L 19 R 173/10

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
19
1. Instanz
SG Bayreuth (FSB)
Aktenzeichen
S 3 R 1001/09
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 19 R 173/10
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Der Beweis des ersten Anscheins gilt auch für die Wirksamkeit von Beitragserstattungen nach dem Rentenversicherungsrecht.
I. Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts
Bayreuth vom 02.02.2010 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen



Tatbestand:

Streitig ist, ob der Klägerin ihre zur deutschen Sozialversicherung geleisteten Beiträge erstattet wurden und ob ein Anspruch auf Regelaltersrente besteht.

Die 1942 geborene Klägerin ist türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in der Türkei. Sie war vom 26.06.1963 bis 17.05.1968 sozialversicherungspflichtig in der Bundesrepublik Deutschland beschäftigt und kehrte anschließend in die Türkei zurück. Nach den Angaben im Versicherungsverlauf erstattete die Landesversicherungsanstalt (LVA) Baden-Württemberg mit Bescheid vom 20.02.1979 auf den Antrag vom 20.09.1978 hin Beiträge in Höhe von 2.220,20 DM.

Am 15.10.2007 beantragte die Klägerin bei der Beklagten unter Vorlage zweier sog. Aufrechnungsbescheinigungen in Kopie die Gewährung von Regelaltersrente. Diese Aufrechnungsbescheinigungen waren mit einem Stempelvermerk "Beiträge erstattet (§ 1303 RVO)" versehen. Die Beklagte lehnte den Rentenantrag mit streitgegenständlichem Bescheid vom 02.05.2008 ab. Der Klägerin seien die zur deutschen Rentenversicherung entrichteten Beiträge mit Bescheid vom 20.02.1979 erstattet worden. Damit seien keine auf die Wartezeit anrechnungsfähigen Zeiten mehr vorhanden, so dass ein Anspruch auf Versichertenrente nicht bestehe. Der hiergegen eingelegte Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 21.08.2009 als unbegründet zurückgewiesen. Die dagegen zum Sozialgericht Bayreuth (SG) erhobene Klage ist durch Gerichtsbescheid vom 02.02.2010 als unbegründet abgewiesen worden. Das SG stützte sich dabei auf die Grundsätze des Beweises des ersten Anscheins sowie auf die im Original bei der DRV Baden-Württemberg noch vorhandenen und mit dem Stempelaufdruck "Beiträge erstattet durch LVA Baden am 22.Febr.1979" versehenen Versicherungskarten der Klägerin.

Zur Begründung der gegen den Gerichtsbescheid des SG Bayreuth vom 02.02.2010 zum Bayer. Landessozialgericht eingelegten Berufung hat die Klägerin unter Bezug auf ihr Vorbringen im Verwaltungsverfahren und im sozialgerichtlichen Verfahren vorgetragen, dass ein Antrag auf Beitragserstattung nicht gestellt worden sei. Es sei ihre Absicht gewesen, nach Vollendung des 65. Lebensjahres die Altersrente zu beantragen. Es widerspreche jeglicher allgemeiner Lebenserfahrung, wenn die Klägerin sich trotz erfolgter Erstattung im besonderen Maße seit 15.10.2007 unnötig die Mühe mache, die ihr nicht mehr zustehende Rente zu beantragen und in zahlreichen ausführlichen Schreiben, auch durch Einschaltung des türkischen Konsulats und mehrerer Rechtsanwälte die Beklagte davon zu überzeugen, dass sie die Erstattung nicht beantragt und auch nicht erhalten habe. Der zeitliche, geistige und emotionale Aufwand der Klägerin, der hier nicht zu übersehen sei, liefere einen Anscheinsbeweis dafür, dass ihre Schilderung der Wahrheit entspreche. Dies gelte in besonderem Maße, weil die Beklagte keinerlei Unterlagen bezüglich der Beitragserstattung mehr vorlegen könne. Es existiere weder der Antrag der Klägerin auf Beitragserstattung noch der angebliche Erstattungsbescheid vom 22.02.1979. Die vom SG herangezogenen Grundsätze für den Anscheinsbeweis könnten nicht so weit gehen, dass sämtliche von der Beklagten zu beweisenden Tatsachen wie Antragstellung, Erstattungsbescheid und Nachweis der Erstattung, bereits durch den Stempelaufdruck auf den Versicherungskarten als bewiesen gelten würden.

Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 02.02.2010 sowie den Bescheid der Beklagten vom 02.05.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.08.2009 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Altersrente zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 02.02.2010 zurückzuweisen.

Bezüglich der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die beigezogene Akte der Beklagten sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.



Entscheidungsgründe:


Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz -SGG-), aber unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die Beklagte hat zu Recht mit dem Bescheid vom 02.05.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.08.2009 einen Anspruch der Klägerin auf Regelaltersrente abgelehnt. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Rente wegen Alters.

Ein Anspruch der Klägerin auf Gewährung von Regelaltersrente setzt gemäß § 35 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) voraus, dass sie die Regelaltersgrenze erreicht hat und die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren erfüllt ist (§ 50 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB VI). Die Klägerin kann aber keine auf die Wartezeit anrechenbaren Versicherungszeiten mehr nachweisen, denn die von ihr aufgrund der versicherungspflichtigen Tätigkeit geleisteten Beiträge für die Zeit vom 26.06.1963 bis 17.05.1968 wurden von der LVA Baden-Württemberg auf ihren Antrag vom 20.09.1978 hin in Höhe von 2.220,20 DM aufgrund des Bescheides vom 20.02.1979 erstattet. Durch die Erstattung sind die von der Klägerin zurückgelegten Beitragszeiten verfallen, das Versicherungsverhältnis ist aufgelöst worden. Aus den nicht erstatteten Arbeitgeberbeiträgen zur Rentenversicherung kann ein Anspruch auf Regelaltersrente nicht hergeleitet werden.

Da der Klägerin die Beiträge vor dem 01.01.1992 erstattet wurden, ist § 1303 Reichsversicherungsordnung (RVO) anzuwenden, denn § 210 SGB VI ist erst auf Beitragserstattungen ab dem 01.01.1992 anzuwenden (Artikel 85 Abs 1 Rentenreformgesetz 1992 -RRG 1992- vom 18.12.1989, BGBl I S 2261 iVm Artikel 42 Rentenüberleitungsgesetz -RÜG- vom 25.07.1991, BGBl I S 1606; vgl. Kasseler Kommentar - Gürtner § 210 SGB VI RdNr 28 Stand März 2005 mwN). Gemäß § 1303 Abs 1 Satz 1 RVO sind der Klägerin auf Antrag die Hälfte der für die Zeit nach dem 20.06.1948 im Bundesgebiet, für die Zeit nach dem 24.06.1948 im Land Berlin und für die Zeit nach dem 19.11.1947 im Saarland entrichteten Beiträge zu erstatten.

Nach den vorliegenden Umständen ist zweifelsfrei von der Durchführung einer Beitragserstattung und der Auszahlung der Erstattungssumme im Jahr 1979 auszugehen. Aufgrund der Auszahlung der Beitragserstattung ist der Anspruch der Klägerin auf Erbringung dieser Leistung erloschen und die Beklagte ist von der Pflicht zur Leistung frei geworden, § 362 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). Diese Norm ist nach allgemeinem Rechtsgrundsatz auch im Sozialrecht anzuwenden. Danach erlischt ein Schuldverhältnis durch das Bewirken der geschuldeten Leistung an den Gläubiger.

Die Beweislast für die Durchführung einer Beitragserstattung und die Erfüllung der Beitragserstattungsforderung (Auszahlung der Erstattungssumme) trägt grundsätzlich die Beklagte. Im Sozialrecht gilt hierbei die objektive Beweislast, wonach die Nichterweislichkeit einer Tatsache zu Lasten desjenigen zu berücksichtigen ist, der aus ihr für ihn günstige Regelungen herleitet. Beruft sich ein Beteiligter auf eine Norm, die einen bestehenden Anspruch vernichtet (zum Erlöschen bringt), trifft ihn die Beweislast für das Vorliegen der hierzu erforderlichen Tatsachen, also die Durchführung einer Beitragserstattung und die Auszahlung des Geldes. Das Vorliegen einer bescheidsmäßigen Entscheidung über ein durch Antrag geltend gemachtes Begehren, vor allem aber über die Erfüllung der Forderung im Sinne des § 362 BGB ist eine rechtsvernichtende Einwendung, für die generell der Schuldner (hier die Beklagte) die Beweislast trägt. Die vorliegende Beweislage spricht dafür, dass über den Antrag auf Beitragserstattung bereits bestandskräftig entschieden und die Beitragserstattung auch an die Klägerin ausgezahlt worden ist. Dies ergibt sich aus einem Beweis des ersten Anscheins. Der Anscheinsbeweis gilt auch für die Wirksamkeit von Beitragserstattungen (Urteil des BayLSG vom 08.12.2004 - L 19 RJ 203/03 - veröffentl. in juris; Urteil des BayLSG vom 25.09.2007 - L 18 R 335/07 - veröffentl. in juris; BayLSG vom 09.12.2009 - L 19 R 167/08 - veröffentl. in juris). Er ist zulässig und gegeben, wenn ein feststehender Lebenssachverhalt typischerweise bestimmte Folgen auslöst, ohne dass eine atypische Situation nachzuweisen ist, die die Grundlagen für den Anscheinsbeweis erschüttern kann. Der Antrag, der Bescheid und die Belege über die Auszahlung und den Erhalt des Geldes sind aufgrund des Zeitablaufes zwischenzeitlich nicht mehr zu erlangen, weil mittlerweile sämtliche Unterlagen vernichtet worden sind. Aus dem über die Klägerin geführten elektronischen Versicherungskonto lässt sich jedoch zweifelsfrei auf die Durchführung eines Erstattungsverfahrens und die Auszahlung des Geldes schließen. Dies gründet sich auf folgende Umstände: Der in der Rentenakte der Beklagten enthaltene Verfahrenskontospiegel/Kontotausch vermerkt ein durchgeführtes Verfahren auf Beitragserstattung mit einem Antragsdatum 20.09.1978 sowie einen daraufhin erlassenen Bescheid vom 20.02.1979. Die Beklagte hat des Weiteren von der damals für die Beitragserstattung zuständigen LVA Baden-Württemberg noch vorhandene Unterlagen angefordert, woraufhin diese die Versicherungskarten Nr. 1 und Nr. 2 der Klägerin übersandt hat. Es handelt sich unzweifelhaft um die Originalversicherungskarte der Klägerin aus dem Jahr 1963 sowie die Anschlussversicherungskarte aus dem Jahr 1967. Beide Versicherungskarten weisen die zurückgelegten Beschäftigungszeiten der Klägerin so nach, wie sie im Versicherungsverlauf der Klägerin elektronisch gespeichert sind. Des Weiteren sind beide Karten abgestempelt mit dem Vermerk "Daten gespeichert" sowie mit dem Stempel "Beiträge erstattet durch LVA Baden am 22. Febr. 1979". Die Klägerin selbst hatte bei der Rentenantragstellung im Oktober 2007 Kopien der Aufrechnungsbescheinigungen über die Versicherungskarten Nr. 1 und Nr. 2 vorgelegt, die damals üblicherweise den Versicherten ausgehändigt wurden. Beide Aufrechnungsbescheinigungen waren mit dem Stempelvermerk versehen "Beiträge erstattet (§ 1303 RVO)". Dieser Stempelvermerk wurde nicht erst nachträglich aufgebracht, sondern muss sich bereits auf den Originalaufrechnungsbescheinigungen der Klägerin befunden haben. Es ist deshalb davon auszugehen, dass im Jahr 1978 ein Antrag auf Beitragserstattung gestellt wurde, dies auch - mangels anderweitiger Anhaltspunkte - durch die Klägerin selbst erfolgte, dass die Beklagte über diesen Antrag mit Bescheid vom 20.02.1979 bestandskräftig entscheiden hatte und der Klägerin die von ihr getragenen Beiträge für die Zeit ihrer versicherungspflichtigen Beschäftigung in Deutschland vom 26.06.1963 bis 17.05.1968 in Höhe von 2.220,20 DM auch erstattet hatte. Ohne entsprechenden Antrag besteht bei der Beklagten keine Veranlassung auf Durchführung eines Beitragserstattungsverfahrens. Es widerspricht auch nicht dem üblichen Geschehensablauf, dass die Klägerin den Antrag auf Beitragserstattung erst zehn Jahre nach ihrer Rückkehr in die Türkei gestellt hatte.
Damit kann nach den Grundsätzen des Anscheinsbeweises vorgegangen werden, weil ein feststehender Lebenssachverhalt - wie hier die Vorlage der Versicherungskarten zur Erreichung der Beitragserstattung - bestimmte typische Folgen auslöst, ohne dass Anhaltspunkte für eine atypische Situation bestehen. Auch der Umstand, dass die Klägerin - wie ihre Prozessbevollmächtigte zum Ausdruck gebracht hat - sich jetzt der Mühe unterzieht, einen Rentenantrag auch unter Inanspruchnahme mehrerer Rechtsanwälte und des türkischen Konsulats zu stellen, vermag einen solchen atypischen Geschehensablauf, der den Beweis des ersten Anscheins erschüttern könnte, nicht zu begründen. Nach alledem ist eine wirksame Beitragserstattung durchgeführt worden.

Gemäß § 1303 Abs 7 RVO schließen diese Beitragserstattungen weitere Ansprüche aus den zurückliegenden Versicherungszeiten aus. Weitere - spätere - rentenrechtliche Zeiten hat die Klägerin in der Bundesrepublik Deutschland nicht zurückgelegt. Die durchgeführten Beitragserstattungen führen dabei nicht nur zur Auflösung des beim Rentenversicherungsträger aufgelaufenen Guthabens der erstattungsfähigen Beiträge, sondern zur rückwirkenden Löschung des Versicherungsverhältnisses als solchem in seiner Gesamtheit (vgl Kasseler Kommentar Funk § 1303 RVO RdNr 28 mwN) bzw. in leistungsrechtlicher Hinsicht zum Verfall der bis dahin zurückgelegten Versicherungszeiten (BSG vom 18.02.1981 - 1 RJ 134/79 - SozR 2200 § 1303 Nr 18 bezüglich der Heiratserstattung nach § 1304 Abs 1 RVO aF). Die Beitragserstattung nach § 1303 RVO hat die Auflösung des Versicherungsverhältnisses als Rechtsfolge, ohne dass dies in dieser Vorschrift ausdrücklich bestimmt war (vgl. dazu BSG vom 16.01.1968 - 11 RA 290/66 - SozR Nr 66 zu § 1246). Auch der Fortfall der Ansprüche aus den "bis zur Erstattung zurückgelegten rentenrechtlichen Zeiten" (§ 54 SGB VI) entspricht weitgehend dem bisherigen Recht (vgl. Finke in: Hauck-Heines SGB VI § 210 Nr 20). Zwischen der Klägerin und der Beklagten besteht somit kein Versicherungsverhältnis mehr, aus dem Ansprüche hergeleitet werden könnten. Die Rechtsbeziehungen zwischen der Klägerin und der Beklagten sind mit der Beitragserstattung endgültig beseitigt.

Mangels Versicherungsverhältnis kann sich auch kein Anspruch auf eine Rente allein aus den nicht erstatteten Arbeitgeberbeiträgen zur Rentenversicherung ergeben. Die Klägerin kann sich insoweit nicht auf eine Verletzung von Grundrechten berufen. Das Bundesverfassungsgericht und das Bundessozialgericht haben bereits wiederholt festgestellt, dass die Klägerin aus den nicht erstatteten Beitragsanteilen des Arbeitgebers allein keine eigentumsrechtlich geschützten Anwartschaften erlangt, die über Art. 14 des Grundgesetzes (GG) geschützt wären (vgl. BVerfG vom 24.11.1986 - 1 BvR 772/85 - SozR 2200 § 1303 Nr 34; BSG vom 18.02.1981 - 1 RJ 134/79 - SozR 2200 § 1303 Nr 18; BSG vom 04.10.1979 - 1 RA 83/78 - SozR 2200 § 1303 Nr 14). Ein Verstoß gegen andere Grundrechte der Klägerin, insbesondere den Gleichheitssatz nach Artikel 3 GG, ist ebenfalls nicht zu erkennen. Die Beitragserstattung führt bei allen Versicherten zu einer Auflösung des Versicherungsverhältnisses und damit in leistungsrechtlicher Hinsicht zu einem Verfall der bis dahin zurückgelegten Versicherungszeiten, so dass ein verfassungsrechtlich relevanter Tatbestand der Ungleichbehandlung nicht gegeben ist (vgl. auch BVerfG vom 16.06.1981 - 1 BvR 445/81 - SozR 2200 § 1303 Nr 19).

Nach alledem war die Berufung als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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