S 6 R 60/07

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Kassel (HES)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 6 R 60/07
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 R 30/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Das zur Bestimmung der Hinzuverdienstgrenzen bei Erwerbsminderungsrenten nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts grundsätzlich heranzuziehende Vormonatsprinzip findet in Fällen, in denen im Vormonat noch kein Hinzuverdienst erzielt wurde, keine Anwendung und steht der Annahme eines privilegierten Überschreitens im Sinne des § 96a Abs. 1 S. 2 SGB VI nicht entgegen.
Der Bescheid vom 26.06.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.01.2007 wird aufgehoben.

Die Beklagte hat der Klägerin ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin wendet sich gegen die Aufhebung und Rückforderung von gewährten Rentenleistungen.

Mit Bescheid vom 12.09.2002 bewilligte die Beklagte der Klägerin eine Rente wegen voller Erwerbsminderung in voller Höhe und damit in Höhe von monatlich 641,31 EUR ab dem 01.10.2002 (nach Bl. 20 Verwaltungsakte). Der Rentenbescheid enthielt auf Seite 4 Hinweise zu den Hinzuverdienstgrenzen. Dort heißt es:

"Liegt bei Aufnahme bzw. Ausübung einer Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit weiterhin volle Erwerbsminderung vor, wird die Rente wegen voller Erwerbsminderung nicht oder in verminderter Höhe geleistet, sofern durch das erzielte Einkommen (Bruttoverdienst aus Beschäftigung bzw. Gewinn aus selbständiger Tätigkeit) die für diese Rente maßgebende Hinzuverdienstgrenze überschritten wird. Die Hinzuverdienstgrenze beträgt monatlich 325,00 EUR. Wird die Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit nicht während des gesamten Kalendermonats ausgeübt, gilt eine entsprechend anteilige, also niedrigere Hinzuverdienstgrenze. ( ) Daher besteht die gesetzliche Verpflichtung, uns die Aufnahme oder Ausübung einer über diesen Rahmen hinausgehenden Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit ( ) unverzüglich mitzuteilen."

Die Anlage 19 zum Rentenbescheid vom 12.09.2002 erläutert die Einzelheiten zu den Hinzuverdienstgrenzen. Dort wird u.a. ausgeführt:

"Die jeweils maßgebende Hinzuverdienstgrenze darf zweimal im Laufe eines Kalenderjahres bis zum Doppelten der für einen Monat geltenden Hinzuverdienstgrenze überschritten werden, wenn die Überschreitungen wegen einmalig gezahltem Arbeitsentgelt (z.B. Weihnachtsgeld, Urlaubsgeld) eintreten."

Die Gewährung der befristeten Erwerbsminderungsrente wurde in der Folgezeit verlängert. In der Zeit vom 04.05.2005 bis zum 02.07.2005 ging die Klägerin einer Aushilfstätigkeit auf einer Obstplantage nach. Im Mai 2005 verdiente die Klägerin dort 475,65 EUR brutto. Im Juni 2005 belief sich der Hinzuverdienst auf 412,65 EUR und im Juli 2005 auf 23,24 EUR brutto (Bl. 51 Verwaltungsakte).

Im Rahmen eines Datenabgleichs erlangte die Beklagte Kenntnis von diesem Hinzuverdienst (Bl. 47 Verwaltungsakte).

Die Beklagte ging davon aus, dass die Klägerin die im Jahr 2005 für sie maßgebliche Hinzuverdienstgrenze in Höhe von 345,00 EUR im Mai und Juni 2005 überschritten habe, so dass für diese beiden Monate nur ein Anspruch auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung in Höhe von drei Vierteln bestehe und es damit zu einer Überzahlung in Höhe von 319,78 EUR gekommen sei. Mit Schriftsatz vom 26.04.2006 hörte die Beklagte die Klägerin zu einer möglichen Überzahlung der Rentenleistungen an. Es werde beabsichtigt, einen Bescheid nach § 48 SGB X zu erlassen und überzahlte Leistungen in Höhe von 319,78 EUR zurückzuverlangen. In dem Anhörungsschreiben heißt es (Bl. 57 Verwaltungsakte, Rückseite):

"Die Möglichkeit des zweimaligen Überschreitens bis zum Doppelten der maßgebenden Hinzuverdienstgrenze im Laufe eines Kalenderjahres findet in Ihrem Fall keine Anwendung. Maßgebend kann eine Hinzuverdienstgrenze nur dann sein, wenn im Vormonat tatsächlich ein Hinzuverdienst vorhanden war. Ist dies nicht der Fall, ist der Hinzuverdienst grundsätzlich der einfachen Hinzuverdienstgrenze gegenüberzustellen."

Mit Schriftsatz vom 12.06.2006 antwortete die Klägerin auf das Anhörungsschreiben, dass sie keine Kenntnis davon gehabt habe, dass die Möglichkeit, die Hinzuverdienstgrenze zweimal zu überschreiten, in ihrem Falle keine Anwendung finde. Die vorliegende Konstellation sei ihr an keiner Stelle erläutert worden (Bl. 61 Verwaltungsakte).

Mit Bescheid vom 26.06.2006 hob die Beklagte die Rentengewährung wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit vom 01.05.2005 bis 30.06.2005 teilweise auf. Für diesen Zeitraum bestehe lediglich ein Anspruch auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung in Höhe von drei Vierteln der Vollrente. Es sei eine Überzahlung in Höhe von 319,78 EUR entstanden, die zurückzuerstatten sei. Die Klägerin habe nämlich die Hinzuverdienstgrenze durch Gehälter im Mai 2005 in Höhe von 475,65 EUR und im Juni 2005 in Höhe von 412,65 EUR überschritten. Die Möglichkeit des zweimaligen Überschreitens bis zum Doppelten der maßgeblichen Hinzuverdienstgrenze im Laufe eines Kalenderjahres finde im Falle der Klägerin keine Anwendung. Maßgebend könne eine Hinzuverdienstgrenze nur dann sein, wenn im Vormonat tatsächlich Hinzuverdienst vorhanden ist. Wenn dies nicht der Fall sei, sei der Hinzuverdienst grundsätzlich der einfachen Hinzuverdienstgrenze gegenüberzustellen. Die Leistungsgewährung sei daher nach § 48 Abs. 1 S.2 Nr. 3 SGB X aufzuheben und die Leistungen in dem genannten Umfang zu erstatten (Bl. 62 Verwaltungsakte).

Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin durch ihren Prozessbevollmächtigten am 25.07.2006 Widerspruch ein. Die einschränkende Auslegung des § 96a SGB VI sei mit dem Wortlaut der Vorschrift nicht zu vereinbaren (Bl. 65 Verwaltungsakte).

Mit Widerspruchsbescheid vom 22.01.2007 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück (Bl. 92 ff. Verwaltungsakte). Die Rentengewährung sei nach § 48 Abs. 1 Nr. 3 SGB X aufzuheben und die Rentenleistungen im Umfang von 319,78 EUR nach § 50 SGB X zu erstatten, weil die Klägerin im Mai und Juni 2005 die Hinzuverdienstgrenzen für eine volle Rente wegen voller Erwerbsminderung überschritten habe, so dass in diesen Monaten lediglich einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung in Höhe von drei Vierteln bestehe. Zwar bestehe nach § 96a Abs. 1 S.2 SGB VI die Möglichkeit, die maßgebliche Hinzuverdienstgrenze im Laufe eines Kalenderjahres zweimal um jeweils einen Betrag bis zur Höhe der maßgeblichen Hinzuverdienstgrenze zu überschreiten. Diese Möglichkeit sei jedoch nur dann einzuräumen, wenn der Hinzuverdienst die maßgebende Hinzuverdienstgrenze des Vormonats überschreite. Maßgebend könne die Hinzuverdienstgrenze nur dann sein, wenn auch im Vormonat tatsächlich ein Hinzuverdienst vorhanden sei. Im Monat des erstmaligen Zusammentreffen von Rente und Hinzuverdienst könne jedoch nicht auf eine maßgebliche Hinzuverdienstgrenze des Vormonats zurückgegriffen werden. Es sei daher grundsätzlich eine Einstufung nach dem zu diesem Zeitpunkt maßgeblichen einfachen Hinzuverdienst vorzunehmen. Somit sei der Rentenbescheid vom 12.09.2002 insoweit rechtswidrig, als für die Zeit vom 01.05.2005 bis 30.06.2005 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung in voller Höhe gezahlt wurde, obwohl nach § 96a SGB VI nur Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung in Höhe von drei Vierteln bestanden habe. Darüber hinaus würden auch die Voraussetzungen von § 48 Abs. 1 S.2 Nr. 2 und Nr. 4 SGB X vorliegen, weil die Klägerin der Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für sie nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen sei und auch zumindest hätte wissen müssen, dass das aus der Beschäftigung erzielte Arbeitsentgelt ihren Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung vermindere. Ein atypischer Fall, wonach von dem Grundsatz des § 48 Abs. 1 S. 2 SGB X abzuweichen wäre, dass der Verwaltungsakt (rückwirkend) mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden solle, sei vorliegend nicht ersichtlich. Die Beklagte übe das ihr eingeräumte Ermessen dahingehend aus, dass die Leistungen rückwirkend zurückgenommen würden. Ein besonderer Härtefall sei vorliegend nicht ersichtlich.

Am 07.02.2007 hat die Klägerin durch ihren Prozessbevollmächtigten gegen den Bescheid vom 26.06.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.01.2007 Klage beim Sozialgericht Kassel erhoben.

Die Klägerin beantragt,
den Bescheid vom 26.06.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.01.2007 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten und auf die Gerichtsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet.

Der Bescheid vom 26.06.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.01.2007 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Er war daher aufzuheben.

Die Beklagte hat den Bescheid in Gestalt des Widerspruchsbescheids auf § 48 Abs. 1 SGB X gestützt. Formelle Bedenken bestehen nicht. Die Beklagte hat die Klägerin vor Erlass des Aufhebungsbescheids insbesondere ordnungsgemäß im Sinne des § 24 SGB X angehört.

Die Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage sind allerdings nicht erfüllt.

Nach § 48 Abs. 1 S. 2 SGB X soll der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit

1. die Änderung zu Gunsten des Betroffenen erfolgt,
2. der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist,
3. nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde, oder
4. der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhe gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist.

Die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 S.2 SGB X würden nach allen Tatbestandsvarianten nur dann vorliegen, wenn die Klägerin nach der Rentenbewilligung Einkommen erzielt hätte, welches zu einem teilweisen Wegfall des Rentenanspruchs führen würde. Dies ist jedoch nach Überzeugung der Kammer nicht der Fall.

Die Klägerin hat zwar die für sie maßgebliche Hinzuverdienstgrenze von 345,00 EUR durch ihre Tätigkeit auf der Obstplantage im Mai und Juni 2005 überschritten; die Kammer ist jedoch davon überzeugt, dass sie in den Genuss des privilegierten Überschreitens der Hinzuverdienstgrenze nach § 96a Abs. 1 S.2 SGB VI gelangt.

Nach § 96a Abs. 1 S.1 SGB VI wird eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nur geleistet, wenn die Hinzuverdienstgrenze nicht überschritten wird. Die Hinzverdienstgrenze wird nach § 96 Abs. 1 S.2 SGB VI nicht überschritten, wenn das Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen aus einer Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit oder vergleichbares Einkommen im Monat die in § 96a Abs. 2 SGB VI genannten Beträge nicht übersteigt, wobei ein zweimaliges Überschreiten um jeweils einen Betrag bis zur Höhe der Hinzuverdienstgrenze nach § 96a Abs. 2 SGB VI im Laufe eines jeden Kalenderjahres außer Betracht bleibt.

§ 96a Abs. 1a Nr. 2 SGB VI bestimmt, dass abhängig vom erzielten Hinzuverdienst eine Rente wegen voller Erwerbsminderung in voller Höhe, in Höhe von drei Vierteln, in Höhe der Hälfte oder in Höhe eines Viertels geleistet wird. § 96a Abs. 2 SGB VI regelt die Hinzuverdienstgrenzen. Diese lag im Jahr 2005 für die Klägerin bei 345,00 EUR.

Konsequenz dieses Regelungssystems ist es, dass sich im Falle eines rentenschädlichen Überschreitens der Hinzuverdienstgrenzen nach § 96a Abs. 2 SGB VI die Rente wegen voller Erwerbsminderung in voller Höhe auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung je nach Einkommenshöhe – in Höhe von drei Vierteln usw. verringert.

Da die Klägerin die für sie maßgebliche Hinzuverdienstgrenze von 345,00 EUR in zwei Monaten des Jahres 2005 unstreitig überschritten hat, hatte die Kammer zu beurteilen, ob sie in den Genuss der Privilegierung des § 96a Abs.1 S.2 SGB VI gelangt, also mit dem Argument gehört wird, dass sie – auf das Kalenderjahr gerechnet – die Hinzuverdienstgrenze des § 96a Abs. 2 SGB VI nur zweimal überschritten habe.

Die Kammer ist überzeugt, dass die Voraussetzungen eines solchen privilegierten Überschreitens der Hinzuverdienstgrenze nach § 96a Abs. 1 S.2 SGB VI erfüllt sind.

Bei unbefangener Wortlautauslegung kommt man zunächst ohne Weiteres zu dem Schluss, dass ein zweimaliges Überschreiten der einfachen Hinzuverdienstgrenzen rentenunschädlich ist. Das Bundessozialgericht (BSG) hat zudem bereits im Jahr 2007 entschieden, dass der Privilegierungstatbestand des § 96a Abs. 1 S.2 SGB VI nicht auf die Fälle der Überschreitung der Hinzuverdienstgrenze wegen Urlaubs- und Weihnachtsgeldes beschränkt ist (BSG, Urteil v. 06.02.2007, B 8 KN 3/06 R, juris, Rn. 23).

§ 96a Abs.1 S.2 SGB VI wird allerdings durch die Rechtsprechung des BSG überformt (vgl. BSG, Urteil v. 06.02.2007, B 8 KN 3/06 R; ausführlich dazu: Cirsovius, ZFSH/SGB 2007, 648 ff.; Gürtner in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, SGB VI, 64. A. 2010, beck-online, § 96a Rn. 6 ff.). Diese Rechtsprechung wird u.a. durch das Vormonatsprinzip geprägt, welches die Beklagte im vorliegenden Fall herangezogen hat. Das BSG hat in seiner Entscheidung vom 26.08.2008 entschieden, dass sich die Prüfung, ob ein sog. privilegiertes Überschreiten vorliegt, grundsätzlich nach der im Vormonat eingehaltenen Hinzuverdienstgrenze bestimmt (BSG, Urteil v. 26.06.2008, B 13 R 119/07 R, Rn. 27 ff.):

"Wird die Hinzuverdienstgrenze des Vormonats eingehalten, ist die Rente vom Rentenversicherungsträger ohne weiteres in der dieser Hinzuverdienstgrenze zugeordneten Höhe zu leisten. Der Rentenanspruch bleibt so lange unverändert, bis sich der Hinzuverdienst ändert. Wird hierdurch die bislang maßgebende ( ) Hinzuverdienstgrenze überschritten, ist weiter zu prüfen, ob ein sog. privilegiertes Überschreiten vorliegt. ( ) Das Vormonatsprinzip kann darauf zurückgeführt werden, dass in jedem Kalendermonat feststehen muss, welche Hinzuverdienstgrenze – die für die Prüfung einer Privilegierung – maßgebende ist. Es entspricht dem Anliegen des Gesetzgebers, die Hinzuverdienstgrenze bei Rentenbezug möglichst handhabbar und transparent – "den Bedürfnissen der Praxis" Rechnung tragend – zu gestalten und die Rechtslage bei einem Überschreiten auch für den Versicherten möglichst rasch zu klären ( ). Die Rentenversicherungsträger und die Versicherten müssen schon im Hinblick auf die möglicherweise erheblichen Rechtsfolgen die Möglichkeit haben, stets sofort überprüfen zu können, ob bei einer Änderung des Hinzuverdienstes die bislang maßgebliche Hinzuverdienstgrenze überschritten wird. Dies setzt denknotwendig voraus, dass bereits im jeweiligen Kalendermonat feststeht, welche Hinzuverdienstgrenze (als Vergleichsmaßstab) heranzuziehen ist. ( ) Die chronologische Überprüfung eines privilegierten Überschreitens ist für alle Beteiligten einfach nachvollziehbar und bietet daher ein erhebliches Maß an Rechtssicherheit."

In eben dieser Entscheidung führt das BSG (Urteil v. 26.06.2008, B 13 R 119/07 R, Rn.25) aus: "Das Vormonatsprinzip ist bei einem Beschäftigungsverhältnis mit regelmäßigem Hinzuverdienst ein geeigneter, (verwaltungs-)praktikabler und dem Gesetzeszweck entsprechender Prüfungsmaßstab zur Feststellung eines (privilegierten) Überschreitens" im Sinne der Parallelvorschrift des § 34 Abs. 2 S.2 SGB VI.

Das BSG hat in der Entscheidung (Urteil v. 26.06.2008, B 13 R 119/07 R, Rn. 34) aber ausdrücklich offen gelassen, wie mit der – § 96a Abs. 1 S.2 SGB VI entsprechenden – Überschreitensregelung des § 34 Abs. 2 S.2 SGB VI im Monat des Rentenbeginns beziehungsweise bei erstmaligem oder erneutem Zusammentreffen von Rente mit (rentenschädlichem) Hinzuverdienst zu verfahren ist – "also in jenen Fällen, in denen nach dem Vormonatsprinzip nicht auf eine maßgebliche Hinzuverdienstgrenze zurückgegriffen werden kann."

Mit dieser Fragestellung haben sich in jüngerer Zeit das Landesozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen mit Urteil vom 12.08.2009 (Az. L 2 R 271/09, juris) und das LSG Berlin-Brandenburg mit Urteil vom 21.01.2010 (L 3 R 1350/06, juris) auseinandergesetzt. Das LSG Niedersachsen-Bremen geht in seiner Entscheidung zur Parallelvorschrift des § 34 Abs. 2 S.2 SGB VI davon aus, dass der Privilegierung des Hinzuverdienstes nicht entgegenstehe, dass der Rentenbezieher im Vormonat noch keinen Hinzuverdienst erzielt hat. Dem hat sich LSG Berlin-Brandenburg in seiner § 96a SGB VI betreffenden Entscheidung angeschlossen. Beide Landessozialgerichte weisen nach Überzeugung der Kammer zu Recht darauf hin, dass das Vormonatsprinzip im Gesetz keinen Niederschlag gefunden hat. Das LSG Berlin-Brandenburg führt in seinem Urteil vom 21.01.2010 (L 3 R 1350/06, juris, Rn. 39) zutreffend aus:

"Die hierzu existierende Kasuistik in der Praxis der Rentenversicherungsträger mit ihrem komplexen Regel-Ausnahme-Geflecht findet kaum einen Hinweis im Gesetzeswortlaut ( ). Erst recht ist nicht ersichtlich, dass das von der Beklagten befürwortete Regel-Ausnahme-Geflecht den gesetzgeberischen Zielvorstellungen Rechnung trägt. Vielmehr sprechen diese für eine Privilegierung auch solcher Monate mit Überschreitungen, denen Monate ohne Hinzuverdienst vorausgegangen sind."

Der Sinn und Zweck des zweimaligen Überschreitensrechts ist nach der Überzeugung des LSG Niedersachsen-Bremen darin zu sehen, bei zweimal jährlichen, kurzfristigen Änderungen des Arbeitsentgelts die eigentlich erforderliche Rentenminderung zu vermeiden (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil v. 12.08.2009, L 2 R 271/09, juris, Rn. 48 mit Hinweis auf BSG, Urteil v. 06.02.2007, B 8 KN 3/06 R). Die Gesetzesbegründung führe relativ knapp aus, dass die Privilegierung "den Bedürfnissen der Praxis" Rechnung tragen solle. Diese Bedürfnisse der Praxis seien zum einen die Verwaltungsvereinfachung und zum anderen die quantitativ geringfügige Bedeutung des zweimaligen Überschreitens. Ein sachlicher Grund, warum diese Erwägungen und damit die Privilegierung nicht durchgreifen sollte, wenn bei einem zweimaligen Überschreiten im Vormonat kein Hinzuverdienst erzielt wurde, sei nicht ersichtlich. Dem schließt sich die Kammer an: Die strikte Anwendung des Vormonatsprinzips in Konstellationen wie dem vorliegenden Fall führt vielmehr zu ungerechten Ergebnissen, die sich mit keinem sachlichen Grund rechtfertigen lassen und wäre mit dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) nicht zu vereinbaren (vgl. auch LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil v. 12.08.2009, L 2 R 271/09, juris, Rn. 52; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 21.01.2010, L 3 R 1350/06, juris, Rn. 44). Dies hätte nämlich zur Folge, dass diejenigen Versicherten die im gesamten Kalenderjahr über Einkommen verfügen und die Hinzuverdienstgrenze lediglich zweimal überschreiten gegenüber Versicherten, die nur in zwei Monaten des Jahres Einkommen erzielen und in diesen Monaten die Hinzuverdienstgrenze ebenfalls überschreiten, privilegiert würden, obwohl sie – auf das Kalenderjahr gerechnet – einen wesentlich höheren Verdienst erzielen konnten (s. dazu das Rechenbeispiel beim LSG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 21.01.2010, L 3 R 1350/06, juris, Rn. 44). Dies kann nach Überzeugung der Kammer nicht richtig sein. Letztendlich handelt es sich beim Vormonatsprinzip lediglich um ein Denkmodell zur Bestimmung der maßgeblichen Hinzuverdienstgrenzen. Da aus dem Gesetz aber nicht zwingend folgt, dass das Vormonatsprinzip anzuwenden ist und eine Hinzuverdienstgrenze im Falle des sofortigen Überschreitens bei vorhergehenden Einkommenslosigkeit ohne Weiteres bestimmt werden kann, ist die Kammer davon überzeugt, dass das Vormonatsprinzip in Fällen, in denen während eines Kalenderjahres lediglich in zwei aufeinanderfolgenden Monaten Einkommen erzielt wird, nicht anzuwenden ist und damit einer Anwendung des § 96a Abs. 1 S.2 SGB VI nicht entgegensteht.

Da die Klägerin die maßgebliche Hinzuverdienstgrenze im Jahr 2005 lediglich zweimal überschritten hat und der Hinzuverdienst in beiden Monaten auch nicht die doppelte Hinzuverdienstgrenze des § 96a Abs. 1 S.2 SGB VI überstiegen hatte, lag nach Überzeugung der Kammer ein privilegiertes Überschreiten im Sinne des § 96a Abs. 1 S.2 SGB VI vor, welches nicht eine wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse im Sinne des § 48 Abs. 1 SGB X zur Folge hatte. Die Voraussetzungen für eine teilweise Aufhebung der Rentengewährung nach § 48 Abs. 1 SGB X waren daher nicht erfüllt. Der Bescheid vom 26.06.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.01.2007 war rechtswidrig und damit aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die Kammer hat die Berufung nach § 144 SGG zugelassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG hat. Es ist nämlich aus Sicht der Kammer durch die obergerichtliche Rechtsprechung noch nicht hinreichend geklärt, ob das Vormonatsprinzip in Konstellationen wie dem vorliegenden Fall einer Anwendung des § 96a Abs. 1 S.2 SGB VI entgegensteht.
Rechtskraft
Aus
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