S 12 P 149/00

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Dortmund (NRW)
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
12
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 12 P 149/00
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid der Beklagten vom 29.02.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.07.2000 wird aufgehoben. Die Beklagte hat der Klägerin deren außergerichtliche Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Pflegegeld im Umfang der Pflegestufe 11 statt im Umfang der Pflegestufe l über den 29.02.2000 hinaus.

Die am geborene und bei der Beklagten sozial pflegeversicherte Klägerin leidet im Wesentlichen an einer geistigen Retardierung, an einem epileptischen Anfallsleiden und an einem Zustand nach Teilentfernung der Brustdrüsen bei übermäßigem Brustwachstum. Sie lebt mit ihren Eltern in einer Wohnung. Seit dem Schuljahr ... besucht die Klägerin eine Schule für geistig Behinderte(Sonderschule).

Die Klägerin bezog von der Beklagten zunächst Pflegegeld im Umfang der Pflegestufe l für die Zeit ab April 1995. Ein Widerspruch vom 12.06.1995 mit dem Ziel, Pflegegeld im Umfang der Pflegestufe 11 zu erhalten, blieb erfolglos.

Aufgrund eines Verschlimmerungsantrages vom 31.10.1996 wurde die Klägerin am 15.01.1997 erneut in häuslicher Umgebung durch den Medizinischen Dienst ... begutachten täglichen Hilfebedarf in der Grundpflege von 135 Minuten der Pflegestufe 11 zugeordnet. Daraufhin bewilligte die Beklagte der Klägerin mit Bescheid vom 28.04.1997 Pflegegeld im Umfang der Pflegestufe 11 für die Zeit ab November 1996.

In einem am 20.01.1999 nach Aktenlage durch den MDK erstellten weiteren Gutachten wurde die Klägerin ebenfalls der Pflegestufe II zugeordnet.

Am 09.11.1999 erfolgte eine Nachuntersuchung durch den MDK in häuslicher Umgebung. Die Klägerin wurde mit einem geschätzten täglichen Hilfebedarf m der Grundpflege von 62 Minuten der Pflegestufe l zugeordnet. Die Beklagte führte zunächst unter dem 08.02.2000 eine schriftliche Anhörung über die Absicht durch, ab März 2000 nur noch Leistungen der Pflegestufe l zu gewähren. Daraufhin hat die Klägerin "Widerspruch" erhoben. Ihr Zustand habe sich nicht verbessert, leider etwas verschlimmert. Mit Schreiben vom 29.02.2000 ohne Rechtsmittelbelehmng teilte die Beklagte mit/ sie hebe hiermit ihre Kostenzusage vom 28.04.1997 zum 29.02.2000 auf.

Am 08.03.2000 erfolgte eine weitere Begutachtung der Klägerin in häuslicher Umgebung. Mit einem geschätzten täglichen Hilfebedarf in der Grundpflege von 64 Minuten wurde sie der Pflegestufe l zugeordnet. Mit Bescheid vom 31.07.2000 hat die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurückgewiesen. Als Rechtsgrundlage wurde § 48 Abs. 1 S. 1 Zöhntes Buch Sozialgesetzbuch angegeben.

Mit der am 03.08.2000 erhobenen Klage wendet sich die Klägerin gegen die Herabsetzung des Pflegegeldes. Sie trägt vor, der Bescheid vom 28.04.1997 sei weiterhin wirksam, denn er sei weder durch den Bescheid vom 29.02.2000, noch durch den Widerspruchsbescheid vom 31.07.2000 aufgehoben worden. Eine Änderung im Sinne von § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch liege nicht vor.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 29.02.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.07.2000 aufzuheben.

Die in dem Termin zur mündlichen Verhandlung und Entscheidung des Rechtsstreits am 31.01.2002 nicht vertretene Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen.

Sie hält ihre Entscheidung weiterhin für rechtmäßig und verweist auf den Inhalt ihres Widerspruchsbescheides sowie eine weitere Stellungnahme des MDK vom 08.10.2001.

Das Gericht hat von der Mutter der Klägerin einen Fragebogen zum Hilfebedarf (Ermittlungsbogen) ausfüllen lassen. Es hat von dem behandelnden Kinderärzte ... aus ... einen Befundbericht eingeholt sowie von der ... aus ... eine Auskunft. Schließlich hat das Gericht ein Sachverständigengutachten zum Hilfebedarf der Klägerin erstellen lassen durch Dr ... leitende Ärztin des ... Die Sachverständige hat die Klägerin am 19.07.2001 in häuslicher Umgebung begutachtet und ihr Gutachten am 24.07.2001 erstattet.

Die Sachverständige hat unter dem 24.08.2001, dem 06.11.2001 und dem 23.11.2001 jeweils ergänzende Stellungnahmen zu dem Gutachten abgegeben.

Wegen der Inhalte und der Ergebnisse des Ermittlungsbogens, des Befundberichts, der Auskunft der Schule, des Sachverständigutachtens und der ergänzenden Stellungnahmen der Sachverständigen wird auf die Gerichtsakte verwiesen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten-Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die Kammer konnte den Rechtsstreit verhandeln und entscheiden, obwohl die Beklagte in dem Termin zur mündlichen Verhandlung und Entscheidung des Rechtsstreits am 31.01.2002 nicht vertreten war. Die Beklagte ist in der ihr ordnungsgemäß zugestellten Benachrichtigung von dem Termin auf diese Möglichkeit hingewiesen worden.

Die Klage ist isolierte Anfechtungsklage im Sinne von § 54 Abs. 1 S. 1, 1. Alternative Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig. Die Klägerin begehrt die Aufhebung des Änderungsbescheides vom 29.02.2000 in der Gestatt des Widerspruchsbescheides vom 31.07.2000 mit der Folge, dass die ursprüngliche Bewilligung über Pflegegeld im Umfang der Pflegestufe 11 vom 28.04.1997 wieder auflebt. Die Klage ist begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzten die Klägerin in ihrem Anspruch auf Pflegegeld im Umfang der Pflegestufe II aus § 37 Abs. 1 S. 3 Nr. 2 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI).

Die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 S. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) für die Aufhebung eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung bei Änderung der Verhältnisse lagen im Zeitpunkt des Änderungsbescheides vom 29.02.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.07.2000 nicht vor:

Gem. § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Eine Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen ist wesentlich, wenn sie rechtserheblich ist. Sie muss dazu geführt haben, dass der Verwaltungsakt jetzt nicht mehr ergehen dürfte (Schroeder-Printzen-Wiesner, SGB X, 3. Auflage, § 48 Rn. 9).

Daran fehlt es hier. Es ist nicht so, dass die Klägerin zunächst (von April 1995 bis Dezember 1996) der Pflegestufe l zuzuordnen war, zwischenzeitlich (von Dezem-w ber 1996 bis Februar 2000) der Pflegestufe II zuzuordnen war und dann (ab März 2000) wieder der Pflegestufe l zuzuordnen war. Vielmehr ist es so, dass die Klägerin seit April 1995 durchgängig der Pflegestufe l zuzuordnen war.

Pflegebedürftig sind gemäß § 14Abs.1 SGB XI Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens 6 Monate, in erheblichem oder höherem Maße der Hilfe bedürfen.

Für die Gewährung von Leistungen sind Pflegebedürftige Personen ?D gem. § 15 Abs. 1 S. 1 SGB XI einer von drei Pflegestufen zuzuordnen. Pflegebedürftige der Pflegestufe l (erheblich Pflegebedürftige) sind gem. § 15 Abs. 1 S. 1 SGB XI Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen. Der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, muss wöchentlich im Tagesdurchschnitt gemäß § 15 Abs.3 Nr. 1 SGB XI in der Pflegestufe l mindestens 90 Minuten betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen.

Pflegebedürftige der Pflegestufe II (Schwerpflegebedürftige) sind gem. § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB XI Personen/ die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität mindestens drei Mal täglich zu verschiedenen Tageszeiten der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen. Der Zeitaufwand, den eine nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, muss wöchentlich im Tagesdurchschnitt gemäß § 15 Abs.3 Nr. 1 SGB XI in der Pflegestufe II mindestens S Stunden betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mindestens 2 Stunden entfallen.

Die Klägerin hatte sowohl im Zeitpunkt des Bescheides über die Bewilligung von Pflegegeld im Umfang der Pflegestufe 11 (28.04.1997) als auch im Zeitpunkt des Änderungsbescheides (29.02.2000) in der Grundpflege einen täglichen Hilfebedarf von ca. 75 Minuten.

Dies steht zur Überzeugung der Kammer fest nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens, insbesondere nach den Ausführungen der gerichtlichen Sachverständigen Dr. UHn ihrem Gutachten vom 24.07.2001 und in ihrer ersten ergänzenden Stellungnahme vom 24.08.2001:

In der ergänzenden Stellungnahme vom 24.08.2001 hat die gerichtliche Sachverständige überzeugend ausgeführt, unter Berücksichtigung der Gesundheitsstörungen der Klägerin sei es nicht nachvollziehbar, dass es zwischen 1996 und 1997 zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes und somit zu einer Zunahme des Hilfebedarfs gekommen sei. Der Sachverständigen ist darin zuzustimmen, dass dem Gutachten des MDK vom 23.04.1997 (Hausbesuch 15.01.1997) nicht zu entnehmen ist, warum der Hilfebedarf insbesondere im Bereich der Ernährung nunmehr 60 Minuten (statt zuvor 20 Minuten) betragen haben soll, zumal bei der Nahrungsaufnahme 5 Mal täglich lediglich Teilhilfen für erforderlich gehalten wurden. Zur Begründung für den gegenüber den Vorgutachten deutlich höher eingeschätzten Hilfebedarf wurde lediglich ausgeführt, seit November 1996 sei wegen gehäufter cerebraler Krampfanfälle kein Schulbesuch mehr möglich. Bei den Anfällen sei die Klägerin nicht ansprechbar, sie würde speicheln und einnässen, würde stürzen, es käme häufiger zum Zungenbiß; gehäuft würden diese Krampanfälle auch bei Fieber auftreten.

Da die Klägerin sicher nicht während eines Krampsanfalles grundpflegerisch versorgt wurde, ist nicht nachvollziehbar, warum die Zunahme der Krampfanfälle zu einem höheren Hilfebedarf in der Grundpflege - insbesondere bei der Nahrungsaufnahme - geführt haben sollte.

In dem nach Aktenlage am 20.01.1999 erstellten Gutachten des MDK wurde dann auch trotz der Zugrundelegung einer Frequenz von nur noch 4 statt zuvor 8 Anfällen täglich von der Pflegestufe II ausgegangen. Zwar wurde"-auf eine massive Vergrößerung der Brüste mit nachfolgender Haltungsschwäche, drohenden Hautproblemen und ständigen Schmerzen hingewiesen. Ob und ggf. wie sich dies auf den Hilfebedarf in der Grundpflege ausgewirkt hat, wurde jedoch nicht ausgeführt. Ein Zusammenhang mit dem hohen Hilfebedarf bei der Nahrungsaufnahme von täglich 60 Minuten ist nicht erkennbar.

Aus diesem Grund vermochte sich die Kammer auch nicht den Ausführungen der Sachverständigen in ihrer dritten ergänzenden Stellungnahme vom 23.11.2001 anzuschließen, in denen die gerichtliche Sachverständige eine Verringerung des Hilfebedarfs nach der operativen Brustverkleinerung für "nachvollziehbar" hält. Die gerichtliche Sachverständige führt selbst weiterhin aus, es könne keine kritische Würdigung des Hilfebedarfs der Klägerin im Einzelnen zum Zeitpunkt Januar 1999 erfolgen, da Einzelheiten zum Pflegebedarf in der Stellungnahme von Januar 1999 nicht enthalten seien.

Im MDK-Gutachten vom 14.12.1999 (Hausbesuch 09.11.1999) wurde die Feststellung eines Hilfebedarfs in der Grundpflege von 62 Minuten täglich statt zuvor 135 Minuten täglich damit begründet, der Gesundheitszustand der Klägerin habe sich unter der jetzigen Medikation stabilisiert. Eine Beeinflussung des Krankheitsbildes der Klägerin, wie zu Eingang des Tatbestands beschrieben, ist lediglich in Bezug auf die epileptischen Anfälle möglich. Wie bereits ausgeführt, ist nicht nachvollziehbar, dass die zwischenzeitlich häufigeren Krampfanfälle einen höheren Hilfebedarf in der Grundpflege - insbesondere bei der Nahrungsaufnahme - verursacht haben.

Weder dem Befundbericht des behandelnden Kinderarztes vom 20.12.2000, noch der Auskunft der von der Klägerin besuchten Schule vom 27.01.2001 ist zu entnehmen, dass die Klägerin von April 1997 bis Anfang 2000 einen höheren Hilfebedarf in der Grundpflege hatte.

Es konnte offen bleiben, ob der Bescheid vom 29.02.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.07.2000 in die Rücknahme eines von Anfang an rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes nach § 45 SGBX umgedeutet werden könnte. Beim Erlass des Bescheids vom 29.02.2000 war die Frist für die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung von 2 Jahren nach seiner Bekanntgabe (§ 45 Abs. 3 S. 1. SGB X) bereits verstrichen. Die unbefristete Bewilligung über Leistungen der Pflegestufe II datiert vom 28.04.1997.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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