B 11 AL 79/00 R

Land
Bundesrepublik Deutschland
Sozialgericht
Bundessozialgericht
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 11 AL 79/00 R
Datum
Kategorie
Urteil
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 24. August 1999 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Gründe:

I

Die Klägerin begehrt die Rücknahme eines Bescheides, mit dem die Beklagte die Bewilligung von Arbeitslosengeld (Alg) wegen fehlender Verfügbarkeit aufgehoben hat.

Die 1965 geborene Klägerin, die im Juni 1991 durch die Arbeitsamtsärztin Dr. H. untersucht worden war und der die Beklagte für die Zeit ab 1. Dezember 1992 Alg bewilligt hatte, lehnte es am 12. Juli 1993 im Rahmen eines mit Arbeitsamtsmitarbeitern geführten Beratungsgesprächs ab, sich einer amtsärztlichen Untersuchung zu unterziehen. Daraufhin hob die Beklagte die Alg-Bewilligung ab 12. Juli 1993 mit der Begründung auf, die Klägerin sei nicht bereit, EDV- bzw sitzende Tätigkeiten im Rahmen ihres im Juni 1991 ärztlich festgestellten Leistungsvermögens auszuüben; sie stehe deshalb der Arbeitsvermittlung nicht mehr zur Verfügung; zu Unrecht bezogene Leistungen in Höhe von 471,90 DM seien zu erstatten (Bescheid vom 2. August 1993). Dieser Bescheid wurde bestandskräftig.

Am 5. April 1994 meldete sich die Klägerin erneut arbeitslos. Nachdem sie sich bereit erklärt hatte, sich untersuchen zu lassen, wurde ihr Alg ab 5. April 1994 bewilligt.

Nachdem ein im Mai 1994 gestellter Überprüfungsantrag der Klägerin bestandskräftig abgelehnt worden war, beantragte die Klägerin mit Schreiben vom 10. Februar 1997 sinngemäß, den Bescheid vom 2. August 1993 nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) zu überprüfen und zurückzunehmen. Diesen Antrag lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 17. Februar 1997, Widerspruchsbescheid vom 10. März 1997).

Die dagegen gerichtete Klage hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen (Urteil vom 11. September 1997). Im Berufungsverfahren vor dem Landessozialgericht (LSG) hat die Klägerin ua geltend gemacht, sie sei aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen entgegen der Einschätzung des dem Bescheid vom 2. August 1993 zugrundeliegenden Gutachtens der Dr. H. von 1991 nicht für Büroberufe bzw Arbeiten an EDV-Arbeitsplätzen geeignet. Die Klägerin hat schriftsätzlich mehrere Beweisanträge gestellt (ua gerichtet auf Einholung von Gutachten der Fachärzte Dr. S. , Dr. A. , Dr. W. und Dr. L. ). Zur mündlichen Verhandlung am 24. August 1999 ist die ordnungsgemäß geladene Klägerin nicht erschienen. Ausweislich eines den LSG-Akten zu entnehmenden Vermerks hatte die Klägerin telefonisch mitgeteilt, sie sei krank und rufe nochmals an. Mit Schreiben vom 25. August 1999 hat die Klägerin die Kopie einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung übersandt und mitgeteilt, eine "telefonische Krankmeldung" sei leider nicht möglich gewesen, da sie trotz mehrmaliger Versuche unter einer bestimmten Durchwahl niemanden erreicht habe.

Das LSG hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen und die Revision nicht zugelassen (Urteil vom 24. August 1999). In den Urteilsgründen hat das LSG nach Würdigung aus den Akten ersichtlicher medizinischer Gutachten und Berichte ua ausgeführt, es sei nicht bewiesen, daß die Beklagte zu Unrecht die Bewilligung von Alg wegen fehlender Verfügbarkeit ab 12. Juli 1993 aufgehoben habe; entscheidend sei, daß sich weder aus den eingeholten Arztauskünften noch aus einem vorliegenden Gutachten des Arbeitsamtsarztes Dr. M. vom 19. Oktober 1994 Hinweise darauf ergeben würden, die von der Klägerin im Sommer 1993 geltend gemachten gesundheitlichen Einschränkungen hätten auch tatsächlich zum damaligen Zeitpunkt vorgelegen. Die Klägerin habe auch gewußt, daß ihr Anspruch auf Alg aufgrund der von ihr geltend gemachten Einschränkungen unter gleichzeitiger Weigerung, diese im Wege der Begutachtung überprüfen zu lassen, weggefallen sei. Beweisanträge der Klägerin und die telefonische Nachricht über die krankheitsbedingte Verhinderung der Klägerin werden im Urteil nicht erwähnt.

Mit der - vom Senat zugelassenen - Revision rügt die Klägerin eine Verletzung der §§ 62, 103, 128 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Das LSG sei davon ausgegangen, daß sie sich ausweislich eines Vermerks des Arbeitsamts vom 12.Juli 1993 kategorisch geweigert habe, sich erneut begutachten zu lassen. Sie habe jedoch schriftsätzlich darauf hingewiesen, daß sie keineswegs eine erneute Begutachtung verweigert, sondern es nur abgelehnt habe, sich von Dr. H. erneut untersuchen zu lassen. Diesen Vortrag habe das LSG übergangen; es wäre gehalten gewesen, insoweit Beweis zu erheben. In ihren Schriftsätzen habe sie darauf hingewiesen, daß sie eine Bürotätigkeit auch deshalb nicht hätte ausüben können, weil sie weder über kaufmännische noch über EDV-Kenntnisse verfügt habe. Auch dies habe das LSG übergangen. Mit Schriftsatz vom 25. September 1998 habe sie den Beweisantrag gestellt, Sachverständigengutachten durch den Orthopäden Dr. S. , den Neurologen und Psychiater Dr. A. , den Internisten Dr. W. und die Dermatologin und Allergologin Dr. L. einzuholen; die Tatsachen, über die Beweis zu erheben sei, ergäben sich bereits aus dem Antrag vom 10. Februar 1997, aber auch aus dem Schriftsatz vom 25. September 1998. Sie habe ua auf Migräne, eine Wirbelsäulenerkrankung, auf Ödeme, Krampfadern und Allergien hingewiesen und geltend gemacht, daß sie deshalb eine sitzende Tätigkeit auch in der Vergangenheit nicht habe ausüben können. In Schriftsätzen vom 1. April 1998 und 22. Oktober 1998 habe sie dargelegt, daß diese chronischen Erkrankungen bereits 1993, also auch zur Zeit des Beratungsgesprächs, vorgelegen hätten und sie die Beklagte schon damals auf die Erkrankungen hingewiesen habe. Das LSG, das im Urteil mit keinem Wort auf die Beweisanträge eingegangen sei, habe zur Klärung der Frage, ob sie bereits im Juli 1993 aufgrund der mitgeteilten gesundheitlichen Beschwerden zur Ausübung einer sitzenden Bürotätigkeit in der Lage gewesen sei, die angebotenen Beweise erheben müssen. Dies gelte um so mehr, als das LSG in seinem Urteil auf das Gutachten des Dr. M. vom 19. Oktober 1994 hingewiesen und dieser die von ihr geklagten Beschwerden als nachvollziehbar bezeichnet habe. Das LSG habe somit den Grundsatz des rechtlichen Gehörs und den Untersuchungsgrundsatz verletzt. Der Grundsatz, wonach ein Beweisantrag in der mündlichen Verhandlung aufrechtzuerhalten sei, finde auf sie keine Anwendung, denn sie habe an der mündlichen Verhandlung krankheitsbedingt nicht teilnehmen können; hätte sie am Termin teilgenommen, hätte sie ihren Sachvortrag und die Beweisanträge zu Protokoll wiederholt. Die Erhebung der angebotenen Beweise hätte möglicherweise zu einem für sie günstigen Ergebnis geführt.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

die Urteile des LSG und des SG sowie den Bescheid vom 17. Februar 1997 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 10. März 1997 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, sie unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu zu bescheiden.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

II

Die Revision ist insoweit begründet, als das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.

Von Amts wegen zu berücksichtigende Verfahrensmängel stehen einer Entscheidung des Senats nicht entgegen. Die Berufung gegen das klageabweisende Urteil des SG war zulässig, da es im wirtschaftlichen Ergebnis um die Nachzahlung bzw das Behaltendürfen von Alg für die Zeit vom 12. Juli 1993 bis 4. April 1994 geht (vgl § 44 Abs 4 SGB X) und damit der Wert von 1.000 DM gemäß § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG überschritten ist.

Die Klägerin beansprucht die Rücknahme des unanfechtbar gewordenen Bescheides der Beklagten vom 2. August 1993 nach § 44 SGB X. Mit diesem Bescheid hat die Beklagte die Bewilligung von Alg mit der Begründung aufgehoben, die Klägerin sei ab 12. Juli 1993 nicht mehr verfügbar gewesen. Nach § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, wenn sich im Einzelfall ergibt, daß bei Erlaß des Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Der Verwaltungsakt vom 2. August 1993, wonach der Klägerin Alg für die Zeit ab 12. Juli 1993 nicht mehr gezahlt und überzahltes Alg zurückgefordert wurde, wäre also dann rückwirkend aufzuheben, wenn sich die ihm zugrundeliegende Annahme der Beklagten, die Klägerin sei damals nicht verfügbar gewesen, als unrichtig erweisen würde.

Zu den Voraussetzungen der Verfügbarkeit zählt nach § 103 Abs 1 Satz 1 Nr 2 Buchst a Arbeitsförderungsgesetz die Bereitschaft, jede zumutbare Beschäftigung anzunehmen. Die Beklagte ist bei ihrer Entscheidung vom 2. August 1993 davon ausgegangen, die Klägerin sei nicht bereit gewesen, Büro- bzw EDV-Tätigkeiten anzunehmen, also Beschäftigungen, die ihr nach ihrer gesundheitlichen Leistungsfähigkeit unter Berücksichtigung der Feststellungen der Ärztin Dr. H. aus dem Jahre 1991 zumutbar gewesen seien. Die Klägerin behauptet dagegen das Vorliegen gesundheitlicher Einschränkungen in der strittigen Zeit ab 12. Juli 1993, wonach ihr die genannten Tätigkeiten nicht zumutbar gewesen seien. Das LSG hat insoweit angenommen, die Behauptungen der Klägerin seien nicht bewiesen; weder aus den eingeholten Arztauskünften noch aus dem aus den Akten ersichtlichen Gutachten des Arbeitsamtsarztes Dr. M. ergäben sich Hinweise, daß die geltend gemachten gesundheitlichen Einschränkungen bereits 1993 tatsächlich vorhanden gewesen seien. Die Feststellungen des LSG reichen jedoch für eine abschließende Entscheidung, ob die Klägerin 1993 der Arbeitsvermittlung zur Verfügung stand oder nicht, nicht aus. Das Urteil des LSG beruht auf dem von der Klägerin den Anforderungen des § 164 Abs 2 Satz 3 SGG entsprechend gerügten Verfahrensmangel, daß das LSG unter Verletzung der Amtsermittlungspflicht gemäß § 103 SGG entschieden hat.

Nach § 103 SGG hat das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen. Diese das sozialgerichtliche Verfahren beherrschende Untersuchungsmaxime ist verletzt, wenn das Tatsachengericht Ermittlungen unterläßt, zu denen es sich von seiner Rechtsauffassung ausgehend hätte gedrängt fühlen müssen (BSG SozR 1500 § 160 Nr 5; Meyer-Ladewig, SGG, 6. Aufl, § 103 RdNr 7 ff). Nach der Rechtsauffassung des LSG ist entscheidungserheblich, ob bestimmte Tätigkeiten der Klägerin unter Berücksichtigung ihrer damaligen Leistungsfähigkeit zumutbar waren oder nicht. Das LSG war zur Amtsermittlung verpflichtet, soweit der Sachverhalt und der Beteiligtenvortrag dies nahelegten; dabei war von allen geeigneten Ermittlungsmöglichkeiten erschöpfend Gebrauch zu machen (BSGE 77, 140, 144 = SozR 3-2200 § 1248 Nr 12 mit Hinweis auf SozR Nr 3 zu § 103 SGG). Dies ist unter Berücksichtigung des Sachvortrags der Klägerin nicht geschehen.

Die Klägerin hat sich vor dem LSG auf zahlreiche gesundheitliche Beeinträchtigungen berufen, die im Juli 1993 einer Vermittlung in einen Büroberuf entgegengestanden hätten. Ua hat sie vorgetragen, sie sei wegen mangelnder Konzentrationsfähigkeit infolge von Migräneanfällen und aufgrund von Allergien zur Ausübung einer Bürotätigkeit nicht in der Lage gewesen. Für die Richtigkeit ihres Vortrags hat sie insbesondere in einem Schriftsatz vom September 1998 die Einholung ärztlicher Gutachten - ua durch den Neurologen und Psychiater Dr. A. und die Dermatologin und Allergologin Dr. L. - beantragt. In einem weiteren Schriftsatz vom 22. Oktober 1998 hat sie ausdrücklich vorgetragen, die alten Allergietest-Auswertungen lägen bei Dr. L. vor, so daß diese in der Lage sei, ein entsprechendes Gutachten anzufertigen. Das LSG hat sich demgegenüber bei seiner Entscheidung vorwiegend auf das aus den Akten ersichtliche Gutachten des Dr. M. gestützt und sich insbesondere zu den geltend gemachten Beeinträchtigungen auf neurologisch-psychiatrischem und auf allergologischem Fachgebiet nur unzureichend geäußert. Zur Frage der Migräne hat das LSG zwar Befunde des Dr. M. und der Neurologin Dr. T. erwähnt, ohne hieraus jedoch konkret Folgerungen zu ziehen. In der Frage, inwieweit die Klägerin durch Allergien beeinträchtigt war, hat sich das LSG nur auf das Gutachten Dr. M. bezogen und hieraus gefolgert, dessen Feststellungen bedeuteten nicht, daß die Klägerin überhaupt nicht mehr vermittelbar sei; auf den Vortrag der Klägerin - insbesondere dazu, daß Dr. L. noch im Besitz älterer Testunterlagen sei - ist das LSG nicht eingegangen. Angesichts der wenig aussagekräftigen Befundunterlagen, auf die sich das LSG im Urteil gestützt hat, mußte der schriftsätzliche Vortrag der Klägerin und insbesondere der Antrag auf Einholung von Gutachten eines Neurologen und einer Allergologin Anlaß für das LSG sein, den Beweisanträgen nachzugehen bzw zumindest weitere Ermittlungen in dieser Hinsicht anzustellen.

Die Klägerin hat den Verfahrensmangel der Verletzung der Amtsermittlungspflicht gemäß § 103 SGG den Anforderungen des § 164 Abs 2 Satz 3 SGG entsprechend gerügt. Sie hat die den Mangel ergebenden Tatsachen so genau bezeichnet, daß sie durch das Revisionsgericht beurteilt werden können, insbesondere hat sie auf die Stellung der Beweisanträge, die das LSG übergangen hat, hingewiesen. Aus der Revisionsbegründung ergibt sich auch, daß das Urteil des LSG auf dem Mangel beruhen kann. Dies ist auch der Fall; denn es ist nicht auszuschließen, daß das LSG nach vollständiger Sachaufklärung zu einer anderen Gesamtwürdigung gelangt wäre.

Da das Urteil des LSG bereits wegen Verletzung der Amtsermittlungspflicht gemäß § 103 SGG aufzuheben ist, kann dahinstehen, ob auch der von der Klägerin geltend gemachte Verfahrensmangel einer Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG) vorliegt.

Das angefochtene Urteil ist deshalb aufzuheben und die Sache ist an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Das LSG wird die noch erforderlichen Ermittlungen nachzuholen haben. Für die erneute Entscheidung ist darauf hinzuweisen, daß der zu überprüfende Aufhebungsbescheid auf § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 4 SGB X gestützt worden ist, nicht jedoch auf fehlende Mitwirkung (§ 66 Erstes Buch Sozialgesetzbuch); ob die Voraussetzungen für eine rückwirkende Aufhebung vorlagen, bedarf deshalb einer besonderen Prüfung. Hinzuweisen ist im übrigen auf § 107 SGB X.

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Rechtskraft
Aus
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