr von einem aus besonderen Gründen vorübergehend niedrigen, der normalen Lebenshaltung des Verletzten nicht entsprechenden Arbeitseinkommen auszugehen ist und nur dann das vormalige Erwerbsleben außer Acht gelassen werden kann, wenn der Verletzte aus dem Arbeitsleben ausgeschieden ist, bzw. sich vom Erwerbsleben abgewandt hat. Denn im ersten Fall war für die nicht angenommene Unbilligkeit nicht entscheidend, dass der Verletzte aus dem Arbeitsleben ausgeschieden war, sondern vielmehr, dass sein Lebensstandard nicht mehr auf dem Arbeitseinkommen als Gewerkschaftssekretär, sondern auf Dauer auf dem Bezug von Renten und Leistungen wegen Arbeitslosigkeit beruhte. Auch vorliegend beruhte der Lebensstandard des Klägers wegen der fast siebenjährigen Arbeitslosigkeit aber auf Dauer auf den Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit, und im übrigen waren auch keinerlei Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Kläger wieder ins Arbeitsleben eintreten könnte: Und der Entscheidung des BSG im Fall der Packerin, die seit 1945 nicht mehr erwerbstätig gewesen war und sich seit ihrer Verheiratung 1948 nur ihren familiären Aufgaben gewidmet hatte, ist entgegen dem SG zum einen nicht zu entnehmen, dass eine sich über Jahre erstreckende Erwerbslosigkeit allein noch nicht ausreichend sein muss, die Annahme zu begründen, der Verletzte habe sich vom Erwerbsleben gelöst. Vielmehr hat das BSG in dieser Entscheidung jedenfalls (mehrere) Jahre, also wenigstens zwei, insoweit als ausreichend für die Lösung von der früheren Tätigkeit angesehen und nur einen darunterliegenden erheblichen Zeitraum ggf. allein als nicht ausreichend betrachtet. Zum anderen aber, und dies ist entscheidend bei der Frage, ob die Entscheidungsgründe im Fall der Packerin als Argumentationshilfe für den vorliegenden Fall herangezogen werden können, ist diesen nicht etwa zu entnehmen, dass bei einem Langzeitarbeitslosen die Beziehung zu der vor Beginn der Arbeitslosigkeit ausgeübten Tätigkeit bestehen bleibt. Eine solche Aussage enthält dieses Urteil schon deshalb nicht, weil das BSG derartige Fälle von Langzeitarbeitslosigkeit bei der damals herrschenden Arbeitsmarktlage von 1964 offensichtlich nicht im Auge hatte und Arbeitslosigkeit ebenso wie Fälle von Krankheit und sonstigen Gründen, z.B. unbezahltem Urlaub, erkennbar als ein Fall behandelt wurde, in dem der Verletzte nur "zeitweise" oder "für gewisse Zeit", also kurzzeitig nicht erwerbstätig war.

Ist mithin eine erhebliche Unbilligkeit im Sinne von § 577 Satz 1 RVO bei dem vorliegend von der Beklagten nach § 575 Abs. 1 Nr. 1 RVO bestimmten Mindest-JAV nicht festzustellen, kommt eine Bestimmung des JAV im Rahmen des § 575 RVO (3. Verordnung über die Höchstgrenze des JAV vom 11.12.1991 [BGBl. I S. 2198]) nach billigem Ermessen nicht mehr in Betracht.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Zur Revisionszulassung bestand kein Anlass, weil ihre Voraussetzungen nicht vorliegen (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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