L 7 SB 76/08

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
7
1. Instanz
SG Halle (Saale) (SAN)
Aktenzeichen
S 1 SB 42/07
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 7 SB 76/08
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
GdB bei somatoformer Schmerzstörung
Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Höhe des Behinderungsgrades.

Die am ... 1956 geborene Klägerin beantragte am 17. April 2000 bei dem Beklagten die Feststellung von Behinderungen wegen einer Schädigung des rechten Fußgelenkes, des linken Kniegelenks sowie Lendenwirbelsäulen-(LWS) – Beschwerden und der Schädigung des rechten Daumens sowie des rechten Zeigefingers. Mit Bescheid vom 13. Juni 2000 stellte der Beklagte einen Grad der Behinderung (GdB) von 20 fest und begründete dies mit degenerativen Funktionsminderungen der Wirbelsäule sowie der Kniegelenke. Am 17. November 2003 beantragte die Klägerin nochmals die Neufeststellung ihrer Behinderungen. Nach entsprechenden medizinischen Ermittlungen stellte der Beklagte mit Bescheid vom 26. März 2004 ab dem 17. November 2003 einen GdB von 30 fest.

Am 19. August 2004 stellte die Klägerin wieder einen Antrag auf Neufeststellung. Nach medizinischen Ermittlungen stellte der Beklagte mit Bescheid vom 11. Januar 2005 ab dem 6. August 2004 einen GdB von 40 fest. Als Funktionsbeeinträchtigungen werden darin genannt:

Funktionsminderung der Hals- und Lendenwirbelsäule mit Schulter-Arm-Syndrom und Kopfschmerz infolge Bandscheibenvorfalls psychovegetative Störungen Funktionsbehinderungen der Hüft- und Kniegelenke infolge degenerativer Veränderungen Inkontinenz schmerzhafte Senk-Spreizfüße

Am 25. November 2005 stellte die Klägerin wieder einen Neufeststellungsantrag beim Beklagten, der medizinische Ermittlungen einleitete. Die Fachärztin für Neurologie Dipl.-Med. S. berichtete unter dem 5. Dezember 2005 über eine regelmäßige nervenärztliche Behandlung und diagnostizierte eine lang anhaltende depressive Symptomatik mit zum Teil reaktiver Genese sowie eine instabile Persönlichkeitsstruktur. Der Verlauf sei nicht phasenhaft, sondern werde jeweils durch äußere Ereignisse beeinflusst (z.B. familiäre Konflikte usw.). Im Laufe des letzten Jahres habe ein starker Schwindel im Vordergrund gestanden, der neurologisch jedoch nicht habe abgeklärt werden können. Als weitere Beschwerden lägen eine allgemein schnelle Erschöpfbarkeit, Einschlafstörungen, Schmerzen in den Knien sowie in der Halswirbelsäule vor. Die Praktische Ärztin Dipl.-Med. Z. gab unter dem 10. Dezember 2005 an, es bestünden seit einigen Jahren wiederkehrende Oberbauchbeschwerden, die im September 2005 zu einer zweitägigen stationären Aufnahme im Krankenhaus am R. (S.) geführt hätten. Die Fachärztin für HNO Dr. E. berichtete über ein Tonaudiogramm vom 21. September 2004. Hiernach bestehe ein beidseitiger Normakusis von 0,25 bei 4 kHz und ein beidseitiger Tinnitus bei 6 Khz. Eine neurologische Untersuchung vom 8. November 2004 habe keine Auffälligkeit ergeben und begründe den Verdacht auf eine HWS-Genese mit psychischer Überlagerung. In Auswertung dieser Befunde schlug der von dem Beklagten beteiligte ärztliche Dienst einen Gesamt-GdB von 40 vor.

Mit Bescheid vom 14. März 2006 lehnte der Beklagte die Neufeststellung ab. In einem Schreiben vom 22. Juni 2006 nahm die Klägerin auf ihren Widerspruch vom 4. April 2006 Bezug und bat um Akteneinsicht. Der Beklagte erklärte, der behauptete Widerspruch vom 4. April 2006 sei nicht zur Akte gelangt. Am 4. Juli 2006 ging das Widerspruchsschreiben vom 4. April 2006 beim Beklagten ein. Mit Schreiben vom 6. Juli 2006 bestätigte der Beklagte den Eingang des Widerspruchs und forderte die Klägerin zur Begründung des Widerspruchs auf, die nachfolgend ausführte: Das Beschwerdebild auf psychiatrischem Gebiet habe zugenommen. Auch leide sie an wiederkehrenden Oberbauchbeschwerden sowie an Übelkeit und täglichem Erbrechen. Der Beklagte holte nochmals Befundberichte von Dipl-Med. S. und Dr. E. ein und wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 1. Februar 2007 als unbegründet zurück.

Hiergegen hat die Klägerin am 23. Februar 2007 Klage beim Sozialgericht Halle erhoben und die Feststellung eines Grades der Behinderung von 50 ab dem 25. November 2005 begehrt. Die Bewertung des Beklagten werde den tatsächlichen Auswirkungen ihrer Behinderungen nicht gerecht. Neben den bereits im Widerspruchsschreiben genannten Beschwerden bestünden Rücken- und Kopfschmerzen, Schwindelattacken, Hörleistungs- und Empfindungsstörungen sowie unwillkürliche Beugungsstörungen im Bereich des linken Arms. Daneben träten an der linken Hand Kribbeln und Kraftlosigkeit auf. Auch verursache die krankhafte Veränderung an der Halswirbelsäule einen Drehschwindel und eine Gangunsicherheit. Daneben bestünde eine schmerzhafte Bewegungseinschränkung beider Kniegelenke, Schmerzen im linken Daumen, Unruhe, Abgeschlagenheit, Schmerzen in der Hüfte, Depressionen sowie eine Schwerhörigkeit. Sie habe krankhafte Befunde in allen Bereichen der Wirbelsäule, was einen Einzel-GdB von 40 rechtfertige. In psychiatrischer Hinsicht sei von einer depressiven Symptomatik mit einer psychogenen Überlagerung auszugehen und dafür ein Einzel-GdB-Rahmen von 30 bis 40 eröffnet. Bezüglich der Knie- und Hüftgelenke sei ein Einzel-GdB von 20 gerechtfertigt.

Die Klägern hat einen Arztbrief der H. Klinik B. über einen stationären Aufenthalt vom 6. August 2007 bis 15. August 2007 zur Gerichtsakte gereicht. Die Fachärztin für Orthopädie und Oberärztin Dipl.-Med. D. diagnostizierte darin:

Schmerzhaftes L5-Radikulärsyndrom links ausgeprägter als rechts Schmerzhaftes und sensibles Cervicobrachialsyndrom beidseits Initiale Coxarthrose beidseits Beginnende bis mittelgradige Gonarthrose rechtsseitig Mittelschwere Gonarthrose linksseitig Hallux valgus (Abknickung der Großzehe) und beginnende Großzehengrundgelenksarthrose Fersensporn links Bluthochdruck Angina pectoris (anfallartig auftretende Schmerzen hinter dem Brustbein wegen Erkrankung der Herzkranzgefäße) Diabetes mellitus diätetisch geführt Postoperative Hypothyreose (Unterfunktion der Schilddrüse) Chronische Gastritis (Magenschleimhautentzündung) Depression Adipositas

Auf die ermittelten Messwerte (Bl. 31 d. Gerichtsakte) wird verwiesen.

Die Versorgungsärztin Dr. W. hat die Behinderungen der Klägerin wie folgt bewertet:

Funktionsminderung der Wirbelsäule mit Schulter-Arm-Syndrom und Kopfschmerzen (Einzel-GdB 30) unter Hinweis auf die psychisch überlagerten Beschwerden Psychovegetativen Störungen (Einzel-GdB 20) Funktionsminderung der Hüft- und Kniegelenke (Einzel-GdB 20) Schmerzhafte Senk- und Spreizfüße (Einzel-GdB 10) Inkontinenz (Einzel-GdB 10) Magenleiden (Einzel-GdB 10) Ohrgeräusche (Einzel-GdB 10) Funktionsminderung des rechten Daumensattelgelenks mit Schmerzen (Einzel-GdB 10) Diätetischer Diabetes mellitus (Einzel-GdB 10) Gesamt-GdB: 40

Das Sozialgericht hat zunächst Beweis erhoben durch Einholung eines orthopädischen Sachverständigengutachtens von Prof. Dr. R., der das Gutachten vom 17. Dezember 2007 (Untersuchung vom 17. Dezember 2007) erstattete. Zur Familienanamnese hat er angegeben: Die Klägerin habe bis zum 23. Lebensjahr Handball gespielt. Jetzt lese sie, fahre Fahrrad und schwimme, soweit es "die Gelenke erlauben". Die Klägerin sei in einem guten Ernährungs- und Allgemeinzustand und zeige mit Normalschuhen ein kleinschrittiges Gangbild. Sie habe "wegen des Schwindels" eine Unterarmstütze benutzt.

Zu den Bewegungsmaßen hat der Sachverständige folgende Werte festgestellt:

Halswirbelsäule Rotation (rechts/links) 40°/0°/40° Seitneigung (rechts/links) 30°/0°/30°

Brustwirbelsäule und Lendenwirbelsäule Rotation (rechts/links) 40°/0°/40 Seitneigung (rechts/links) 40°/0°/40

Beide Schultergelenke Abduktion 90°

Finger und Handgelenke Frei Beweglich. Auch im Daumensattelgelenk rechts bestehe kein pathologischer Befund. Ausreichend kräftiger Faustschluss.

Beide Hüftgelenke Streckung/Beugung 0°/0°/150° Außen/Innenrotation 40°/0°/30° Abduktion/Adduktion 50°/0°/30°

Beide Kniegelenke Streckung/Beugung 0°/0°/150° Keine Ergussbildung, keine Hauttemperaturerhöhung sowie keine Kapselschwellung.

Der Sachverständige hat auf seinem Fachgebiet folgende Diagnosen gestellt:

Lokales cervicales vertebragenes Schmerzsyndrom bei beginnenden degenerativen Veränderungen der unteren Halswirbelsäule ohne neurologisches Defizit mit einer Bewegungseinschränkung durch muskuläre Abwehrspannungen Lokales lumbales vertebragenes Schmerzsyndrom bei primär hypermobiler Lendenwirbelsäule mit schwach ausgebildeter lumbaler Rückenstreckmuskulatur ohne messbare Funktionseinschränkungen Deutliche Gonarthrose links mehr als rechts mit Chondromalazie II. bis III. Grades ohne Bewegungseinschränkung und ohne Reizerscheinungen. Hallux valgus und Hallux rigidus beidseits mit aufgehobener Dorsalfunktion in den Großzehengrundgelenken Fersensporn beidseits ohne Funktionseinschränkung Im Bereich der Hüftgelenke und Daumensattelgelenke keine messbaren Funktionsstörungen.

Bei der Klägerin stünden eine somatoforme Schmerzstörung sowie eine Neurotisierung im Vordergrund. In dem verwandten Beschwerdefragebogen nach Höck/Hess habe sie mit 48 Beschwerdeangaben einen sehr hohen Neuroseindex erreicht. Der Blutdruck habe 210/140 mmHg betragen und sei klärungsbedürftig. Der Gesamtgrad der Behinderungen im Stütz- und Bewegungsapparat betrage 30 und bestehe seit November 2005. Dabei seien eine Zunahme der Gonarthrose und der auffällig hohe Blutdruck zu beachten.

Die Klägerin hat hierzu geltend gemacht: Aufgrund des beiseitigen Knorpelschadens sei ein Einzel-GdB für beide Kniegelenke von 40 angemessen. Auch die besondere Schmerzbelastung habe der Sachverständige nicht hinreichend berücksichtigt. Die Kombination des schweren Knorpelschadens und der besonderen Schmerzproblematik rechtfertige einen Einzel-GdB von 50. Entgegen der Einschätzung des Sachverständigen Prof. Dr. R. sei der Wirbelsäulenschaden – wie von der Beklagten in einer prüfärztlichen Stellungnahme bereits bestätigt – mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten. Aufklärungsbedürftig erscheine noch der bestehende Bluthochdruck.

Das Sozialgericht hat Befundberichte der behandelnden Ärzte der Klägerin eingeholt. Der Internist Dr. B. hat unter dem 13. Januar 2008 eine gut behandelbare Schilddrüsenerkrankung beschrieben. Die Fachärztin für Gynäkologie Dr. W. hat eine Belastungsinkontinenz II. Grades diagnostiziert sowie den Blutdruck mit 125/80 mmhg angegeben. Der Facharzt für Innere Medizin Dr. N. hat unter dem 22. Januar 2008 bis zur letzten Vorstellung am 18. März 2005 einen Bluthochdruck mit keinen oder nur geringen Leistungsbeeinträchtigungen mitgeteilt. Die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dipl.-Med. S. hat am 22. Januar 2008 auf psychischem Gebiet rezidivierende depressive Episoden bei zugrunde liegender Persönlichkeitsstörung und zeitweisen Rückzugstendenzen sowie eine mittelgradige soziale Anpassungs- und Verhaltensstörung berichtet und den Verdacht auf eine somatoforme Störung geäußert.

Mit Urteil vom 29. Mai 2008 hat das Sozialgericht Halle die Klage abgewiesen. Die von dem Beklagten festgestellten Behinderungen und Einschätzungen zum Einzel-GdB seien zu korrigieren. Zunächst sei dem Sachverständigen Prof. Dr. R. in seiner Bewertung zu folgen, für die Kniebehinderung mit ausgeprägtem Knorpelschaden einen Einzel-GdB von 30 anzunehmen. Für die somatoforme Schmerzstörung sei ein Einzel-GdB von 20 angemessen. Bezüglich der Hals- und Lendenwirbelsäule mit Schulter-Arm-Syndrom und Kopfschmerzen sei keine Funktionseinschränkung messbar und eine Behinderung nicht mehr zu rechtfertigen. Im Frühjahr 2007 sei es zu einer Besserung der Stressinkontinenz gekommen, so dass allenfalls ein Einzel-GdB von 20 zu rechtfertigen sei. Die Schwerhörigkeit sei mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten. Die Unterfunktion der Schilddrüse sei gut behandelbar und rechtfertige einen Einzel-GdB von allenfalls 10. Der Bluthochdruck, das Varizenleiden und der diätetische Diabetes mellitus sei mit einem Einzel-GdB von jeweils 10 einzuschätzen.

Gegen das ihr am 23. Juli 2008 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 11. August 2008 Berufung beim Landessozialgericht Sachsen-Anhalt eingelegt und ihr Begehren weiter verfolgt. Das Sozialgericht habe die Stressinkontinenz zu gering bewertet. Gerade auf psychiatrischem Gebiet sei ein Einzel-GdB von 40 angemessen. Auf orthopädischem Gebiet sei zunächst von einem Einzel-GdB von 30 auszugehen, der wegen der besonderen Auswirkungen auch im Gereich der Hals- und Lendenwirbelsäule auf einen Einzel-GdB von 40 zu erhöhen sei. Insgesamt sei die Anerkennung einer Schwerbehinderung mit einem Gesamt-GdB von 50 daher gerechtfertigt.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 29. Mai 2008 sowie den Bescheid vom 14. März 2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Februar 2007aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, bei ihr mit Wirkung vom 25. November 2005 einen Grad der Behinderung von 50 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält seine Bescheide und das erstinstanzliche Urteil für zutreffend.

Der Berichterstatter hat das Rentenverfahren der Klägerin beim Sozialgericht Halle (S 10 RI 393/01) sowie das sich anschließende Berufungsverfahren vor dem Landessozialgericht Sachsen-Anhalt (L 3 RJ 14/05) beigezogen, daraus eine Beiakte erstellt und diese den Beteiligten zur Akteneinsicht vorgelegt.

Für den im hiesigen Verfahren maßgeblichen zeitlichen Rahmen ab November 2005 hat sich aus dieser Rentenbeiakte Folgendes ergeben:

In einem Arztbrief vom 12. August 2006 berichtete die H. Klinik B. über einen stationären Aufenthalt der Klägerin vom 3. bis 12. August 2006. Dieser enthielt die Diagnosen:

Schmerzhaftes und sensibles Cervicobrachialsyndrom beidseits bei Bandscheibenvorfall HWK 6/7 und 5/6 mit weiteren degenerativen Veränderungen der HWS sowie zeitweiligem Schwindel Schmerzhaftes Cervicocranialsyndrom Schmerzhaftes und sensibles L 4 Radikulärsyndrom beidseits Mittelgradige Gonarthrose rechtsseitig Fortgeschrittene Gonarthrose linksseitig Bluthochdruck Angina pectoris (anfallartig auftretende Schmerzen hinter dem Brustbein wegen Erkrankung der Herzkranzgefäße) Refluxösophagitis (Entzündung der Speiseröhre durch Magensaft) Mittelgradige wiederkehrende Depression Adipositas

Chefarzt Dr. D. (Krankenhaus am R., S.) berichtete unter dem 21. März 2007 über eine komplikationslose Varizen-OP am linken Bein vom 6. Februar 2007. Unter dem 16. Oktober 2007 gab er zur Verlaufskontrolle einen komplikationslosen Erfolg ohne Beschwerden an.

Dipl.-Med. Z. berichtete unter dem 3. April 2007 über einen aktuell aufgetretenen, diätetisch geführten Diabetes mellitus und eine Dranginkontinenz I. Grades seit dem 7. Dezember 2006.

Die Fachärztin für Gynäkologie und Frauenheilkunde Dr. W. beschrieb unter dem 28. April 2008 eine nachgewiesene Belastungsinkontinenz II. Grades. Der Klägerin sei am 14. Februar 2008 ein Serasis-T-O-Band implantiert worden, was postoperativ zu einer deutlichen Besserung der Inkontinenz geführt habe, da kein unwillkürlicher Harnabgang mehr am Tage aufgetreten sei. Der Blutdruck habe 130/80 mm Hg betragen (Gewicht: 116,7 kg). In einem Arztbrief vom 17. März 2008 berichteten die Radiologen Dipl.-Med. L. und Jäpelt über eine Kernspintomographie vom 17. März 2008: Hiernach bestehe ein altersentsprechender Befund des Gehirns.

Dipl.-Med. Z. gab in einem Befundbericht vom 6. Mai 2008 u.a. an: Die Klägerin habe im Mai 2007 über einen Hörverlust, Kopfschmerzen und pfeifende Geräusche im linken Ohr geklagt. Der Ohrenarzt habe aber "nichts finden können". Die Fachärztin für HNO-Heilkunde Dr. E. gab in einem weiteren Befundbericht vom 3. Juni 2008 eine beidseitige Hochtonschwerhörigkeit sowie einen beidseitigen Tinnitus bei gleichbleibendem Beschwerdebild an. Der Facharzt für Chirurgie Dr. L. berichtete unter dem 9. August 2008 über ein nach der OP gebessertes Krampfaderleiden. Es sei lediglich eine chronische venöse Insuffizienz verblieben. Das DRK-Manniske-Krankenhaus Frankenhausen informierte in einem weiteren Arztbrief vom 19. August 2008 über einen stationären Aufenthalt der Klägerin vom 13. August 2008 bis 19. August 2008. Eine operative Behandlung von Marisken (um den After herumliegende Hautlappen) sei danach komplikationslos erfolgt. Die Klägerin sei jederzeit grob- und feinkontinent.

Der 3. Senat des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt hatte in dem Rentenverfahren die Fachärztin für Innere Medizin, Sozialmedizin, Betriebsmedizin Dr. H. ein Sachverständigengutachten vom 18. November 2008 erstatten lassen (Untersuchung vom 10. September 2008). Die Sachverständige hatte dabei u.a. ausgeführt:

Seit den Neunziger Jahren leide die Klägerin unter ständigen tief sitzenden Rückenschmerzen mit Ausstrahlungen in das Gesäß und besonders in die Außenseite des linken Oberschenkels bis zu den Zehen. Das Bücken und Wiederaufrichten führe zu einer Schmerzverstärkung. Sie könne heruntergefallene Gegenstände nicht mehr selbst aufheben. Das Hocken und das Knien seien ihr seit Jahren nicht mehr möglich. Gehen könne sie 10 Minuten pausenfrei und Stehen 5-10 Minuten lang. Sitzen sei ihr noch 10-15 Minuten möglich, wobei sie sich im Liegen am besten fühle. Sie habe Durchschlafstörungen und benötigte morgens eine gewisse Anlaufzeit und müsse zunächst "ihre Knochen sortieren". Wegen der dauernden Schmerzen habe sie manchmal keinen Lebensmut mehr und sei mit den Nerven am Ende. Deswegen habe sie vierteljährlich einen Psychotherapeut aufgesucht, werde jedoch deswegen zurzeit nicht mehr behandelt. Seit den Neunziger Jahren habe sie wegen einer Verschleißerkrankung Schmerzen in den Kniegelenken. Das linke Knie könne sie manchmal 3-4 Tage nicht durchdrücken und benutzen. Auch das rechte Kniegelenk schmerze hin und wieder. Im Bereich der Halswirbelsäule habe sie stechende Schmerzen im Nacken mit Ausstrahlungen in die Arme und in die Finger. Morgens müsse sie im Bett zunächst gymnastische Übungen ausführen, um überhaupt aufstehen zu können. Sie könne den Kopf nicht mehr nach rechts drehen, so dass ihr das Fensterputzen nicht mehr möglich sei. Sie habe ständig brennende Schmerzen in den Füßen, Zehen und Fußaußenkanten. Der Einsatz von Einlagen habe keine Linderung gebracht. Auch habe sie Schwierigkeiten beim Zufassen und könne die Arme nicht über längere Zeit anheben. Schon beim Anziehen habe sie Probleme. Sie sei mehrfach wegen Gastritis stationär behandelt worden. Im August 2008 habe sie sich einer Hämorrhoiden-OP unterziehen müssen. Sie habe seit über 10 Jahren Bluthochdruck und sei wegen eines Schwindels im Jahr 2001 und 2003 umgefallen. Auch habe sie Luftnot beim Treppensteigen über die erste Etage hinaus. Zum Training des Gleichgewichtssinns führe sie regelmäßig Pendelübungen durch. Der Diabetes mellitus habe nicht zu Augen- oder Nierenschäden geführt.

Ihr Tagesablauf beginne um 7.00 Uhr mit gymnastischen Übungen für ca. 30 Minuten. Das Frühstück nehme sie zwischen 8.30 Uhr bis 9.30 Uhr ein. Danach erledige sie die Hausarbeiten und koche das Mittagessen, was ca. gegen 12.00 Uhr mit dem Lebenspartner eingenommen werde. Anschließend halte sie bis 14.00 Uhr Mittagsruhe. Nach erneuten gymnastischen Übungen und Kaffeetrinken gehe sie ca. 30 Minuten mit dem Hund spazieren. Auch fahre sie sehr gern Rad. Ein Mal wöchentlich gehe sie schwimmen. Nachmittags halte sie sich gerne im Garten des Lebenspartners aus, könne jedoch keine Gartenarbeiten mehr verrichten. Anschließend bereite sie das Abendbrot vor und fahre manchmal dann nach Hause. Sie plane bauliche Änderungen. Die Küche solle ins Erdgeschoss verlagert werden, damit sie sich nur noch unten aufhalten könne. In der freien Zeit lese sie gern die "Apothekenrundschau", beschäftige sich mit der Nähmaschine und löse Sudoku-Rätsel. Einen Computer habe sie leider nicht. Ihren jetzigen Lebenspartner kenne sie seit 25 Jahren, wolle jedoch wegen negativer Erfahrungen aus einer früheren Partnerschaft mit ihm keinen gemeinsamen Hausstand gründen. Sie suche ihn regelmäßig in einem etwa vier Kilometer entfernten Ort auf.

Die Klägerin habe sich in einem guten Allgemein- und übergewichtigem Ernährungszustand befunden (Größe: 169 cm; Körpergewicht: 114 kg). Luftnot beim Umkleiden sei nicht aufgetreten. Das Sehvermögen sei mit Brille korrigiert und das Hörvermögen für die Umgangssprache intakt. Die Herzfrequenz habe 66/min, der Blutdruck 140/100 mm/hg betragen. Das Umkleiden sei im Sitzen, zügig und ohne nennenswerte Bewegungseinschränkungen erfolgt. Der Faustschluss, Spitz- und Schlüsselgriff seien uneingeschränkt vorgeführt worden. Die grobe Kraft sei normal. Die Beweglichkeit der Gelenke sei nicht eingeschränkt. Das Gangbild in der Ebene sei flüssig unter Mitschwingen der Arme in normalem Tempo und normaler Schrittlänge. Muskelverschmächtigungen bestünden nicht. Die Hüftgelenke seien frei beweglich. Es bestehe eine mäßig ausgeprägte Verspannung der Muskulatur des Schultergürtels. Die Bewegungsmessungen haben Folgendes unter Schmerzangabe im letzten Beugedrittel ergeben:

Drehung des Kopfes (rechts/links) 40°/0°/60° (Norm: 70°-80°) Seitneigung des Kopfes (rechts/links) 20°/0°/20° (Norm:35°-45°) Drehung des Rumpfes (rechts/links) 30°/0°/40° (Norm 30°-40°) Seitneigung des Rumpfes (rechts/links) 20°/0°/20° (Norm 30°-40°)

Die Bewegungsmessung der Kniegelenke habe links 0°/0°/110° und rechts 0°/0°/120° unter Schmerzangabe im letzten Beugedrittel ergeben. Die Standarten seien sicher vorführbar. Der Kniebandapparat sei stabil.

In vegetativer Hinsicht habe sie einen normalen Appetit angegeben. In Folge eines Hämorrhoidenleidens habe sie gelegentlich Blutauflagerungen auf dem Stuhl. Nach dem operativen Eingriff geschehe die Blasenentleerung problemlos. Nachts müsse sie nur noch ein Mal die Blase entleeren.

Denk- oder Wahrnehmungsstörungen seien nicht erkennbar. Bei der Untersuchung und Befragung fielen Umständlichkeiten und ein Verlieren in Einzelheiten auf, die öfters Unterbrechungen der Untersucherin erfordert hätten. Zeitweise sei es zu einer emotionalen Labilität durch weinerliche Ausbrüche gekommen. Zu keinem Zeitpunkt habe der Eindruck einer deutlichen Depressivität bestanden. Aufmerksamkeit, Ausdauer und Konzentrationsvermögen sowie die Wendigkeit auf unterschiedliche Anforderungen blieben während der gesamten Untersuchung gleich.

Ein Fahrradergometrietest im Sitzen sei nach 9 Minuten zu Beginn der 125 Watt-Stufe wegen allgemeiner Erschöpfung abgebrochen worden. Objektive Abbruchkriterien hätten nicht bestanden. Die Ausbelastungsfrequenz sei dabei nicht erreicht worden.

Als das Leistungsvermögen im Erwerbsleben beeinträchtigende Gesundheitsstörungen bestünden:

Chronisches pseudoradikuläres Lendenwirbelsäulensyndrom bei mäßig über das Altersmaß hinaus gehende Verschleißerscheinungen in Form ventraler Spondylose, Osteochondrose und Bandscheibenvorwölbungen mit Tangierung der Nervenwurzel L 5 beidseits ohne Bandscheibenvorfälle und ohne relevante knöcherne spinale Einengung Chronisches peudoradikuläres Cervicobrachialsyndrom beidseits bei Arthrose der kleinen Wirbelgelenke, rechtslateralen Bandscheibenvorfällen der Segmente C 5/6, C 6/7 mit Forameneinengung und Nervenwurzelreizung Minderbelastbarkeit der Kniegelenke durch eine mittelschwere Gonarthrose links, leicht-/mittelgradige Gonarthrose rechts, Zustand nach arthroskopischer Revision links und partieller Meniskusteilresektion links 2003 Kompensierter Bluthochdruck ohne Linksherzbeteiligung und ohne Neigung zu hypertensiven Entgleisungen Dysplasiecoxarthrose beidseits ohne Funktionsstörungen Großzehengrundgelenkarthrose beidseits ohne relevante Funktionsstörungen Unfallschaden Daumensattelgelenk und Zeigefinger rechts ohne Funktionsstörungen Chronisch venöse Insuffizienz bei Zustand nach Varizenoperation.

Bei der Untersuchung sei eine deutliche Diskrepanz zwischen den subjektiv empfundenen Beschwerden und den objektiven Befunden aufgefallen. Die nur mäßig über das Altersmaß hinausgehenden Verschleißerkrankungen der Wirbelsäule können die schmerzbedingten Funktionsstörungen allein nicht erklären. Neben der muskulären Dysbalance am Schultergürtel, den gering entwickelten Bauchmuskeln und dem erheblichen Übergewicht spiele für das Beschwerdebild eine psychosomatische Fehlverarbeitung eine entscheidende Rolle. Diese dürfte ihre Grundlage in einer sozialen Konfliktsituation haben. Nach langjähriger Tätigkeit als Elektromechanikerin mit Vorgesetztenfunktion (Brigadeleiterin) habe die Klägerin diese Tätigkeit im Jahr 1992 betriebsbedingt verloren. Die sich anschließende Langzeitarbeitslosigkeit, die damit verbundenen sozialen und finanziellen Probleme, der Verlust des Ehepartners nach einer konfliktreichen Partnerbeziehung hätten zur häufigen Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe auf verschiedenen Fachrichtungen mit nur vorübergehenden Besserungen geführt. Die geistige Leistungsfähigkeit sei nicht wesentlich eingeschränkt. Die Klägerin sei erkrankungsfixiert, habe dabei jedoch noch keinen verfestigten Zustand erreicht und könne über eine psychotherapeutische Intervention noch positiv beeinflusst werden. Schließlich zeige die Klägerin durch eigene Maßnahmen (Gymnastik; Schwindeltraining und Schwimmen) noch eine deutliche Motivation, um ihr Beschwerdebild zu verbessern.

Die Klägerin hat ihre Berufung im Rentenverfahren in der mündlichen Verhandlung vom 26. März 2009 zurückgenommen. Der Berichterstatter hat die Klägerin mit Verfügung vom 5. Mai 2009 darauf hingewiesen, dass nach Auswertung der Rentenakte die Berufung keine Aussicht auf Erfolg biete und neue Tatsachen vorzutragen seien. Die Klägerin hat einen Arztbrief der H. Klinik B. vom 25. Mai 2009 über einen stationären Aufenthalt vom 19. bis 28. Mai 2009 sowie einen Arztbrief vom Facharzt für Gefäßchirurgie Dr. L. vom 27. April 2009 vorgelegt und an ihrer Berufung festgehalten. Der Beklagte hat hierzu ausgeführt, der neuerliche stationäre Aufenthalt in der H. klinik habe zu einer deutlichen Beschwerdelinderung geführt. Anhaltspunkte für eine Durchblutungsstörung seien aus dem Arztbrief nicht zu erkennen.

In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin einen Arztbrief der Fachärztin für Orthopädie und Unfallchirurgie Dr. R. (H. Klinik B.) vom 18. August 2009 vorgelegt. Diese diagnostizierte eine degenerative Meniskusläsion rechts, freie Gelenkkörper und eine Gonarthrose rechts und empfahl eine Athroskopie im rechten Kniegelenk.

Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte des Beklagten sowie ein Auszug aus der Rentenakte S 10 RJ 393/01 bzw. L 3 RJ 14/05 haben vorgelegen und waren Gegen- stand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte ergänzend verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte und gemäß § 143 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) auch statthafte Berufung der Klägerin ist nicht begründet.

Die Klage gegen den Bescheid vom 14. März 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 1. Februar 2007 ist als Anfechtungs- und Verpflichtungsklage nach § 54 Abs. 1 SGG statthaft. Sie ist jedoch unbegründet, denn die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Feststellung eines GdB von mehr als 40. Bei der hier erhobenen Anfechtungs- und Verpflichtungsklage ist für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung maßgeblich (vgl. BSG, Urteil vom 12. April 2000 - B 9 SB 3/99 R = SozR 3-3870 § 3 Nr. 9 Seite 22). Danach liegt bei der Klägerin ein GdB nicht über 40 ab dem 25. November 2005 vor.

Der Widerspruch vom 4. April 2006 gegen den Bescheid vom 14. März 2006 ist erst am 4. Juli 2006 zu Verwaltungsakte der Beklagten gelangt, damit erst nach Ablauf der Widerspruchsfrist eingegangen und daher verfristet. Der Beklagte hat jedoch den Widerspruch nicht als unzulässig behandelt, sondern die Klägerin mit Schreiben vom 6. Juli 2006 zur sachlichen Begründung des Widerspruchs aufgefordert und anschließend auch im Widerspruchsbescheid in der Sache entschieden. Die Fristverletzung ist daher durch das Verhalten des Beklagten als geheilt anzusehen (vgl. allgemein Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage 2008, § 84 Rdn. 7).

Für den streitgegenständlichen Zeitraum gilt das am 1. Juli 2001 in Kraft getretene Neunte Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB IX) über die Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen vom 19. Juni 2001 (BGBl. I S. 1046). Der hier anzuwendende § 69 SGB IX ist durch die Gesetze vom 23. April 2004 (BGBl. I S. 606) und vom 13. Dezember 2007 (BGBl. I S. 2904) geändert worden. Rechtsgrundlage für den von dem Kläger erhobenen Anspruch auf Feststellung eines GdB von mindestens 50 ist § 69 Abs. 1 und 3 SGB IX. Infolge der verfahrensrechtlichen Änderungen des § 69 SGB IX durch das Gesetz vom 23. April 2004 (a.a.O.) hat sich im Übrigen nur die Satzzählung geändert. Im Folgenden werden die Vorschriften des § 69 SGB IX nach der neuen Satzzählung zitiert.

Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung fest. Diese Vorschrift knüpft materiellrechtlich an den in § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX bestimmten Begriff der Behinderung an. Danach sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Nach § 69 Abs. 1 Satz 4 SGB IX sind die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben der Gesellschaft als Grad der Behinderung nach Zehnergraden abgestuft festzustellen. Wenn mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben der Gesellschaft vorliegen, wird nach § 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX der Grad der Behinderung nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt.

§ 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX ist durch das insoweit am 21. Dezember 2007 in Kraft getretene Gesetz vom 13. Dezember 2007 (a.a.O.) geändert worden. Nach der früheren Fassung der Vorschrift galten für den Grad der Behinderung die im Rahmen des § 30 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) festgelegten Maßstäbe entsprechend. Nach dem Wortlaut der früheren Fassung des ebenfalls durch das Gesetz vom 13. Dezember 2007 geänderten § 30 Abs. 1 BVG war für die Beurteilung die körperliche und geistige Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben maßgeblich, wobei seelische Begleiterscheinungen und Schmerzen zu berücksichtigen waren. Nach der Neufassung des § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX gelten für den Grad der Behinderung die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der aufgrund des § 30 Abs. 17 BVG erlassenen Rechtsverordnung entsprechend. Nach der damit in Bezug genommenen neuen Fassung des § 30 Abs. 1 BVG richtet sich die Beurteilung des Schweregrades – dort des "Grades der Schädigungsfolgen" (GdS) – nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen in allen Lebensbereichen. Die hierfür maßgebenden Grundsätze sind in der am 1. Januar 2009 in Kraft getretenen Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) aufgestellt worden, zu deren Erlass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales durch den dem § 30 BVG durch das Gesetz vom 13. Dezember 2007 angefügten Absatz 17 ermächtigt worden ist.

Nach § 2 VersMedV sind die auch für die Beurteilung des Schweregrades nach § 30 Abs. 1 BVG maßgebenden Grundsätze in der Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (Anlageband zu BGBl. I Nr. 57 vom 15. Dezember 2008, G 5702) als deren Bestandteil festgelegt und sind damit nunmehr der Beurteilung der erheblichen medizinischen Sachverhalte mit der rechtlichen Verbindlichkeit einer Rechtsverordnung zugrunde zu legen. Zuvor dienten der Praxis als Beurteilungsgrundlage die jeweils vom zuständigen Bundesministerium herausgegebenen "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht", die nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts als vorweggenommene Sachverständigengutachten eine normähnliche Wirkung hatten (vgl. BSG, Urteil vom 18. September 2003 – B 9 SB 3/02 RSozR 4-3800 § 1 Nr. 3 Rdnr. 12, m.w.N.). Die in den Anhaltspunkten (letzte Ausgabe von 2008) enthaltenen Texte und Tabellen, nach denen sich die Bewertung des Grades der Behinderung bzw. der Schädigungsfolge bisher richtete, sind – inhaltlich unverändert – in diese Anlage übernommen worden (vgl. die Begründung BR-Drucks. 767/08, S. 3 f.). Die im vorliegenden Fall heranzuziehenden Abschnitte aus den Anhaltspunkten in den Fassungen von 2004 und 2008 bzw. aus den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen sind nicht geändert worden. Im Folgenden werden die Vorschriften der Versorgungsmedizinische Grundsätze zitiert. Die Begriffe GdS und GdB werden dabei nach gleichen Grundsätzen bemessen. Sie unterscheiden sich lediglich dadurch, dass sich der GdS kausal auf Schädigungsfolgen und sich der GdB final auf alle Gesundheitsstörungen unabhängig von deren Ursachen auswirkt (vgl. Versorgungsmedizinische Grundsätze, Teil A: Allgemeine Grundsätze 2 a (S. 8)).

Durch die Neuregelung ist den Einwänden gegen die bisherigen "Anhaltspunkte" jedenfalls für den vorliegenden Fall der Boden entzogen worden. Zum einen ist durch die Neuregelung die auch von der Rechtsprechung geforderte Rechtsgrundlage für die bisherigen "Anhaltspunkte" geschaffen worden (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung v. 28. September 2007, BT-Drucks. 16/6541, S. 1, 31). Zum anderen ist durch die Verweisung des neu gefassten § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX auf die Neufassung des § 30 Abs. 1 BVG klargestellt worden, dass auch für die Feststellung des GdB "die allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen" maßgeblich sind. Zudem hatte sich auch schon zu der früheren Fassung des § 69 Abs. 1 SGB IX eine ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts gebildet, nach der trotz der Ersetzung des Schwerbehindertengesetzes durch das SGB IX inhaltlich das Beurteilungsgefüge der Anhaltspunkte maßgeblich geblieben war (vgl. BSG, Urt. v. 24. April 2008 – B 9/9a SB 6/06 R – in juris Rn. 15 m.w.N.).

Der hier streitigen Bemessung des Grads der Behinderung ist die GdS (Grad der Schädigung)-Tabelle der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (Teil A, S. 17 ff.) zugrunde zu legen. Nach den allgemeinen Hinweisen zu der Tabelle (Teil A, S. 8 ff.) sind die dort genannten GdS-Sätze Anhaltswerte. In jedem Einzelfall sind alle leistungsmindernden Störungen auf körperlichem, geistigem und seelischem Gebiet zu berücksichtigen und in der Regel innerhalb der in Nr. 2 e (Teil A, S. 8) genannten Funktionssysteme (Gehirn einschließlich Psyche; Augen; Ohren; Atmung; Herz-Kreislauf; Verdauung; Harnorgane; Geschlechtsapparat; Haut; Blut und Immunsystem; innere Sektion und Stoffwechsel; Arme; Beine; Rumpf) zusammenfassend zu beurteilen. Die Beurteilungsspannen tragen den Besonderheiten des Einzelfalles Rechnung (Teil B, Nr. 1 a, S. 18).

Nach diesem Maßstab kann für die Funktionseinschränkungen der Klägerin kein höherer GdB als 40 festgestellt werden. Dabei stützt sich der Senat auf die versorgungsärztlichen Stellungnahmen des Beklagten, die eingeholten Befundberichte und Arztbriefe und auf das von der Vorinstanz eingeholte orthopädische Gutachten von Prof. Dr. R. sowie insbesondere auf das überzeugende rentenversicherungsrechtliche Gutachten von Dr. H. im rentenversicherungsrechtlichen Berufungsverfahren (L 3 RJ 14/05) vor dem Landessozialgericht Sachsen-Anhalt vom 18. November 2008.

1. Das eigentliche Hauptleiden der Klägerin ist dem Funktionsbereich der "Psyche" zuzuordnen. Die Klägerin leidet an einer wiederkehrenden depressiven Episode sowie insbesondere an einer somatoformen Schmerzkrankheit. Hierfür hält der Senat die Feststellung eines GdB von 30 für angemessen.

So beschreibt die Sachverständige Dr. H. in ihrem Gutachten vom 18. November 2008 nachvollziehbar eine deutliche Diskrepanz zwischen empfundenen Beschwerden und den tatsächlichen objektiven Befunden auf orthopädischem Gebiet und bejaht eine psychosomatische Fehlverarbeitung der Klägerin. Dies bestätigt auch der sehr erfahrene Sachverständige Prof. Dr. R., der bei der Klägerin anhand der Auswertung eines Fragebogens und aufgrund seines Gesamteindrucks eine somatoforme Schmerzstörung sowie eine deutlichen Neurotisierung bestätigt. Dieser Einschätzung folgt im Kern auch die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dipl.-Med. S. in ihrem Befundbericht vom 22. Januar 2008. Sie diagnostiziert neben rezidivierenden depressiven Episoden zwar nur den Verdacht auf Überlagerung der organischen Störung durch eine Somatisierung. Aufgrund der übereinstimmenden Bewertungen der erfahrenen Sachverständigen Dr. H. und Prof. Dr. R. hält der Senat die Diagnose einer somatoformen Schmerzstörung jedoch für gesichert.

Nach 3.7 (S. 27) der Anlage zu den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen ist eine Depression/somatoforme Schmerzstörung wie folgt zu bewerten.

Neurosen, Persönlichkeitsstörungen, Folgen psychischer Traumen Leichtere psychovegetative oder psychische Störungen ...0 – 20

Stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z. B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) ... 30 – 40 Schwere Störungen (z. B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten ... 50 – 70 mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten ... 80 – 100 Eine somatoforme Schmerzstörung ist bereits als eine stärker behindernde Störung zu bewerten und eröffnet dabei einen Bewertungsrahmen eines Einzel-GdB von 30 – 40.

Der Senat hält unter Auswertung der Auswirkungen dieser psychiatrischen Erkrankung bei der Klägerin einen Einzel-GdB von lediglich 30 für gegeben. Zwar spricht die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dipl.-Med. S. von einer mittelgradigen sozialen Anpassungsstörung, die nach der GdS-Tabelle sogar einen Bewertungsrahmen von 50 – 70 eröffnet hätte. Diese Einschätzung orientiert sich jedoch nicht an den Vorgaben der GdS-Tabelle. Maßgebend ist hierfür, ob eine wesentliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit vorliegt. Hierzu finden sich in dem Befundbericht von Dipl.-Med. S. weder konkreten Angaben noch eine nähere Begründung. Demgegenüber hat die Sachverständige Dr. H. im rentenversicherungsrechtlichen Verfahren die Lebenssituation der Klägerin detailreich beschrieben. Nach diesen eigenen Angaben der Klägerin kommt sie in ihrem Alltag zurecht und kann die damit verbundenen Anforderungen auch noch bewältigen. So verfügt sie über einige Sozialkontakte, nimmt diese auch regelmäßig wahr, geht ihren Hobbys nach und kann ihren Tagesablauf einschließlich mehrfach täglicher Gymnastikübungen, regelmäßiger Spaziergänge mit dem Hund und leichten Hausarbeiten gut organisieren und bewältigen. Auch vermochte die Klägerin der intensiven Belastung einer umfangreichen Untersuchung und Befragung sowohl bei Prof. Dr. R. wie auch bei Dr. H. ohne offensichtliche Leistungseinbußen nachkommen. Gravierende Störungen der Affektsteuerung hat Dr. H. nicht berichtet. Für einen psychisch eher stabilisierten Zustand und einen fehlenden Behandlungsbedarf auf psychiatrischem Gebiet spricht auch die Angabe der Klägerin gegenüber der Sachverständigen Höfs, die psychotherapeutischen Behandlung nach einem Partnerschaftskonflikt in der Vergangenheit nicht weiter fortgesetzt zu haben. Wegen dieser noch vorhandenen Alltagskompetenz kann nach der GdS-Tabelle noch nicht der Bewertungsrahmen eines Einzel-GdB von 40 oder mehr für die Klägerin herangezogen werden. Hierfür wären schwerwiegende Einschränkungen in der Alltagsbewältigung notwendig.

2. Ein weiteres Leiden der Klägerin ist dem Funktionsbereich "Rumpf" zuzuordnen. Nach der überzeugenden Einschätzung der Sachverständigen Dr. H. besteht in diesem Funktionsbereich ein chronisches pseudoradikuläres Lendenwirbelsäulensyndrom bei mäßig über das Altersmaß hinaus gehende Verschleißerscheinungen in Form ventraler Spondylose, Osteochondrose und Bandscheibenvorwölbungen mit Tangierung der Nervenwurzel L 5 beidseits ohne Bandscheibenvorfälle und ohne relevante knöcherne spinale Einengung sowie ein chronisches pseudoradikuläres Cervicobrachialsyndrom beidseits bei Arthrose der kleinen Wirbelgelenke, rechtslateralen Bandscheibenvorfällen der Segmente C 5/6, C 6/7 mit Forameneinengung und Nervenwurzelreizung. Dies entspricht im Wesentlichen auch der Einschätzung der Einschätzung von Prof. Dr. R. im Gutachten vom 17. Dezember 2007.

Der Senat hält hierfür einen Einzel-GdB von höchstens 20 für angemessen. Nach dem überzeugenden Sachverständigengutachten von Dr. H. lässt sich eine nur mäßig über das Altersmaß hinausgehende Verschleißerkrankung der Wirbelsäule feststellen. Gerade die aus dem objektivierbaren Befund nicht erklärbaren schmerzbedingten Funktionsstörungen haben nach ihrer Einschätzung kein organisches Korrelat und sind, um nicht zwei Mal berücksichtigt zu werden, der psychischen Überlagerung zuzuordnen. Damit sind sie Ausprägung der bereits bewerteten somatoformen Schmerzstörung. Dem entspricht auch die Einschätzung von Prof. Dr. R., der für den Bereich der Hals- und Wirbelsäule wegen des Fehlens neurologischer Defizite lediglich einen Einzel-GdB von 10 für gerechtfertigt ansieht.

Auch aus dem von der Klägerin nachgereichten Arztbrief der H. Klinik B. vom 28. Mai 2009, der u.a. ein akut schmerzhaftes L 5 Radikulärsyndrom auswies, ergibt sich keine andere Bewertung. Schließlich führte diese stationäre Behandlung nach intensiver Physio- und Schmerztherapie zu einer deutlichen Beschwerdelinderung.

3. Als weiteres Leiden liegt eine Gonarthrose beidseits vor, die dem Funktionssystem "Bein" zuzuordnen ist. Nach dem Gutachten von Dr. H. ist von einer mittelschweren Gonarthrose links und einer leicht-/mittelgradige Gonarthrose rechts auszugehen. Der Orthopäde Prof. Dr. R. diagnostiziert in seinem Gutachten vom 17. Dezember 2007 eine Lockerung des Kniebandapparates mit ausgeprägtem Knorpelschaden bis Stadium III, jedoch ohne akute Reizerscheinungen und ohne Bewegungseinschränkungen.

Bei Knieerkrankungen sieht die GdS-Tabelle unter 18.14 (S. 100) Folgendes vor:

Lockerung des Kniebandapparates muskulär kompensierbar ... 10 unvollständig kompensierbar, Gangunsicherheit ... 20 Bewegungseinschränkung im Kniegelenk geringen Grades (z. B. Streckung/Beugung bis 0-0-90) einseitig ... 0 – 10 beidseitig ... 10 – 20 mittleren Grades (z. B. Streckung/Beugung 0-10-90) einseitig ... 20 beidseitig ... 40 stärkeren Grades (z. B. Streckung/Beugung 0-30-90) einseitig ...30 beidseitig ...50

Ausgeprägte Knorpelschäden der Kniegelenke (z. B. Chondromalacia patellae Stadium II – IV) mit anhaltenden Reizerscheinungen einseitig ohne Bewegungseinschränkung ... 10 – 30 mit Bewegungseinschränkung ... 20 – 40

Weder der Sachverständige Prof. Dr. R. noch Dr. H. haben bei der Klägerin Gangstörungen festgestellt, so dass die offenbar kompensierte Lockerung des Kniebandapparates allenfalls einen Einzel-GdB von 10 zulässt. Die Bewegungsmaße der Kniegelenke haben sich zwischen dem Sachverständigengutachten von Prof. Dr. R. (0°/0°/150°) und dem von Dr. H. zwar leicht verschlechtert, erreichen jedoch eindeutig nicht den maßgeblichen Anfangswert von 0°/0°/90°. Die Feststellung eines Einzel-GdB von mindestens 10 kann wegen dieser noch erreichbaren Bewegungsmaße nicht erfolgen. Die von beiden Sachverständigen festgestellten erheblichen Knorpelschäden in den Knien haben bei der Klägerin nicht zu anhaltenden Reizerscheinungen geführt und sind daher nach dem klaren Wortlaut der GdS-Tabelle an sich unbeachtlich. Doch selbst wenn zu Gunsten der Klägerin dieser Knorpelschaden ohne Reizerscheinungen zu berücksichtigen wäre, rechtfertigte dies allenfalls einen Einzel-GdB von höchstens 20.

Auch der von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vorgelegte Arztbrief vom 18. August 2009 führt zu keiner anderen Bewertung. Neben den darin bereits bekannten Diagnosen wird lediglich eine Arthroskopie empfohlen. Hinweise für eine sich verstärkende und dauerhafte funktionelle Einschränkung des rechten Kniegelenks sind daraus nicht abzuleiten.

4. Als weitere Erkrankung liegt bei der Klägerin seid dem 7. Dezember 2006 eine Belastungsinkontinenz vor, die dem Funktionssystem "Harnorgane" zuzuordnen ist. Eine Belastungsinkontinenz I. Grades findet sich erstmals im Befundbericht von Dipl.-Med. Z. vom 3. April 2007. Die Fachärztin für Gynäkologie und Frauenheilkunde Dr. W. gab unter dem 28. April 2008 dann eine Belastungsinkontinenz II. Grades an, die seit dem 14. Februar 2008 erfolgreich mit einer Serasis-T-O-Band – Operation behandelt worden ist. Nach dieser Operation hat sich nach ihrer Einschätzung das Beschwerdebild deutlich verbessert. Eine deutliche Verbesserung der Inkontinenzbeschwerden hat die Klägerin in der Untersuchung bei der Sachverständigen Dr. H. auch bestätigt und eine problemlose Blasenentleerung beschrieben. Daher ist es folgerichtig, dass in dem von der Klägerin vorgelegten Arztbrief der H. Klinik B. vom 28. Mai 2009 die Diagnose einer Blaseninkontinenz nicht (mehr) genannt wird.

Nach 12.2.4. der GdS-Tabelle (S. 67) wird die Harnkontinenz im Behinderungsgrad wie folgt bewertet:

Harninkontinenz relative leichter Harnabgang bei Belastung (z. B. Stressinkontinenz Grad I) ... 0 – 10 Harnabgang tags und nachts (z. B. Stressinkontinenz Grad II-III) ...20 – 40

Nach der Befundlage ist bei der Klägerin seit dem 6. Dezember 2006 zunächst von einer leichten Stressinkontinenz I. Grades auszugehen, die einen Einzel-GdB von 10 rechtfertigt. Dieser Zustand hat offenbar auch im August 2007 anlässlich der orthopädischen Behandlung in der H. Klinik B. noch bestanden, da sich in den zahlreichen Diagnosen der Klinik kein Hinweis auf eine Inkontinenz findet. Am 9. Oktober 2007 (letzter Behandlungszeitpunkt von Dr. W. im Befundbericht vom 28. Januar 2008) findet sich dann erstmals die Diagnose einer Stressinkontinenz II. Grades, die am 14. Februar 2008 erfolgreich operativ behandelt werden konnte. Ab Oktober 2007 ist daher bis zum Februar 2008 von einer Stressinkontinenz II. Grades auszugehen, die einen Einzel-GdB von 20 rechtfertigt. Nach diesem Zeitpunkt ist kein Einzel-GdB mehr anzuerkennen, da sich das gesamte Beschwerdebild der Klägerin in diesem Punkt deutlich gebessert hat und die Diagnose von den Ärzten nicht wieder aufgegriffen wurde.

5. Als weitere Erkrankung liegt bei der Klägerin ein kompensierter Bluthochdruck ohne Linksherzbeteiligung und ohne Neigung zu hypertensiven Entgleisungen (so Dr. H.) vor, der wegen der auch von der Klägerin verneinten Organbeteiligung in seinen Auswirkungen als leicht bewertet werden kann und allenfalls einen Einzel-GdB von 10 rechtfertigt. Für eine nennenswerte Herzerkrankung ergeben die Befunde und Sachverständigengutachten keinen Hinweis. Die Klägerin hat auch im Ergometrietest (Dr. H.) eine Leistung von 125 Watt erzielt, ohne an die Belastungsgrenze gelangt zu sein. Dies wäre mit einer Herzerkrankung nicht ohne erhebliche Krankheitsanzeichen möglich gewesen.

6. Die Hochtonschwerhörigkeit bei Tinnitus hat bei der Klägerin nicht zu beachtlichen Funktionsausfällen geführt und ist allenfalls mit einem Einzel-GdB von 10 einzuschätzen. Sie trägt kein Hörgerät und ist offenbar problemlos in der Lage, einer ausführlichen Untersuchung zu folgen (Dr. H., Prof. Dr. R.). Auch aus den Befundberichten von Dr. E. lässt sich keine relevante Störung der Hörleistungen ableiten.

7. Die weiteren Erkrankungen der Klägerin wie die Refluxösophagitis, die Gastritis, die Unterfunktion der Schilddrüse sowie der diätetisch eingestellte Diabetes mellitus wirken sich funktionell allenfalls geringfügig aus und haben keine intensiven therapeutischen Behandlungen nach sich gezogen. Wegen dieser geringen Auswirkungen kann für diese Erkrankungen ein Einzel-GdB von jeweils höchstens 10 angenommen werden.

8. Daneben besteht bei der Klägerin eine venöse Insuffizienz, die im linken Bein im Zuge einer Varizenoperation erfolgreich behandelt worden ist und keinen Einzel-GdB rechtfertigen kann. Gleiches gilt für die am 14. August 2008 erfolgreich durchgeführte Mariskenoperation.

9. Bezüglich der Großzehengrundgelenkarthrose beidseits und dem Unfallschaden am Daumensattelgelenk und dem Zeigefinger rechts zeigen sich keine Funktionsstörungen (Dr. H.). Die Feststellung eines Einzel-GdB ist daher nicht vorzunehmen.

10. Da bei der Klägerin Einzelbehinderungen aus verschiedenen Funktionssystemen mit einem messbaren Grad der Behinderung vorliegen, ist nach § 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX der Grad der Gesamtbehinderung zu ermitteln. Dafür sind die Grundsätze nach Teil A, Nr. 3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (S. 8) anzuwenden. Nach Nr. 3c ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzelgrad bedingt, und dann zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten Zehnergrad ein oder mehr Zehnergrade hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden.

Danach kann kein höherer Gesamtgrad der Behinderung als 40 angenommen werden. Für das Funktionssystem Hirn und Psyche ist zunächst wegen der somatoformen Schmerzstörung von einem Einzel-GdB von 30 auszugehen. Daneben bestehen Behinderungen für den Funktionsbereich "Rumpf" sowie "Bein", die einen Einzel-GdB von jeweils höchstens 20 rechtfertigen. Für den Zeitraum von Oktober 2007 bis Februar 2008 ist von einer Stressinkontinenz II. Grades im Funktionssystem "Harnorgane" auszugehen, der aber, da es sich um keinen länger dauernden Zustand von mindestens sechs Monaten gehandelt hat, nicht für einen Einzel-GdB von 20 ausreicht. Für den Bluthochdruck und die Hochtonschwerhörigkeit und die weiteren aufgeführten Erkrankungen ergibt sich jeweils ein Einzel-GdB von höchstens 10.

In der Gesamtbewertung dieser Behinderungen darf keine Addition der Einzel-GdB-Werte erfolgen. Vielmehr ist nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen von Folgendem auszugehen: Regelmäßig kann der Gesamt-GdB aufgrund weiterer Erkrankungen, die allenfalls mit einem GdB von 10 rechtfertigen können, nicht erhöht werden. Denn nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (Teil A, Nr. 3 ee, S. 10) führen leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen Behinderungsgrad von 10 bedingen grundsätzlich nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes des Gesamtbeeinträchtigung. Selbst bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, daraus auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen.

Selbst bei wohlwollender Bewertung der Einzelbehinderungen kann die Klägerin daher nur einen Gesamt-GdB von 40 erreichen. Hierbei ist zu beachten, dass die Einschätzungen des Senats für die Funktionssysteme "Bein" und "Rumpf" sich bereits am obersten Bereich der möglichen Vorgaben der versorgungsmedizinischen Grundsätze bewegt haben und durchaus auch eine strengere Einschätzung möglich gewesen wäre. Die zahlreichen Erkrankungen der Klägerin, die einen Einzel-GdB von lediglich höchstens 10 rechtfertigen, beeinflussen den Gesamt-GdB daher nicht.

Letztlich widerspräche hier die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft auch dem nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (Teil A Nr. 3b, S. 10) zu berücksichtigenden Gesamtmaßstab. Im Vergleich mit Gesundheitsschäden, zu denen in der GdS-Tabelle feste Werte angegeben sind, ist bei der Klägerin ein höherer Gesamtgrad als 40 nicht gerechtfertigt. Die Gesamtauswirkung ihrer verschiedenen Funktionsstörungen beeinträchtigen ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft insbesondere nicht so schwer wie etwa die vollständige Versteifung großer Abschnitte der Wirbelsäule, der Verlust eines Beins im Unterschenkel oder eine Aphasie (Sprachstörung) mit deutlicher Kommunikationsstörung.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt nach § 160 SGG nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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