L 9 AL 3/99

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 27 Ar 277/97
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 9 AL 3/99
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 05. November 1998 geändert. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 04.08.1997 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 30.09.1997 verpflichtet, den Kläger hinsichtlich der Dauer der Überbrückungsgeldleistung nach der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden. Im übrigen wird die Berufung zurückgewiesen. Die Beklagte hat drei Viertel der dem Kläger in beiden Rechtszügen entstandenen außergerichtlichen Kosten zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger Überbrückungsgeld (ÜbbG) für 26 statt für 18 Wochen zu zahlen ist.

Er beantragte am 01.10.1996 Leistungen zur Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit für den Zeitraum von 26. Wochen. Den Antrag mit den erforderlichen Unterlagen reichte er am 12.05.1997 zurück. Die selbständige Tätigkeit als Natur- und Kunststoffschleifer nahm der Kläger am 01.06.1997 auf. Bis zu diesem Zeitpunkt bezog er Arbeitslosengeld (Alg) mit einer Restanspruchsdauer von zuletzt sechs Tagen.

Mit Bescheid vom 04.08.1997 bewilligte die Beklagte Überbrückungsgeld für die Dauer von 18 Wochen. Den ohne Begründung eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Bescheid vom 30.09.1997 zurück: Wegen der ungünstigen Haushaltssituation dürfe die Leistungsgewährung nach allgemeinen oder individuellen Kriterien eingeschränkt werden. So könne die Förderungsdauer verkürzt werden, wenn der Alg Anspruch weitgehend erschöpft sei. Es widerspreche dem Versicherungsprinzip, das Überbrückungsgeld in einem Fall wie dem vorliegenden in Höhe des Alg für die längstmögliche Dauer von 26 Wochen zu bewilligen. Vielmehr sei hier eine Verkürzung angezeigt, um bei begrenzten Finanzmitteln möglichst vielen Antrag stellern die Hilfe zur Selbständigmachung zu gewähren. Eine ermessensfehlerhafte Entscheidung des Arbeitsamtes sei nicht zu erkennen.

Mit der am 30.10.1997 erhobenen Klage hat der Kläger angeführt, die Beklagte dürfe die Ablehnung nicht auf die Haushaltslage stützen. Der Umfang der noch bestehenden Restanspruchsdauer von Alg dürfe allein kein Kriterium sein. ÜbbG werde in der Regel nun mal für 26 Wochen gezahlt.

Die Beklagte hat auf Anfrage des Gerichts die Rundverfügung des Bundesanstalt für Arbeit vom 03.01.1997 - Ib3-5510.1A/5513/3313 - mit den vorläufigen Hinweisen zur Steuerung der Ausgaben vorgelegt und im Übrigen ausgeführt: Begrenzte Haushaltsmittel hätten eine Einschränkung unumgänglich gemacht. Um die vorhandenen Haushaltsmittel möglichst vielen Antragstellern zugänglich zu machen, sei auch in einer Vielzahl anderer Fälle eine Abweichung von der Regelförderung erforderlich gewesen. Durch die frühzeitige Einschränkung der Leistungshöhe aller Antragsteller sei vermieden worden, dass frühzeitige Anträge begünstigt und spätere nach dem so genannten Windhundprinzip ausgeschlossen würden.

Das Sozialgericht (SG) hat der auf teilweise Aufhebung der angefochtenen Bescheide und Zahlung von ÜbbG für 26 Wochen gerichteten Klage durch Urteil vom 05.11.1998 stattgegeben und sich der Entscheidung des SG Münster vom 10.06.1998 -S 3 Al 93/97- (L 9 (13) AL 50/98, Rücknahme der Berufung durch die Beklagte in der mündlichen Verhandlung vom 10.06.1999) angeschlossen. Eine Einschränkung der Förderdauer könne nur in einer Anordnung geregelt werden und dann auch nur für Ausnahmefälle. Einen solchen Ausnahmefall habe die Beklagte nicht geprüft, sondern -was auch in der Klageerwiderung zum Ausdruck komme- die Förderungsdauer generell begrenzt. Die Beklagte habe eine Kürzung ungeachtet des konkreten Sachverhalts vorgenommen.

Die Beklagte hat gegen das ihr am 12.01.1999 zugestellte Urteil am 09.02.1999 Berufung eingelegt und unter Hinweis auf die internen Weisungen des Arbeitsamtes Iserlohn weiterhin an ihrem Rechtsstandpunkt festgehalten. Das Gesetz stelle die Gewährung der Leistung in das Ermessen der Beklagten. Der Kläger habe nur einen Rechtsanspruch auf pflichtgemässe Ermessensausübung. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG in SozR 3-4100 § 55a Nr 1) sei es gerade nicht ermessensfehlerhaft, wenn die angespannte Haushaltslage berücksichtigt werde. Bereits zu Beginn des Jahres habe sich eine erhebliche Unterdeckung abgezeichnet. Unter Berücksichtigung des Gleichheitsgrundsatzes und der Vorschrift des § 219 a Arbeitsförderungsgesetz (AFG), die eine gleichmäßige Bewilligung über das gesamte Jahr fordere, habe sie, um dieser Situation gerecht zu werden, durch steuernde Maßnahmen eine generelle Einschränkung der Förderungsdauer von 26 auf 18 Wochen vollzogen. Sie hat in der mündlichen Verhandlung ergänzend ausgeführt, es sei im Übrigen eine einzelfallbezogene Ermessensausübung erfolgt. Auch unter Berücksichtigung der Restanspruchsdauer auf Alg von nur noch sechs Tagen sei nämlich die Einschränkung der Förderdauer geboten gewesen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 05.11.1998 zu ändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das Urteil des SG für zutreffend. Die Beklagte habe sich nicht auf die allgemeine Hauhaltslage berufen dürfen. Konkret individuelle Gründe für die Rechtmäßigkeit der Kürzung seien in der Person des Klägers nicht gegeben.

Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Schriftsätze der Beteiligten sowie die den Kläger betreffenden Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Beklagten ist teilweise begründet. Das Urteil des SG ist zu ändern, soweit die Beklagte zur Zahlung eines ÜbbG für 26 Wochen verurteilt worden ist. Die Klage hat lediglich im Umfang einer Bescheidungsklage Erfolg. Die Beklagte kann des halb nur zum Erlass eines neuen Bescheides unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des erkennenden Senates verpflichtet werden. Im Übrigen ist die Berufung zurückzuweisen.

Die Rechtsvoraussetzungen des § 55a AFG in der hier anzuwendenden und ab 01.08.1994 geltenden Fassung des Beschäftigungsförderungsgesetzes vom 26.07.1994 (BGBl I S. 1786) sind, wie auch die Beklagte zu Recht angenommen hat, erfüllt. Der Kläger hat am 01.06.1997 eine selbständige Tätigkeit als Kunststoff- und Naturschleifer mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von mindestens 18 Stunden (§ 55a Abs. 1 S 1 AFG) aufgenommen, die er bis heute ausübt. Er hat zuvor mindestens vier Wochen Alg, nämlich vom 01.05.1996 bis 31.05.1997 bezogen. Der Kläger hat dem Arbeitsamt am 28.07.1997 die Stellungnahme einer fachkundigen Stelle vor gelegt, nach der zu erwarten war, dass die selbständige Tätigkeit voraussichtlich auf Dauer eine ausreichende Lebensgrundlage bieten werde (§ 55 a Abs. 1 S 2 AFG).

Dies bedeutet allerdings nicht, dass der Kläger mit der Erfüllung der Rechtsvoraussetzungen des § 55a Abs. 1 AFG einen Anspruch auf ÜbbG für den Zeitraum von 26 Wochen erwirbt. Die Bewilligung dieser Leistung ("kann") steht auf der Rechtsfolgeseite im Ermessen der Beklagten. Nach Abs 2 dieser Vorschrift wird das ÜbbG nur grundsätzlich für 26 Wochen gewährt. Der Kläger hat einen Rechtsanspruch nur darauf, dass die Beklagte das Ermessen pflichtgemäß ausübt, dh entsprechend dem Zweck der Ermessensermächtigung des § 55a Abs 1 Satz 1 AFG und unter Berücksichtigung der Regelung in Abs 2 dieser Vorschrift. Nur in dem Fall, in dem der Ermessensspielraum so stark eingeengt ist, dass allein die beantragte Leistung zu bewilligen wäre, besteht ein Rechtsanspruch auf Bewilligung der Leistung (sog. Ermessensreduzierung auf Null). Diese Sitution liegt hier nicht vor.

Die Entscheidung der Beklagten ist jedoch als ermessensfehlerhaft zu bewerten. Sie entspricht nicht den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Ermessensausübung, denn die Beklagte hat in den angefochtenen Bescheiden kein Einzelfallermessen ausgeübt, sondern im Wesentlichen in Ausführung vorläufiger Hinweise ihrer Hauptstelle vom 03.01.1997 und einer amtsinternen ermessenslenkenden Weisung vom 12.05.1997 zur Vermeidung einer Haushaltsüberschreitung eine generelle Einschränkung der Förderungsdauer auf vier Monate vollzogen. Der Verweis allein auf die angespannte Haushaltslage passt sich in den Ermessensrahmen des § 55a AFG nicht ein. Dies hat das BSG bereits zu der vor dem 01.08.1994 gültig gewesenen Fassung (aF) entschieden (vgl. BSG SozR 3-4100 § 55a AFG Nr. 1 und Nr. 5). Das gilt nach der heutigen Gesetzeslage gleichermaßen. Der der Beklagten zustehende Ermessenspielraum ist durch die Änderung des § 55a Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 zum 01.08.1994 jedoch erheblich eingeschränkt worden. Die Bezugszeit des ÜbbG wurde, anders als in § 55a AFG aF, der eine Leistungsdauer bis zu 26 Wochen ermöglichte (vgl. hierzu die Differenzierungen in § 22 Abs 5 der damals geltenden Anordnung des Verwaltungsrates der BA zur Förderung der Arbeitsaufnahme -FdA-A-), grundsätzlich auf 26 Wochen festgelegt und seine Höhe festgeschrieben. Beabsichtigt war es, eine restriktive Verwaltungspraxis zu ändern (BT-Drucks 12/6719 Begr. zu § 55a S. 15). Die Vorschrift des § 55a Abs. 4 Satz 2 AFG ermächtigt die Beklagte jetzt nur noch, Ausnahmefälle zu bestimmen, in denen die Dauer der Bewilligung auf weniger als 26 Wochen begrenzt werden darf. Durch die Änderungen zum 01.08.1994 ist in dem neu gefassten Abs. 4 die Ermächtigung der Beklagten zu Anordnungsregelungen -ausdrücklich gewollt- mithin stark eingeschränkt worden. Der Möglichkeit, das ÜbbG generell verkürzt zu gewähren, ist der Beklagten durch das neue Recht die Rechtsgrundlage entzogen worden (vgl. Hennig/Kühl/Heuer/ Henke, AFG, Stand: Juli 99 § 55a Rdnr 21, GK-AFG Stand: Juli 1998, § 55a Rdnr 23). Die Beklagte hat von der speziellen Anordnungs ermächtigung in § 55a Abs 4 Satz 2 AFG keinen Gebrauch gemacht und damit von einer generellen Festlegung der Ausnahmetatbestände abgesehen. Solange sie als Satzungsgeber nicht tätig geworden ist, kann sie allenfalls durch Steuerung des Einzelfallermessens die Mittel bis zu einem bestimmten Grad strecken (vgl. BSG in SozR aaO Nr 1). Das sachliche Recht nach der Änderung des § 55a AFG schränkt diesen Ermessensspielraum stark ein, denn je dichter das sachliche Recht das Handeln der Verwaltung gegenüber dem Bürger regelt, umso weniger können finanzielle Erwägungen, mithin auch nicht solche des Haushaltsrechts, das Handeln der Verwaltung lenken und einschränken. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der Bewirtschaftungsbestimmung des § 219 a AFG. Diese Regelung ermöglicht nicht, Leistungen, die gesetztlich klar geregelt sind, zu beschneiden. Steuerungsmöglichkeiten bleiben der Beklagten nur dort, wo das sachliche Recht dies zulässt. Bei § 55a Abs. 2 AFG ist dies nur noch eingeschränkt der Fall. Die Beklagte muss, wenn ihr nicht die Möglichkeit gegeben ist, die Deckungsmittel durch Steuerung des Einzelfallermessens so zu strecken, dass diese ausreichen, die Mittel für ÜbbG durch einen Mittelausgleich mit anderen Instrumenten deckungsfähig machen.

Einzelfallermessen hat das AA I ... nicht ausgeübt. Es ordnet in der amtsinternen Weisung vom 12.05.1997 vielmehr eine generelle Verkürzung der Förderdauer auf vier Monate an, wobei es je nach Höhe des Restanspruchs noch eine weitere individuelle Kürzung von vier Wochen vorsieht. Auch wenn die Beklagte nunmehr anführt, auf Grund der nur noch geringen Restanspruchsdauer von sechs Tagen in Ausübung des Einzelfallermessens die Förderdauer habe reduzieren dürfen, so hätte dies nach der amtsinternen Weisung, die sie insoweit selbst bindet, allenfalls zu einer Reduzierung um vier Wochen an Stelle von acht Wochen führen dürfen. Sie hat in den angefochtenen Bescheiden die Ermessensentscheidung jedoch gerade nicht mit diesem Gesichtspunkt begründet. Im übrigen hält es der Senat im Hinblick darauf, dass auch Arbeitslosenhilfeempfängern ÜbbG zuerkannt werden kann, nicht für sachgerecht, dem Versicherungsprinzip bei der Abwägung wesentliche Bedeutung beizumessen. Zwangsläufige Folge der Nichtberücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalles ist, dass die Entscheidung an einem Abwägungsdefizit leidet und deshalb zu wiederholen ist.

Die Beklagte war daher unter Aufhebung der ergangenen Bescheide zu verpflichten, erneut über den Antrag des Klägers auf Zahlung von ÜbbG für insgesamt 26 Wochen zu entscheiden. Dabei hat sie die Rechtsauffassung des Senates zu Grunde zu legen. Sie darf den Antrag nicht auf Grund der amtsinternen Weisung des Arbeitsamtes I ... generell auf vier Monate reduzieren. Die Beklagte ist dagegen nicht gehindert, die Mittelknappheit entsprechend dem Zweck der Ermessenermächtigung in § 55 Abs 1 und 2 AFG zu berücksichtigen, wenn außerdem die besonderen Umstände des Einzelfalles dies zulassen.

Bei der Ermessensausübung wird die Beklagte auch zu berücksichtigen haben, ob der Antragsteller vor Aufnahme der selbständigen Tätigkeit über die bevorstehende Reduzierung der Förderdauer in Kenntnis gesetzt worden ist. Zum Zeitpunkt der Abgabe der Antragsunterlagen durch den Kläger war die amtsinterne Weisung des Arbeitsamtes I ...-bereits erlassen. Die Bewilligung des ÜbbG erfolgte mehr als zwei Monate nach Aufnahme der selbständigen Tätigkeit.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Der Senat hat die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG) als gegeben angesehen.
Rechtskraft
Aus
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