L 3 SB 4437/08

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
3
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 9 SB 1098/06
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 3 SB 4437/08
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger erstrebt die behördliche Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von mehr als 60 sowie die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung).

Der 1967 geborene Kläger erlitt bei einem als Wegeunfall anerkannten Motorradunfall am 11.12.2002 eine Oberschenkelschaftfraktur links und eine schwere Tarsometarsalfraktur links mit Decollement und ausgedehnten Nekrosen, die am 13.01.2003 eine Unterschenkelamputation links im proximalen Unterschenkeldrittel zur Folge hatte. Von der Verwaltungs-Berufsgenossenschaft erhielt der Kläger wegen der Unfallfolgen vom 02.06.2003 bis 31.10.2005 eine Rente als vorläufige Entschädigung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 v.H. Seit 01.11.2005 bezieht er eine Rente auf unbestimmte Zeit nach einer MdE um 40 v.H. (Bescheid der Berufsgenossenschaft vom 05.10.2005).

Auf den Erstantrag des Klägers vom 17.04.2003 stellte der Beklagte mit Bescheid vom 07.07.2003 seit 11.12.2002 einen GdB von 50 wegen des Verlustes des linken Beines im Unterschenkel fest. Außerdem wurde dem Kläger das Merkzeichen "G" zuerkannt. Die gleichzeitig beantragte Feststellung des Merkzeichens "aG" lehnte der Beklagte ab.

Am 06.09.2004 beantragte der Kläger eine Erhöhung des GdB sowie erneut die Feststellung des Merkzeichens "aG". Der Beklagte holte hierauf einen Befundbericht des Arztes für Allgemeinmedizin Dr. H. ein. Der Arzt führte in seinem Bericht vom 22.09.2004 unter Beifügung von Arztbriefen des Internisten Dr. B., des Dr. E. von der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik Tübingen und des Chefarztes Dr. S. und Kollegen vom Kreiskrankhaus Rottweil sowie des von Dr. S. gefertigten Durchgangsarztberichtes aus, der Phantomschmerz des Klägers habe zugenommen. Der Kläger benötige täglich 180 mg Morphinsulfat und 75 mg Saroten. Alle Reduzierungsversuche seien an der Schmerzsymptomatik gescheitert. Der Phantomschmerz sei belastungsabhängig und reduziere die Gehstrecke des Klägers auf weniger als 200 Meter. Oberärztin Dr. K., Kreiskrankenhaus Rottweil Abteilung Anästhesie und Intensivmedizin, Schmerzambulanz, gab in ihrem ebenfalls angeforderten Befundbericht vom 21.12.2004 an, sie könne nur unzureichende Angaben zum Gehvermögen, zum Beinverlust und auch zu den Fremdbefunden beim Kläger machen. Der Kläger habe sich bei ihr wegen Phantomschmerzen zur Akupunkturtherapie befunden. Im Verlauf der zehn Sitzungen habe sich nur ein mäßiger Erfolg gezeigt. Die Phantomschmerzen hätten letztendlich unter Belastung weiter zugenommen. Der Kläger legte noch den Abschlussbericht des Dr. D. vom 18.04.2005 über 25 Sitzungen Hypnotherapie (anfänglich deutliche Reduzierung des Schmerzmittelgebrauchs, Schmerzen in den Ruhephasen inzwischen durch die erlernten Techniken kontrollierbar, wobei die anfängliche Reduktion der Schmerzmittel zwischenzeitlich wieder rückgängig habe gemacht werden müssen, starke Schmerzen inzwischen bei Aktivität), ein ärztliches Attest des Chefarztes Dr. P., Kreiskrankenhaus Rottweil, vom 10.05.2005 (maximale Gehstrecke des Klägers beläuft sich zur Zeit lediglich auf 50 bis 100 Meter, anschließend starke Stumpfschmerzen) und der Fachklinik N. über seinen stationären Aufenthalt vom 10.02. bis 03.03.2005, ausweislich dessen es zu einer geringen Besserung der Phantomschmerzen gekommen ist und der Kläger ein absolut sicheres, flottes Gangbild ohne Gehhilfen gezeigt hat, vor. Ergänzend zog der Beklagte sodann noch das von Prof. Dr. W. und dem Chirurgen Dr. L., Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik Tübingen, erstattete Zweite Rentengutachten vom 13.06.2005 bei. Danach betrat der Kläger das Untersuchungszimmer mit flüssigem Gangbild ohne Gehstützen. Diagnostiziert wurden eine Unterschenkelamputation links im proximalen Unterschenkeldrittel mit gut weichteilgedecktem Stumpf, erhebliche Phantomschmerzen nach Amputation, der Verdacht auf ein Neurinom, die Notwendigkeit zur dauerhaften Analgetikaeinnahme und eine konsolidierte Oberschenkelschaftfraktur links mit noch einliegendem Marknagel. Die MdE wurde auf 40 v.H. geschätzt.

Mit Bescheid vom 22.08.2005 lehnte der Beklagte nach Einholung einer Stellungnahme des Beratungsarztes Dr. A. eine Neufeststellung des GdB und die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" ab. Die Funktionsbeeinträchtigungen wurden als "Verlust des linken Beines im Unterschenkel, chronisches Schmerzsyndrom, Kopfschmerzsyndrom" bezeichnet.

Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch, den er damit begründete, dass es seit seinem Erstantrag zu einer wesentlichen Verschlechterung gekommen sei. Er habe früher lediglich Phantomschmerzen in Ruhe und nach Ablegen der Prothese gehabt. Mittlerweile würden die unerträglichen Phantom- und Nervenschmerzen bereits bei der kleinsten Belastung auftreten. Der Weg vom Auto zum Haus oder vom Auto zum Büro sei mittlerweile schon die Grenze des Möglichen. Er gehöre mittlerweile absolut zu dem Personenkreis, dem das Merkzeichen "aG" zustehe. Zur Unterstützung seines Begehrens reichte er ein von dem Arzt für Neurologie und Psychiatrie Prof. Dr. T., Beratender Arzt an der BG-Unfallklinik Tübingen, am 31.08.2005 erstattetes neurologisches Gutachten nach. Danach bewegte er sich langsam, aber mit flüssigem Gangbild bei verschmächtigter Muskulatur des linken Oberschenkels. Er habe seit 2004 bestehende außerordentliche, belastungsabhängig auftretende Schmerzen beklagt, die durch Druck am Wadenbeinköpfchen hätten hervorgerufen werden können. Nach Einholung einer Stellungnahme der Beratungsärztin Naue gab der Beklagte hierauf dem Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 22.02.2006 insoweit statt, als der GdB auf 60 seit 06.09.2004 erhöht wurde. Ein noch höherer GdB und das Merkzeichen "aG" wurden jedoch weiterhin abgelehnt.

Hiergegen hat der Kläger am 21.03.2006 beim Sozialgericht Reutlingen (SG) Klage erhoben und im Wesentlichen geltend gemacht, dass er wegen seiner extremen, belastungsabhängigen Phantom- und Nervenschmerzen trotz der Einnahme von sehr hoch dosiertem Morphium und anderer starker Schmerzmittel nur noch wenige Schritte gehen könne. Die Schmerzen seien schon nach wenigen Schritten derart stark, dass er zur sofortigen Entlastung gezwungen sei. Seit der Revisionsoperation im Dezember 2005, bei der ein Neurom im Bereich des Stumpfes entfernt worden sei, sei es zu einer weiteren Verschlechterung der Schmerzsituation gekommen. Ergänzend teilte er mit, dass auch eine im Sommer 2006 durchgeführte Botox-Therapie ohne jeglichen Erfolg gewesen sei. Zur Unterstützung seines Begehrens hat der Kläger eine Stellungnahme seines Arbeitgebers, des Fördervereins für Psychisch Kranke in Rottweil, vom 11.05.2006, der Firma Orthopädie R. vom 17.05.2006 und einen Arztbrief des Prof. Dr. G. und Dr. Asmus, Neurologische Klinik der Universitätsklinik Tübingen, vom 05.07.2006, in dem über die nicht erfolgreiche Behandlung mit Botulinumtoxin-A berichtet wird, beigefügt.

Das SG hat die den Kläger behandelnden Ärzte Dr. H., den Facharzt für psychotherapeutische Medizin Dr. D., die Anästhesisten PD Dr. M. und Dr. I., die Unfallchirurgen Prof. Dr. W. und Prof. Dr. C., jeweils Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik Tübingen, den Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin Leibelt von der Fachklinik N. und Dr. P. als sachverständige Zeugen gehört (vgl. hierzu Bl. 29/42, 56/57, 71/77, 61/67, 51/55, 43/46 und 47/49 der SG-Akten).

Außerdem hat das SG Kopien der ärztlichen Berichte der Verwaltungs-Berufsgenossenschaft sowie das letzte Rentengutachten und den letzten Rentenbescheid beigezogen. Die Unterlagen befinden sich nicht mehr in der Akte.

Im Anschluss daran hat das SG Beweis erhoben durch Einholung des orthopädischen Sachverständigengutachtens des Prof. Dr. F ... Der Gutachter hat in seinem Gutachten vom 08.08.2007 ausgeführt, der Kläger leide unter einer Amputation des linken Unterschenkels mit leichter Überlänge der Stumpfweichteile bezogen auf den knöchernen Stumpf, reizlosen Operationsnarben am Stumpf, kleinen Hautdefekten an der Stumpfkuppe, einer Abmagerung der Beinmuskulatur auf der linken Seite und einem palpatorisch feststellbaren Neurom des Nervus peronaeus. Der Kläger beklage darüber hinaus Phantomschmerzen. Den GdB stufe er unter Berücksichtigung der objektiven Befunde an der linken unteren Gliedmaße und der vom Kläger angegebenen Phantomschmerzen auf 60 ein. Die Voraussetzungen für das Merkzeichen aG hat er verneint. Welche Gehstrecken vom Kläger noch absolviert würden, sei nicht eindeutig zu beurteilen. Nach seinem Dafürhalten spreche erheblich mehr dagegen als dafür, dass der Kläger tatsächlich nur 50 Meter am Stück oder noch weniger laufen könne.

Sodann hat das SG Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens aus schmerztherapeutischer Sicht bei dem Arzt für Anästhesie und spezielle Schmerztherapie O. gem. § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Der Sachverständige hat in seinem Gutachten vom 17.12.2007 geschildert, der Kläger leide unter den typischen Zeichen einer Chronifizierung seiner Schmerzkrankheit im Sinne eines algogenen Psychosyndroms und Beschwerden aufgrund des hohen Medikamentenbedarfs, insbesondere in Form von Konzentrations- und Gedächtnisstörungen sowie vermehrter Müdigkeit. Der GdB aufgrund der Unterschenkelamputation betrage 50, aufgrund des Psychosyndroms 30, aufgrund der Insomnie 10 und aufgrund der Beeinträchtigung durch psychotrope Medikamente und starke Schmerzmittel ebenfalls 10. Der durch die Unterschenkelamputation bedingte GdB von 50 erhöhe sich vor allem wegen der Phantomschmerzen um weitere 20. Der gesamte GdB belaufe sich auf 70. Gehfähig sei der Kläger für mindestens 50 Meter. Die Gehfähigkeit sei durch Schmerzen eingeschränkt, die glaubhaft praktisch unmittelbar beim Beginn der Bewegung auftreten würden. Aus schmerztherapeutischer Sicht seien chronische Schmerzen, insbesondere Phantomschmerzen, mindestens so ernst zu nehmen wie "große Anstrengungen". Die Beschwerden des Klägers seien auch mit den in den Anhaltspunkten 2004 unter Nr. 31 Abs. 4/2 genannten Erkrankungen der inneren Organe vergleichbar. Nach dieser Argumentation erfülle der Kläger die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "aG" analog zu den Vorgaben, nicht jedoch nach dem strengen Wortlaut.

Ergänzend hat das SG noch Dr. K. als sachverständige Zeugin gehört. Diese hat in ihrer Auskunft vom 14.12.2007 unter Beifügung eines eigenen Arztbriefes ausgeführt, dass der Kläger seit Mai 2007 erneut zur Akupunkturbehandlung in ihre Praxis komme. Er könne sich außerhalb seines Fahrzeugs zwar frei bewegen, allerdings nur die ersten 15 bis 20 Meter, maximal 50 Meter, dann nur noch unter größter Anstrengung. Der GdB sei mit 80 zu bewerten.

Des Weiteren hat das SG weitere Berichte der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik Tübingen vom 21.02.2006, 20.03.2006, 25.09.2006 und 29.06.2007 beigezogen. Nach dem jüngsten Zwischenbericht hat der Kläger weiterhin Stumpfbeschwerden, die sich in messerstichartigen Schmerzen in der Prothese äußerten, beklagt. Dies würde ihn weiterhin etwas einschränken.

Für den Beklagten hat hierzu Dr. U. zuletzt am 04.07.2008 ausgeführt, dass mit dem zuerkannten Teil-GdB von 60 bereits stark ausgeprägte Stumpfbeschwerden mit erfasst seien. Hinsichtlich des Merkzeichens "aG" sei zu sagen, dass sämtliche in den Anhaltspunkten Nr. 31 Abs. 3 beispielhaft aufgezählten Funktionseinschränkungen einen GdB von 80 oder mehr bedingen würden. Selbst wenn man also - rein theoretisch - den im schmerztherapeutischen Gutachten von Herrn O. angegebenen GdB von 70 übernehmen würde, so ginge ein GdB von 70 unter Bezug auf die Anhaltspunkte Nr. 31 Abs. 3 nicht konform mit der Annahme einer außergewöhnlichen Gehbehinderung.

Mit Gerichtsbescheid vom 19.08.2008 hat das SG die Klage abgewiesen. Nach dem Ergebnis der medizinischen Beweiserhebung bestehe in Übereinstimmung mit der schlüssigen Bewertung durch den gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. F. und nach den von den behandelnden Ärzten mitgeteilten objektiven Funktionsbeeinträchtigungen für eine Anhebung des Gesamt-GdB auf über 60 keine ausreichende Veranlassung. Diese Bewertung sei auch von den Ärzten der Fachklinik N. und Prof. Dr. C. von der BG Klinik Tübingen bestätigt worden. Das von dem Arzt O. diagnostizierte schmerzbedingte Psychosyndrom sei nicht belegt. Das Kopfschmerzsyndrom sei mit dem angesetzten Teil-GdB-Wert von 10 ebenfalls ausreichend bewertet. Hinsichtlich des Merkzeichens "aG" gehöre der Kläger weder zu dem in der allgemeinen Verwaltungsvorschrift zu § 46 Ziffer 1 Straßenverkehrsordnung (StVO) aufgeführten Personenkreis noch sei er diesem Personenkreis gleichzustellen. Es lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass er sich dauernd praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeugs nur noch mit fremder Hilfe oder nur mit größter Anstrengung zumutbar bewegen könne.

Gegen den am 03.09.2008 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 17.09.2008 Berufung eingelegt. Zur Begründung macht er geltend, das SG habe sich ohne hinreichende Begründung über das von dem Arzt O. erstattete Gutachten hinweggesetzt. Fehlerhaft seien auch die Berichte der Stumpfsprechstunde nicht beigezogen worden.

Der Senat hat Beweis erhoben durch schriftliche Vernehmung des Prof. Dr. M., des Dr. I. und des Prof. Dr. C., jeweils Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik Tübingen. Prof. Dr. M. und Dr. I. haben unter dem 29.12.2008 mitgeteilt, dass sich der Kläger letztmals am 17.02.2006 in der Schmerzsprechstunde vorgestellt habe. Er habe über zwei Schmerzqualitäten geklagt, nämlich paroxysmal einschießende Schmerzen und krampfartige Dauerschmerzen. Eine Schmerzverstärkung sei vor allem bei Belastung und bei Wetterwechsel aufgetreten. Die etwa alle zwei Monate einschießende Schmerzkomponente, die hinsichtlich der Schmerzintensität mit maximal 9/10 auf der VAS angegeben worden sei, habe medikamentös gut kontrolliert werden können. Die krampfartigen Dauerschmerzen habe der Kläger mit maximal 6-7/10, minimal mit 2/10 bewertet. Eine Schmerzverstärkung sei vor allem bei Belastung und Wetterwechsel aufgetreten. Durch Erhöhung der Morphingabe habe eine Schmerzreduktion auf einen Wert von 2-3/10 des VAS erzielt werden können. Eine Stellungnahme über den weiteren Verlauf und das aktuelle Zustandsbild sei nicht möglich. Prof. Dr. C. hat unter dem 20.01.2009 ausgeführt, er habe den Kläger letztmals am 21.07.2008 untersucht. Damals habe er eine Unterschenkelamputation links, chronische Phantomschmerzen links, einen Zustand nach Neurinomexstirpation bei Neurinom des Nervus peronaeus superfizialis links 12/2005 und aktuell ausgeprägte Phantomschmerzen unter Belastung diagnostiziert. Der Weichteilmantel im Bereich des Unterschenkelstumpfes sei reizfrei gewesen. Auf Betastung habe der Kläger direkt die Phantomschmerzen angegeben. Zumindest seit Ende 2005 sei es zu keiner Besserung der Phantomschmerzen gekommen. Es scheine zumindest so, dass es im Laufe der Zeit, ohne dass dies aus der Aktenlage hervorgehe, zu einer zunehmenden Verschlechterung der Phantomsymptomatik bzw. der Phantomschmerzen gekommen sei, wobei anfangs noch Beschwerden nach maximal 50 Metern Gehstrecke beklagt worden seien. Dies habe sich nach Angaben des Klägers zum Zeitpunkt der letzten Untersuchung bei einer maximalen Gehstrecke von 10 bis 20 Metern deutlich verschlechtert. Kurze Gehstrecken seien dem Kläger mit einer entsprechend angepassten Prothese bis 50 Meter möglich. Mit Stockstützen ohne Prothese werde die Gehstrecke auf maximal 100 bis 200 Meter eingeschätzt. Die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" werde befürwortet. Der Arzt hat seinen eigenen Zwischenbericht vom 24.07.2008 über die letzte Untersuchung beigefügt.

Für den Beklagten hat sich hierzu Dr. Götz in einer versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 14.04.2009 dahingehend geäußert, die bisherige Bewertung mit einem GdB von 60 berücksichtige neben dem Unterschenkelverlust zusätzlich stark ausgeprägte Stumpfbeschwerden. Für eine höhere Bewertung ergäben die vorgelegten Unterlagen keine Grundlage. Die Einschätzung zum Nachteilsausgleich "aG" im Zwischenbericht von Prof. Dr. C. sei nicht ausreichend objektivierbar.

Im von der Berichterstatterin durchgeführten Erörterungstermin hat der Kläger erklärt, dass er tagesformabhängig etwa 20 bis 30 Meter gehen könne, dann müsse er eine Pause von ein paar Minuten einlegen, anschließend könne er noch ein Mal etwa 20 bis 30 Meter gehen, bevor er eine längere Pause benötige. Das Gehen mit einer Gehstütze würde ihm nichts bringen. Nur wenn er ohne Prothese mit zwei Krücken gehe, sei es etwas besser.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 19. August 2008 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 22. August 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Februar 2006 zu verurteilen, einen Grad der Behinderung von mehr als 60 und das Merkzeichen außergewöhnliche Gehbehinderung (aG) festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakten, die beigezogenen Schwerbehindertenakten des Beklagten und die gleichfalls beigezogene Akte des SG Bezug genommen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 SGG einverstanden erklärt.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung gem. § 124 Abs. 2 SGG entscheidet, ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe nach § 144 SGG liegen nicht.

Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Der angegriffene Gerichtsbescheid des SG ist in der Sache nicht zu beanstanden. Der Bescheid des Beklagten vom 22.08.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.02.2006 verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Er hat keinen Anspruch auf Feststellung eines GdB von mehr als 60 und Zuerkennung des Merkzeichens "aG".

Wegen der für die GdB-Feststellung erforderlichen Voraussetzungen und der hierfür maßgebenden Rechtsvorschriften sowie der Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" nimmt der Senat auf die Gründe der angefochtenen Entscheidung und die Begründung der streitgegenständlichen Bescheide Bezug und sieht deshalb insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 136 Abs. 3 und § 153 Abs. 2 SGG). Ergänzend ist festzustellen, dass zwischenzeitlich die im Wesentlichen mit den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) 2004 gleichlautenden AHP 2008 in Kraft getreten sind, die ihrerseits durch den ebenfalls im Wesentlichen unveränderten Teil A und B der zum 01.01.2009 in Kraft getretenen Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VMG) zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10. Dezember 2008 ersetzt worden sind. Eine andere Beurteilung der hier in Frage stehenden Funktionsbeeinträchtigungen im Vergleich zu den vom Beklagten berücksichtigen AHP 2004 ergibt sich daraus nicht.

Nach Auffassung des Senats ist die Berufung bereits aus den vom SG ausführlich und zutreffend dargestellten Gründen, insbesondere Bezug nehmend auf das von Prof. Dr. F. erstattete Gutachten und die Auskünfte der Fachklinik N. und der BG-Klinik Tübingen, als unbegründet zurückzuW.n. Insoweit nimmt der Senat auch auf die Entscheidungsgründe des SG Bezug und verzichtet auf deren erneute Darstellung.

Ergänzend ist weiter auszuführen, dass Prof. Dr. C. und Kollegen in ihrer sachverständigen Zeugenauskunft vom 20.01.2009, die sich auf eine am 21.07.2008 durchgeführte Untersuchung stützt, weiterhin einen reizfreien Weichteilmantel im Bereich des Unterschenkelstumpfes beschreiben. Bei Betasten gab der Kläger Phantomschmerzen an. Nach den AHP 2008 Nr. 26.18 bzw. 18.14 Teil B der VMG bedingt der Verlust eines Beines im Unterschenkel bei genügender Funktionstüchtigkeit des Stumpfes und der Gelenke einen GdB von 50. Mit diesem GdB sind die üblichen Schmerzen, die der Verlust eines Beines im Unterschenkel bedingt, bereits mit abgegolten. Dies folgt aus Teil A Nr. 19 der AHP 2008 bzw. Nr. 2 Teil A der VMG, wonach die in der GdB/GdF-Tabelle angegebenen Werte die üblicherW. vorhandenen Schmerzen mit einschließen und auch erfahrungsgemäß besonders schmerzhafte Zustände berücksichtigen. Nach den AHP 2008 konnten in den Fällen, in denen nach dem Sitz und Ausmaß der pathologischen Veränderungen eine über das übliche Maß hinausgehende, eine spezielle ärztliche Behandlung erfordernde Schmerzhaftigkeit anzunehmen war, höhere Werte angesetzt werden. Nach Nr. 2 Teil A der VMG ist nunmehr erforderlich, dass eine nach Ort und Ausmaß der pathologischen Veränderungen über das übliche Maß hinausgehende Schmerzhaftigkeit, die eine ärztliche Behandlung erfordert, nachgewiesen ist. In Betracht kommt dies nach den VMG a.a.O. aber auch den AHP 2008 zum Beispiel bei Kausalgien und bei stark ausgeprägten Stumpfbeschwerden nach Amputationen (Stumpfnervenschmerzen, Phantomschmerzen). Eine Phantomgefühl allein bedingt nach den VMG und den AHP 2008 keinen GdB.

Insoweit ist hier zu berücksichtigen, dass der Kläger schon seit 2004 über Phantomschmerzen klagt und sich seither auch in Schmerzbehandlung befindet. Er erhält neben anderen Schmerzmitteln Morphium. Akupunkturbehandlungen waren nicht von dauerhaftem Erfolg. Eine Botoxbehandlung hat nicht angeschlagen. Bei einer ambulanten Vorstellung am 17.02.2006 gab der Kläger die maximale Schmerzintensität für die etwa alle zwei Monate einschießenden Schmerzen mit maximal 9/10 an. Dieser Schmerz war medikamentös gut zu behandeln. Den krampfartigen Dauerschmerz bewertete der Kläger mit minimal 2/10 und maximal 6-7/10 an. Durch Steigerung der Morphingabe konnte dieser Wert auf 2-3/10 reduziert werden. Bei der Begutachtung durch Dr. O. nannte der Kläger einen momentanen VAS-Wert (Visuelle Analogskala) von 9/10. In Anbetracht dessen erscheint es hier - auch wenn die Einstufung der Schmerzintensität allein auf den Angaben des Klägers beruht - gerechtfertigt, den üblichen GdB aufgrund der Schmerzen zu erhöhen und - wie dies auch der Beklagte getan hat - auf 60 festzusetzen. Ein noch höherer GdB aufgrund der vom Kläger beklagten Schmerzen kommt jedoch nicht in Betracht. Dies gilt insbesondere deshalb, weil der Kläger trotz der von ihm beklagten Schmerzen bei Belastung weiterhin die Prothese trägt, obwohl die Schmerzen nach seinen eigenen Angaben ohne Prothese geringer sind. Wären die Schmerzen so stark, dass sie eine Erhöhung des GdB auf über 60 rechtfertigten, wäre zu erwarten, dass der Kläger die Prothese in größerem Umfang meidet und nicht nur in der Freizeit teilW. einen ihm nicht verordneten Rollstuhl benutzt. Etwas anderes ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung des von Dr. O. erstatteten Gutachtens. Auch unter Zugrundelegung des von ihm angegebenen Werts von 20 für die Phantomschmerzen, würde dies nicht zu einem Gesamt-GdB von 70 führen, nachdem die GdB-Werte nach den AHP 2008 Teil A Nr. 19 bzw. Teil A Nr. 3 VMG nicht addiert werden dürfen. Zu beachten ist auch, dass die Berufsgenossenschaft ausweislich ihres Bescheides vom 05.10.2005 nur eine MdE um 40 v.H. festgestellt hat. Hierbei wurden nach den Feststellungen im Bescheid als Folgen des Versicherungsfalls neben der Unterschenkelamputation und der Oberschenkelfraktur links auch subjektive Belastungsbeschwerden mit Phantomschmerzen und eine Schwellneigung am Stumpfbereich anerkannt. Wenn der Beklagte hierfür einen GdB von 60 ansetzt, so erscheint dies bei einem Vergleich mit den Feststellungen der Berufsgenossenschaft nicht zu niedrig.

Ein höherer GdB kommt auch nicht unter Berücksichtigung der anerkannten Migräne in Betracht, nachdem sich diese nach den Angaben des Klägers gegenüber Dr. I. von der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik Tübingen seit einer Akupunkturbehandlung deutlich gebessert hat und er nach der Auskunft vom 23.08.2006 im vorangegangenen Jahr keinen richtigen Migräneanfall mehr gehabt hat. In den neueren Auskünften finden sich ebenfalls keine Angaben über weitere Migränebeschwerden.

Das von dem Arzt O. diagnostizierte Psychosyndrom ist den Ausführungen im Gerichtsbescheid folgend nicht belegt.

Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung des Merkzeichens "aG".

Zu den in § 69 Abs. 4 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) in Verbindung mit Abschnitt 2 Nr. 1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift (VV) zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO genannten Schwerbehinderten gehört der Kläger unbestrittenermaßen nicht.

Der Kläger ist diesem Personenkreis aber auch nicht gleichzustellen.

Eine Gleichstellung erfordert eine Einschränkung der Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße. Der Behinderte darf sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die in Abschnitt 2 Nr. 1 VV aufgeführten Schwerbehinderten oder nur mit fremder Hilfe fortbewegen können. Dabei lässt sich ein den Anspruch ausschließendes Restgehvermögen griffig weder quantifizieren noch qualifizieren. Weder der gesteigerte Energieaufwand noch eine in Metern ausgedrückte Wegstrecke taugt grundsätzlich dazu. Denn die maßgeblichen straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften stellen nicht darauf ab, über welche Wegstrecke ein schwerbehinderter Mensch sich außerhalb seines Kraftfahrzeugs zumutbar noch bewegen kann, sondern darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies noch möglich ist; nämlich nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung. Wer diese Voraussetzungen - praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an - erfüllt, qualifiziert sich für den entsprechenden Nachteilsausgleich (insbesondere Parkerleichterungen) auch dann, wenn er gezwungenermaßen auf diese W. längere Wegstrecken zurücklegt (vgl. BSG, Urteil vom 29.03.2007 - B 9 ASB 5/05 R - in www. Juris. de).

Unstreitig ist, dass bei dem Kläger eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit vorliegt, weshalb ihm bereits das Merkzeichen "G" zuerkannt worden ist.

Belege für eine derartige Einschränkung, dass ihm darüber hinaus auch das Merkzeichen "aG" zuzuerkennen wäre, liegen indessen nicht vor. Der Senat übersieht insoweit nicht, dass der Kläger über massive Nerven- und Phantomschmerzen klagt, wobei die Phantomschmerzen dauernd vorhanden sind und die Nervenschmerzen bei Belastung auftreten und auch nach Beendigung der Belastung noch über einen gewissen Zeitraum anhalten. Die Ärzte halten die Schmerzen für glaubhaft. Auch gab der Kläger nicht nur anlässlich des Erörterungstermins, sondern auch den behandelnden Ärzten, insbesondere Prof. Dr. C. aber auch Prof. Dr. M., Dr. H., Dr. P. und Dr. D. gegenüber, eine maximale Gehstrecke zwischen 50 und 100 Metern bzw. nur noch maximal 50 Metern an. Dies lässt sich jedoch mit dem gleichzeitig beschriebenen Gangbild, das nicht nur von den Ärzten der Klinik N. sondern auch von Dr. H. und Prof. Dr. C. als flüssig beschrieben wird, nicht vereinbaren. Wenn die Schmerzen von Anfang an in derart gravierendem Ausmaß vorlägen, müsste dies nach Auffassung des Senats schon bei den ersten Schritten zutage treten und sich im Gangbild niederschlagen. Ein flüssiges Gangbild ist hiermit nicht in Einklang zu bringen.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Auskunft von Prof. Dr. C. vom 20.01.2009 bzw. dem Zwischenbericht vom 24.07.2008, der sich auf dieselbe Untersuchung am 21.07.2008 stützt. Zwar hat Prof. Dr. C. im Zwischenbericht die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" befürwortet. Dies überzeugt den Senat indessen nicht. Es darf insoweit nicht außer Acht gelassen werden, dass Prof. Dr. C. in seiner Auskunft vom 24.08.2006 noch ausführte, dass nur schwer nachvollziehbar sei, dass sich der Kläger nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung fortbewegen könne. In der letzten Auskunft vom 20.01.2009 gab er an, ein exakter Zeitpunkt für eine wesentliche Änderung des Gesundheitszustands des Klägers könne nicht festgestellt werden. Bei bestehenden Phantomschmerzen sei es zumindest zu keiner Besserung gekommen. Er schreibt weiter "zumindest scheint es im Laufe der Zeit, ohne dass dies aus der Aktenlage hervorgeht, zu einer zunehmenden Verschlechterung der Phantomsymptomatik bzw. der Phantomschmerzen zu kommen, ...". Befunde, die eine Verschlechterung belegen und seine nunmehrige gegenteilige Ansicht stützen könnten, vermag Prof. Dr. C. damit nicht zu nennen. Ergänzend ist noch auszuführen, dass auch nach dem von dem Arzt O. erstatteten Gutachten der Kläger die Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" nur "analog zu den Vorgaben, nicht jedoch nach dem strengen Wortlaut" erfüllt. Dies ist nicht ausreichend.

Die Berufung ist daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
Saved