L 3 SB 1932/09

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
3
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 6 SB 2719/06
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 3 SB 1932/09
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig zwischen den Beteiligten ist, ob der Klägerin die Schwerbehinderteneigenschaft zusteht.

Die 1968 geborene Klägerin beantragte am 21.02.2006 erstmals die Feststellung des Grades der Behinderung (GdB) nach § 69 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB IX -.

Sie gab insoweit an, unter Lendenwirbelfraktur L1/L2, Deckplatteneinbruch L3, Kantenabriss L2 und Bandscheibenvorfall C5/6, chronischem Lumbalsyndrom mit rezidivierenden Bandscheibenprolaps L5/S1 mit Einstrahlungen in die Beine, Zustand nach Morbus Scheuermann, Cervicobrachialsyndrom mit Kopfschmerzen und Parästhesien der Hände zu leiden. Da sie ab dem 24.07.2003 arbeitsunfähig erkrankt sei, beantrage sie die Feststellung ab diesem Zeitpunkt.

Mit dem Antrag legte sie Befundberichte von Dr. B., Facharzt für Nuklearmedizin und diagnostische Radiologie, vom 30.04. und vom 06.07.2004 vor, die Bandscheibenvorfälle im Segment L5/S1 und C5/C6 bestätigten.

Der Beklagte zog daraufhin vom Rentenversicherungsträger ein Gutachten von Dr. A., Facharzt für Orthopädie, vom 05.09.2003, und den Reha-Entlassungsbericht der S. vom 13.11.2003 bei.

Dr. A. beschrieb die Klägerin als freundlich zugewandt, sehr kooperativ mit regelrechter affektiver Schwingungsfähigkeit. Der Fingerbodenabstand betrug bei der Untersuchung 60 cm, die Reklination der Lendenwirbelsäule war nicht möglich, die Rotation betrug jeweils 20 Grad und war schmerzhaft eingeschränkt. Der Gutachter stellte folgende Diagnosen:

1. Chronisches Lumbalsyndrom bei dorsomedialem Bandscheibenvorfall 5/S1 ohne neurologisches Defizit 2. Status nach Morbus Scheuermann 3. Chronische Cervico-Cephalgie.

In der S. zeigte sich bei der Klägerin eine fast freie Halswirbelsäulenbeweglichkeit und eine eingeschränkte Lendenwirbelsäulenentfaltung mit einem Fingerbodenabstand von 20 cm. Bei ihrer Entlassung wurden folgende Diagnosen gestellt:

1. Chronisches Lumbalsyndrom bei Bandscheibenvorfall L5/S1 ohne neurologische Ausfälle, Zustand nach altem Morbus Scheuermann. 2. Cervicobrachialsyndrom mit Kribbelparästhesien der rechten Hand.

Der Beklagte hat ferner einen Befundbericht von Dr. D., Facharzt für Orthopädie, vom 17.04.2006 beigezogen.

Dr. D. teilte mit, die Klägerin leide seit Beginn der Behandlung am 14.04.2003 bis jetzt unter Beschwerden im Bereich des Beckens und der Lendenwirbelsäule. Die Inklination der Wirbelsäule sei eingeschränkt, der Fingerbodenabstand betrage 30 cm. Es bestehe kein Hinweis auf eine Nervenwurzelkompression. Im August 2004 habe die Klägerin zudem unter Schulter-Nacken-Beschwerden mit eingeschränkter Rotations- und Reklinationsfähigkeit gelitten.

Mit Bescheid vom 29.05.2006 stellte der Beklagte ab 01.07.2003 einen GdB von 30 bei der Klägerin fest. Dabei ging er von folgenden Funktionsbeeinträchtigungen aus:

Funktionsbehinderung der Wirbelsäule Schulter-Arm-Syndrom Nervenwurzelreizerscheinungen (GdB 30).

Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch, ohne diesen zu begründen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 23.08.2006 (ohne Absendevermerk) wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück.

Dagegen hat die Klägerin am 28.09.2006 Klage zum Sozialgericht Konstanz (SG) mit der Begründung erhoben, der GdB von 30 sei nicht ausreichend. Angesichts der anhaltenden erheblichen Schmerzzustände müsse ein GdB von mindestens 40 für die Lendenwirbelsäulenerkrankung angesetzt werden. Auch die HWS-Problematik sei mit einzubeziehen. Sie habe auch eine reaktive Depression entwickelt.

Das SG hat Beweis erhoben durch Einholung sachverständiger Zeugenaussagen von Dr. K., Facharzt für diagnostische Radiologie, vom 16.05.2007, Dr. E., Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, vom 11.06.2007, Dr. D., Facharzt für Orthopädie, vom 10.06.2007 und Dr. W., Facharzt für innere Medizin, vom 22.08.2007.

Dr. K. hat mitgeteilt, die Klägerin leide unter Cervicobrachialgien und Bandscheibenvorfällen C5/6 und L5/S1.

Dr. E. hat angegeben, die Klägerin habe ihn am 26.03. und am 21.06.2006 aufgesucht. Psychisch habe die Klägerin deutlich depressiv herabgestimmt und schwunglos gewirkt. Es bestehe der Verdacht auf ein Karpaltunnelsyndrom rechts, wobei die Nervenleitgeschwindigkeit unauffällig gewesen sei. Es handle sich um eine unklare Schmerzsymptomatik mit reaktiv depressiver Störung, die er mit einem GdB von 20 einschätze. Im Vordergrund stehe die chronische Schmerzstörung.

Dr. D. hat angegeben, dass sich keine wesentlichen Befundänderungen ergeben hätten.

Dr. W. hat mitgeteilt, bei der Klägerin lägen rezidivierende Infekte der oberen Luftwege und auch der Harnwege vor. Im Vordergrund stünden cervicobrachiale Beschwerden. Die Laborwerte zeigten keine Anhaltspunkte für eine Erkrankung aus dem rheumatischen Formenkreis.

Das SG hat weiteren Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) von Dr. F., Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, vom 26.11.2008. Der Gutachter hat folgende Diagnosen erhoben:

1. Chronisch rezidivierendes Wirbelsäulensyndrom in mehreren Abschnitten. (HWS und LWS, auch teilweise BWS) mit häufigen und teilweise lange anhaltenden Schmerzsyndromen. 2. Osteochondrose C5/6 3. Osteochondrose L4/5 und L5/S1 4. Bandscheibenvorfall L5/S1 5. Zustand nach Morbus Scheuermann 6. Deckplattenveränderung LWK 2 7. Chronische Cephalgien 8. Schulter-Arm-Syndrom beidseits 9. Verdacht auf chronische Tendinitis im Schulterbereich beidseits bei Verdacht auf Läsion der Rotatorenmanschette beidseits. 10. Dysästhesien Arme 11. Verdacht auf Karpaltunnelsyndrom rechts 12. Coxalgie mit Funktionsminderung Hüfte links 13. Beinlängendifferenz

Den GdB für die Wirbelsäule hat er mit 30, den GdB für die oberen und unteren Extremität hat er jeweils mit 10 angesetzt. Daneben liege trotz Fehlens von Enthesiopathie und Tenderpoints ein Fibromyalgiesyndrom vor. Hierfür sei ein GdB von 30 anzusetzen. Einen Gesamt-GdB hat der Gutachter nicht gebildet.

Dr. O. vom Ärztlichen Dienst des Beklagten hat hierauf unter dem 10.02.2009 erwidert, dass angesichts der mittelgradigen Funktionseinschränkung der HWS und der lediglich endgradigen Einschränkung der LWS für die Wirbelsäule lediglich ein GdB von 20 nach Nr. 18.9 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) in Betracht komme. Das Fibromyalgiesyndrom sei mit einem GdB von 20 zu veranschlagen, die Funktionsbeeinträchtigungen der Schultergelenke mit 10, die Hüftgelenksbeweglichkeit links sei lediglich diskret eingeschränkt, weswegen ein GdB von 10 hierfür zu weitreichend sei. Insgesamt verbleibe es bei den von dem Beklagten festgesetzten GdB von 30.

Mit Gerichtsbescheid vom 19.03.2009 hat das SG die Klage abgewiesen. Dabei ist es, gestützt auf die Bewertung von Dr. O., von einem GdB von 20 für die Wirbelsäule, von 20 für die Fibromyalgie und von 10 für die Funktionsbehinderungen beider Schultergelenke ausgegangen.

Gegen den ihr am 27.03.2009 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 27.04.2009 Berufung eingelegt.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens von Dr. H., Leitender Arzt des Orthopädischen Forschungsinstitutes T., vom 21.09.2009.

Bei der Begutachtung hat eine gravierende Einschränkung der Wirbelsäulenbeweglichkeit der Klägerin nicht vorgelegen. Die HWS und die Kopfgelenke sind in alle Richtungen leicht eingeschränkt gewesen. Der Fingerbodenabstand hat 30 cm betragen, hierdurch hat sich die Wirbelsäule der Klägerin insoweit voll entfaltet. Die Schulterbeweglichkeit und die Hüftgelenksbeweglichkeit ist nicht eingeschränkt gewesen.

Der Gutachter hat folgende Diagnosen gestellt:

1. Schmerzhafte Funktionsstörung der Wirbelsäule im Sinne eines chronischen Schmerzsyndromes mit gelegentlichen Missempfindungen in den oberen Gliedmaßen bei diskreten Verschleißerscheinungen der Hals- und Lendenwirbelsäule sowie keilförmiger Deformität des 2. Lendenwirbels, möglicherweise Stauchungsbruch. 2. Wiederkehrende Kopfschmerzen.

Die Funktionsstörungen der Wirbelsäule seien mit einem GdB von 30, die Kopfschmerzen mit einem GdB von 10 zu bewerten. Insgesamt betrage der GdB 30. Eine relevante psychische Erkrankung sei nicht zu erkennen, die Klägerin sei freundlich zugewandt und schwingungsfähig. Sie sei gepflegt, habe einen gut strukturierten Tagesablauf und sei sozial gut integriert. Auch das Krankheitsbild der Fibromyalgie liege nicht vor. Die Beschwerden der Klägerin beschränkten sich auf die Wirbelsäule und ließen sich durch manifeste körperliche Untersuchungsbefunde begründen. Eine Ausweitung der Schmerzen habe nicht stattgefunden. Gravierende vegetative Begleiterscheinungen seien nicht aufgetreten, abgesehen von Schlafstörungen, die aber aufgrund der Schmerzsymptomatik der Wirbelsäule erklärlich und plausibel seien.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 19. März 2009 aufzuheben, den Bescheid des Beklagten vom 29. Mai 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. August 2006 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, einen GdB von mindestens 50 ab 01. Juli 2003 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er erachtet den Gerichtsbescheid des SG für zutreffend.

Die Verfahrensakten beider Instanzen und die Verwaltungsakte des Beklagten haben dem Senat vorgelegen. Auf deren Inhalt und den Inhalt der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 02.12.2009 wird zur Darstellung der näheren Einzelheiten des Sachverhaltes Bezug genommen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt

Entscheidungsgründe:

Die Berufung, über die der Senat mit dem Einverständnis der Beteiligten gemäß § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist zulässig, jedoch unbegründet. Das SG ist in seinem Gerichtsbescheid zutreffend von einem Gesamt-GdB von 30 ausgegangen; die angegriffenen Bescheide sind rechtmäßig.

Die Klagefrist ist gewahrt. Da sich in den Akten des Beklagten kein Absendevermerk des Widerspruchsbescheides vom 23.08.2006 findet, ist die Zugangsfiktion des § 37 Abs. 2 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB X - nicht anzuwenden.

Nach der Überzeugung des Senats besteht bei der Klägerin ein GdB von 30. Die Schwerbehinderteneigenschaft liegt bei ihr nicht vor.

Das SG hat die maßgeblichen Rechtsgrundlagen wie auch die seit 01.01.2009 geltenden VMG zutreffend dargelegt; zur Vermeidung von Wiederholungen wird daher auf die Entscheidungsgründe des Gerichtsbescheides vom 19.03.2009 verwiesen (§ 153 Abs. 2 SGG).

Ergänzend führt der Senat aus, dass er anders als das SG im Hinblick auf die Funktionsbehinderungen der Wirbelsäule nicht von einem GdB von 20, sondern von 30 ausgeht. Dabei stützt er sich maßgeblich auf das Gutachten von Dr. H. wie auch auf das Gutachten von Dr. F., die beide übereinstimmend einen GdB von 30 veranschlagen. Angesichts der von beiden Gutachtern erhobenen Befunde erscheint dieser Wert schlüssig und auch nachvollziehbar. Dieser Wert entspricht auch Teil B Nr. 18.9 (S. 90) der VMG. Diese sehen für Wirbelsäulenschäden mit mittelgradigen bis schweren Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten einen GdB von 30 vor. Bei der Klägerin liegen mittelschwere funktionelle Auswirkungen vor, daher ergibt sich ein GdB von 30.

Bei der Begutachtung durch Dr. H. haben sich keinerlei Bewegungseinschränkungen der Schultergelenke und der Hüftgelenke gezeigt, demnach ist insoweit kein GdB anzusetzen.

Für die häufig auftretenden Kopfschmerzen der Klägerin, die mit Schmerzmitteln behandelbar sind, ist nach der Überzeugung des Senats ein GdB von 10 angemessen, aber auch ausreichend. Hierbei stützt sich der Senat auf das schlüssige und nachvollziehbare Gutachten von Dr. H. wie auf Teil B Nr. 2.3 (S. 19) der VMG, die für die leichte Verlaufsform der echten Migräne einen GdB von 0 - 10 vorsehen.

Ein Fibromyalgiesyndrom liegt bei der Klägerin nicht vor. Auch insoweit stützt sich der Senat auf die ausführlichen und nachvollziehbaren Ausführungen von Dr. H., welcher abweichend von Dr. F. nicht von einer Fibromyalgie ausgeht, sondern die Beschwerden der Klägerin mit manifesten körperlichen Untersuchungsbefunden erklärt.

Auch eine reaktive Depression oder eine andere psychiatrische Beeinträchtigung der Klägerin liegt entgegen der Aussage des Nervenfacharztes Dr. E. nicht vor. Dr. E. hat die Klägerin lediglich zweimal gesehen und seine Konsultation erfolgte von Seiten der Klägerin wegen der Abklärung eines Karpaltunnelsyndroms rechts. Lediglich bei Dr. E. hat die Klägerin einen herabgestimmten Eindruck gemacht. Ausweislich des Gutachters Dr. A. ist sie während der Untersuchung freundlich und affektiv schwingungsfähig gewesen, im Reha-Entlassungsbericht des Sonnenhofs sind keine psychischen Auffälligkeiten geschildert worden. Dr. F. beschreibt die Klägerin als ruhig, Dr. H. als freundlich zugewandt und kooperativ. Der ausführlichen Anamnese, die Dr. H. erhoben hat, ist zu entnehmen, dass die Klägerin über einen sehr gut strukturierten Tagesablauf, ein intaktes Familienleben und gute Sozialkontakte verfügt. Sie übt zahlreiche Freizeitaktivitäten aus. Selbst eine leichte psychische Störung für die Teil B Nr. 3.7 (S. 27) der VMG einen GdB von 0 - 20 vorsieht, liegt daher nicht vor.

Auch für den Verdacht des Karpaltunnelsyndroms rechts ohne Beeinträchtigungen der Nervenleitgeschwindigkeit und ohne Funktionsbeeinträchtigung ist kein GdB zu veranschlagen.

Insgesamt ergibt sich ein GdB von 30, da nach Teil A Nr. 3d ee) der VMG ein Teil-GdB von 10 nicht zu einer Erhöhung führt.

Die Berufung ist hiernach zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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