L 9 R 2502/09

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 4 R 3577/06
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 R 2502/09
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 19. Februar 2009 aufgehoben. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 27. Juni 2006 sowie des Widerspruchsbescheids vom 20. September 2006 verurteilt, der Klägerin ab 1. April 2006 Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte hat der Klägerin ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen zu erstatten.

Tatbestand:

Umstritten ist die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung.

Die 1954 geborene Klägerin hat keine abgeschlossene Berufsausbildung. Sie war von Oktober 1969 bis Februar 1972 in der Hotelerie sowie von März 1972 bis September 1974 als Arbeiterin beschäftigt. Danach war sie von Oktober 1974 bis Dezember 1975 arbeitslos. In dieser Zeit erfolgte auch eine Umschulung als Bürohilfe durch das Arbeitsamt N ... Danach war sie von Januar bis Juli 1976 wiederum versicherungspflichtig beschäftigt und anschließend bis Mai 1977 arbeitslos. Von Juli 1977 bis April 1979 war sie als Bürokraft tätig. Danach war sie in Mutterschutz bzw. wegen Kindererziehung zunächst nicht mehr erwerbstätig. Insofern sind Pflichtbeitragszeiten für Kindererziehung (1. Juni 1979 bis 31. Mai 1980 und 1. Januar bis 31. Dezember 1982) bzw. bis 26. Dezember 1991 Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung vorgemerkt. Danach war die Klägerin vom 1. Oktober 1992 bis 22. März 1993 sowie 6. Juli bis 20. Dezember 1993 arbeitslos gemeldet (ohne Leistungsbezug). Vom 3. Juni 1996 bis 30. Januar 2003 war die Klägerin wieder versicherungspflichtig im Hotelbereich bzw. als Bedienung tätig. Anschließend bezog sie vom 31. Januar 2003 bis 9. Mai 2005 Sozialleistungen und war dann vom 10. Mai 2004 bis 4. März 2006 arbeitslos. Danach liegen nach dem Versicherungsverlauf vom 12. August 2009, auf den hinsichtlich aller anerkannten Versicherungszeiten verwiesen wird, keine versicherungsrechtlichen Zeiten vor.

Ein Rentenantrag der Klägerin vom März 2004 blieb nach medizinischen Ermittlungen (Beiziehung des Heilverfahrenentlassungsberichtes der Federseeklinik Bad B. vom 19. Februar 2004 und Gutachten des Dr. B. vom 8. April 2004 [schmerzhafte Bewegungseinschränkung der LWS durch degenerative Veränderungen, mittelgradige Funktionsbeeinträchtigung, schmerzhafte Bewegungseinschränkung im Schulterbereich rechts, familiärer Gerinnungsfaktormangel mit potenzieller Thrombosegefahr; rückengerechte leichte Tätigkeiten ohne übermäßige Beanspruchung der rechten Schulter und Überkopfarbeiten seien sechs Stunden und mehr möglich]) erfolglos (Bescheid vom 14. April 2004 und Widerspruchsbescheid vom 4. August 2004, Rücknahme der beim Sozialgericht Heilbronn [SG] erhobene Klage, S 3 RJ 2457/04, nach Anhörung behandelnder Ärzte als sachverständige Zeugen am 28. Februar 2005).

Den erneuten Rentenantrag der Klägerin vom 25. April 2006 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 27. Juni 2006 und - nach Widerspruch, mit dem die Klägerin eine Inkontinenz, psychische Störungen, eine erblich bedingte Thrombosegefahr und WS-Beschwerden geltend machte - Widerspruchsbescheid vom 20. September 2006 ab.

Grundlage waren u. B. ein beigezogenes arbeitsamtsärztliches Gutachten von Dr. Aßmann mit Zusatzgutachten des Psychiaters H. vom 29. März 2006 (überwiegend organisch bedingte anale Inkontinenz bei Zustand nach Dammriss und Verletzung des Sphinkter, Zunahme der Stuhlinkontinenz nach Dickdarmteilentfernung, depressive Verstimmung, Erforderlichkeit weiterer therapeutischer Maßnahmen; Leistungsunfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt) und das Gutachten des Dr. M. zu Verl vom 6. Juni 2006 (chronisches LWS-Syndrom bei degenerativen Veränderungen und BS-Protrusion L3/4, L4/5 und ausgeprägt L5/S1 mit mittelgradiger Funktionsbeeinträchtigung, Impingementsyndrom der linken Schulter mit mäßiger Funktionseinschränkung, Sphinkterinkontinenz bei Zustand nach laparaskopisch assistierter Sigmaresektion 10/04 bei Divertikulitis, Unterbauchbeschwerden links nach Sigmaresektion, peritoneale Adhäsionen im Becken nach vaginaler Hysterektomie; die reaktive Depression sei aus sozialmedizinischer Sicht ohne Auswirkung auf das Leistungsvermögen; leichte Arbeiten im Wechsel von Stehen, Gehen und Sitzen - ohne WS-Zwangshaltungen, schweres Heben, Tragen und Bewegen von Lasten über 10 kg, übermäßige Beanspruchung des linken Schultergelenks und Überkopfarbeiten - seien sechs Stunden und mehr möglich).

Deswegen hat die Klägerin am 2. Oktober 2006 Klage beim SG erhoben und geltend gemacht, sie leide nach der Darmoperation im Jahr 2004 unter Stuhlinkontinenz mit häufigem, schnellem, meist dünnem und unkontrollierbarem Abgang, weswegen sie Einlagen trage, chronischen Unterbauchschmerzen, AT III-Mangel, Schulterbeschwerden und psychischen Störungen.

Über die jeweils von ihnen erhobenen Befunde haben die als sachverständige Zeugen befragten Ärzte, der Orthopäde Dr. B. am 22. November 2006 (WS- und Schulterbeschwerden, keine Angaben zu der Inkontinenz; leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes seien sechs Stunden täglich möglich), die Internistin Dr. H. am 4. Dezember 2006 (u. B. Zustand nach Sigmaresektion, anale Inkontinenz, AT III-Mangel, Impingement beider Schultern, Zustand nach BSV L3/4, HWS- und Schulterarmsyndrom; die Klägerin könne wegen analer Inkontinenz nicht arbeiten, benötige ständig eine Toilette neben sich und könne deshalb auch keine öffentliche Verkehrsmittel benutzen) unter Beifügung ärztlicher Berichte (u. B. Universitätsklinik Tübingen vom 8. September 2005 [anale Inkontninenz, Empfehlung von Sphinktertraining] und 20. Oktober 2005), der Urologe Dr. Ambrus am 9. Februar 2007 (einmalige Vorstellung im März 2006 wegen hartnäckiger wiederkehrender Unterbauchbeschwerden) und der Psychiater H. am 14. Februar 2007 (fünf Behandlungen im Zeitraum von Dezember 2005 bis Mai 2006 wegen mittelschwerer depressiver Episode bei vorbestehender Dysthymia) berichtet.

Ferner hat das SG das Gutachten des Psychiaters H. vom 29. März 2006 (Stuhlfrequenz drei bis fünfmal am Tag, die Klägerin nehme eine Darmentlehrung vor geplanten Unternehmungen vor) beigezogen.

Ferner hat das SG ein Sachverständigengutachten des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. B. vom 10. Oktober 2007 eingeholt. Gemäß diesem hat die Klägerin angegeben, sie sei von ihrem Wohnort um 10:30 Uhr losgefahren und wegen Orientierungsschwierigkeiten um 13:00 Uhr in Mannheim angekommen, wobei sie ihr Mann gefahren habe, weil sie sich die Fahrt in eine Großstadt nicht zugetraut habe. Zu Hause fahre sie allerdings zum Arzt oder auch zu ihren Kindern aus erster Ehe. Sie habe im Juni 2007 Urlaub in Bad Füssing gemacht, wo man mit dem Wohnwagen hingefahren sei, der über eine Toilette verfüge und sie sei jeden zweiten Tag Rad gefahren und auch im Hallenbad geschwommen. Im Juli 2006 sei sie in Urlaub in Italien mit einem Campingwagen gewesen. Sie mache Einkäufe mit dem Ehemann. Zuletzt sei sie vor etwa eineinhalb Jahren (April 2006) in der Inkontinenzsprechstunde gewesen. Vormittags suche sie die Toilette dreimal auf. Sie habe in Tübingen zwar ein Sphinktertraining begonnen, aber keine Kontrolluntersuchung durchgeführt. Dr. B. ist zum Ergebnis gelangt, die Klägerin leide unter einem blanden Carpaltunnelsyndrom beidseits, rezidivierenden Lumboischialgien, jetzt ohne objektivierbare sensomotorische radikuläre Ausfälle, Darminkontinenz für Winde und weichen Stuhl sowie Harn- und Stressinkontinenz. Sie gebe ferner HWS- und BWS-Beschwerden mit rezidivierenden cervicogenem Kopfschmerz an. Soweit Dr. H. im Gutachten vom März 2006 ein psychisches Leiden angenommen habe, sei eine eigenständige krankheitswertige depressive Symptomatik jetzt nicht mehr zu beschreiben. Unter Berücksichtigung der vorliegenden Gesundheitsstörungen könne die Klägerin leichte Tätigkeiten ohne direkten Publikumsverkehr und ständige Zwangshaltung aus nervenärztlicher Sicht vollschichtig verrichten. Einschränkungen, die sich aus der organisch begründeten Inkontinenzproblematik ergäben, fielen ins primär gastroenterolgoische Fachgebiet, wobei insofern aktuellere Berichte nicht vorlägen.

Außerdem hat das SG auf Antrag der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ein Sachverständigengutachten des Chirurgen PD Dr. L. vom 5. Mai 2008 eingeholt. Dieser ist im Wesentlichen zum Ergebnis gelangt, bei der Klägerin bestünden eine Analsphinkterinkontinenz seit Oktober 2004 mit Stuhlunregelmäßigkeiten und flüssiger bis breiiger Stuhlkonsistenz sowie rezidivierende Schmerzen im linken Unterbauch. Bei der rektal-digitalen Untersuchung gelange man mit dem Finger quasi ohne jeglichen Widerstand in das Rektum. Beim willkürlichen Kneifen zeige sich nur ein angedeuteter Kneifdruck. Der Sphinkter scheine extrem schwach zu sein. Ein Sphinktermuskelring sei eindeutig zu tasten. Bei der willkürlichen Kontraktion des Sphinkters zeige sich, dass quasi keine Sphinktermuskulatur an der Anusvorderseite zu tasten sei. Hier sei eine Narbe zwischen Introitus vaginae und Analkanal zu tasten. Die Klägerin benötige ständigen unmittelbaren Zugang zu einer Toilette, die in unmittelbarer Nähe sein müsse. Die durchschnittliche Stuhlfrequenz betrage fünf- bis fünfzehnmal täglich und mache das Tragen von Vorlagen bzw. Windeln notwendig. Mit unwillkürlichem Abgang von Winden am Arbeitsplatz sei zu rechnen. Deswegen bestehe eine eingeschränkte soziale Integrationsmöglichkeit. Wegen der Gefahr von Abgang von Stuhl und Winden sei eine körperlich belastende Tätigkeit nicht möglich. Denkbar sei eine Tätigkeit, die dem Alltag der Klägerin im häuslichen Umfeld nahekomme, also eine sitzende Tätigkeit im Büro ohne soziale Interaktion und Publikumskontakt bei freier Zeiteinteilung. Der Arbeitsweg sollte möglichst kurz sein. Es sollte der Klägerin aber möglich sein, täglich viermal eine Wegstrecke von ca. zehn Minuten zurückzulegen und des weiteren ein Verkehrsmittel zur Hauptverkehrszeit zu benutzen, solange der gesamte Zeitaufwand für eine Strecke zum Arbeitsplatz weniger als 60 Minuten betrage. Die Einschränkung sei dauerhaft. Eine Verbesserung der Symptomatik durch konservative Behandlungsverfahren sei nicht möglich. Theoretisch denkbar sei das Legen eines künstlichen Darmausganges, was die Klägerin jedoch ablehne, nachdem ihr verstorbener Ehemann, der an einem Darmkarzinom gelitten habe, endständiges Colostoma gehabt habe.

Die Beklagte hat hierzu eine Stellungnahme von MDir L. vom 3. Juli 2008 vorgelegt, der ausführt, die Analssphinkterinsuffizienz die nach dem viszeralchirurgischen Gutachten seit mindestens vier Jahren bestehe, habe zumindest nach den Beschreibungen von Dr. B. im Alltag nicht die Limitierung nach sich gezogen, die man erwartet hätte. Wenn auch in zeitlich begrenzten Rahmen habe sich die Klägerin nach ihrer Hochzeit zwei Wochen auf einem Campingplatz am Gardasee aufgehalten und im vorangegangenem Jahr einen ähnlichen Urlaub in Deutschland gemacht. Dort sei sie auch Rad gefahren und im Hallenbad geschwommen, was bei nahezu unkontrolliertem Stuhl- und Windabgang nicht ohne Weiteres zu erwarten sei. Der chirurgische Gutachter habe festgestellt, dass die Klägerin eine körperlich nicht belastende Tätigkeit mit der Möglichkeit eines direkten unmittelbaren Zugangs zu einer Toilette verrichten könne. Sie könne damit eine leichte Tätigkeit z. B. Kontrolltätigkeiten ohne Publikumsverkehr und der Möglichkeit, jederzeit eine Toilette aufzusuchen, vollschichtig verrichten.

Nach Vorlage eines Attests der Dr. H. vom 30. Juli 2007, wonach eine Arbeitszeit unter drei Stunden täglich mit der Möglichkeit eines jederzeit raschen Toilettenbesuchs zumutbar sei, hat die Beklagte geltend gemacht, die Klägerin könne Zureich-, Abnehm-, Montier-, Klebe-, Sortier- und Verpackungsarbeiten, die in der Regel kein Heben und Tragen von Gewichten, die eine Zuhilfenahme der Rupfmuskulatur erforderlich machten und in der Regel überwiegend im Sitzen und mit der Möglichkeit des Wechsels der Körperhaltung nach individuellem Bedarf in Normalarbeitszeit ohne besonderen Zeitdruck und Stressbelastung sowie in geschlossenen wohltemperierten Räumen verrichten. Hinsichtlich der Wegefähigkeit habe die Klägerin selbst gegenüber dem Gutachter angegeben, dass sie 30 bis 60 Minuten ohne einen weiteren Toilettengang auskomme. Ferner sei sie in Besitz einer gültigen Fahrerlaubnis und stehe ein PKW zur Verfügung, den sie auch z. B. zum Arztbesuch oder zum Besuchen der Kinder aus erster Ehe benutze. Dass es ihr auch kaum möglich sei, die Wohnung zu verlassen, treffe im Hinblick auf die Schilderung gegenüber Dr. B. anlässlich dessen Untersuchung auch nicht zu. Hierzu hat sie berufskundliche Äußerungen hinsichtlich einfacher Produktionshelfertätigkeiten, insbesondere für Warenaufmacher und Versandfertigmacher, die das Landesozialgericht für das Land Brandenburg (24. September 1999) und das Thüringer Landessozialgericht (21. Juli 2001) eingeholt hat, vorgelegt.

Das SG hat die Klage mit Urteil vom 19. Februar 2009 abgewiesen. Die Klägerin könne ihr zumutbare Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes, insbesondere sitzende Tätigkeiten im Büro ohne soziale Integration mit möglichem unmittelbarem Zugang zu einer Toilette ohne rentenrechtlich relevante zeitliche Einschränkung verrichten und sei deswegen weder teilweise noch voll erwerbsgemindert und auch nicht berufsunfähig. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das schriftliche Urteil verwiesen.

Gegen das am 11. Mai 2009 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 3. Juni 2009 Berufung eingelegt. Sie trägt im Wesentlichen vor, wegen der Inkontinenz leide sie auch unter psychischen Beeinträchtigungen und benötige sie im Falle einer beruflichen Tätigkeit betriebsunübliche Pausen. Ihr Gesundheitszustand habe sich insofern verschlimmert und bereits vor dem 1. Mai 2008 sei eine erhebliche Einschränkung Leistungsvermögens eingetreten gewesen. Zu Hause schaffe sie oft den Weg zur Toilette nicht. Das Waschen in öffentlichen Toiletten sei für sie belastend und sie könne auch keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen. Ohne Windel könne sie nicht außer Haus gehen. Bevor sie nach draußen gehe, mache sie vorsorglich Einläufe. Die Urlaubsreisen der letzten Jahre seien nur mit einem Wohnwagen und der dortigen eigenen Toilette und Dusche möglich gewesen. Sie sei auch nicht im Hallenbad geschwommen, sondern haben nur verordnete Krankengymnastik im Thermalwasser durchgeführt. Die Inkontinenz stelle eine erhebliche Belastung dar. Nach der Verordnung von Sphinktertraining in der Universitätsklinik Tübingen habe sie zehn Termine in einer Krankengymnastikpraxis wahrgenommen und danach das Training in Eigenregie weitergeführt. Sie sei auch fünfundzwanzigmal in Behandlung gewesen. Es sei für sie schon immer sehr schwierig gewesen, über die Details ihrer Probleme zu reden. Es gehe oft alles in die Hose, sie habe unkontrollierbare Winde mit Stuhlabgang und ständig Stuhlflüssigkeit. Sie müsse Pampers tragen sowie Einläufe machen, um wichtige Termine wahrnehmen zu können.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 19. Februar 2009 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 27. Juni 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. September 2006 zu verurteilen, ihr ab Antragstellung Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie trägt im Wesentlichen vor, die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente wären nur erfüllt, wenn der Versicherungsfall vor dem 1. Mai 2008 eingetreten wäre. Dies sei nicht der Fall. Hierzu hat sie den Versicherungsverlauf vom 12. August 2009 vorgelegt. Weiter trägt sie vor, nach eigenen Angaben bei der Begutachtung vom 6. Juni 2006 und den Angaben gegenüber Dr. B. könne die Klägerin Auto fahren, in Urlaub gehen, einkaufen und habe sogar das Hallenbad besucht, unternehme kürzere Spaziergänge und fahre auch Rad. Nach der Arbeitsstättenverordnung müssten Toilettenräume sowohl in der Nähe der Arbeitsplätze als auch von Außen- und Bereitschaftsräumen sowie Wasch- und Umkleideräumen befinden. Damit befinde sich eine Toilette in erreichbarer Nähe eines Arbeitsplatzes, auch für die Klägerin. Im Rahmen der Ermittlungen habe sich auch eine Besserung im Rahmen einer durchgeführten Verhaltenstherapie dahingehend ergeben, dass die Klägerin alleine mit dem Auto zu ihrer Verhaltenstherapeutin gefahren sei und sich danach zugetraut habe, alleine ins Kaufland zu fahren, um etwas einzukaufen. Die Klägerin könne zumutbar eine berufliche Tätigkeit noch ausüben.

Der Senat hat die Dipl.-Psych. Sch. schriftlich als sachverständige Zeugin gehört. Danach war die Klägerin bei dieser vom November 2006 bis Mai 2007 in ambulanter verhaltenstherapeutisch orientierter Psychotherapie. Auf Grund der (nur) in Anspruch genommenen zehn Sitzungen könne nicht von einem abgeschlossenen Therapieprozess ausgegangen werden. Die Therapie sei vorzeitig beendet worden. Die Klägerin habe über ihr Rentenverfahren berichtet und geäußert, sie habe kein Vertrauen mehr zu irgendjemandem, man habe ihr nicht geglaubt, dass sie wegen der Bandscheiben-, Rücken- und Darmprobleme nicht mehr arbeitsfähig sei. Die Thematisierung der Darminkontinenz und die damit voraus- und einhergehenden Ängste sowie der dadurch mit bedingte soziale Rückzug sei neben der Biografie Hauptinhalt der Sitzungen gewesen, zumal die Klägerin diesbezüglich einen sehr hohen Leidensdruck zum Ausdruck gebracht habe. Dieser sei verbunden mit einem hohen Verbitterungs- und Kränkungsanteil. Die inhaltlichen Angaben über die Mastdarminkontinenz seien äußerst detailliert und raumnehmend gewesen und die Klägerin habe geschildert, sie habe oft Angst, aus dem Haus zu gehen, wenn sie nicht wisse was auf sie zukomme, und müsse dann bis zu fünfmal auf die Toilette. Sie habe Angst und Druck, wenn sie irgendwo hinmüsse. Diese Symptomatik habe während der kurzen therapeutischen Behandlung eine enorme Besserung dahingehend erfahren, dass die Klägerin am 1. März 2007 mit dem Auto alleine zu ihr gekommen sei und sich danach zugetraut habe, alleine ins Kaufland zu fahren, um sich etwas zu kaufen. Das wie ein "Damoklesschwert" geschilderte, noch anstehende Gutachten des Sozialgerichts mit Angst vor Ablehnung habe jedoch einen prognostisch günstige Weiterentwicklung der psychosomatisch bedingten Erkrankungsanteile verhindert, weswegen eine Weiterführung der Therapie zu diesem Zeitpunkt wenig suffizient gewesen wäre.

Außerdem hat der Senat den Facharzt für Psychiatrie und Verhaltenstherapie H. schriftlich als sachverständigen Zeugen gehört. Er hat über die Untersuchungen und Beschwerdeangaben der Klägerin vom Zeitraum vom 19. Dezember 2005 bis 16. Mai 2006 berichtet. Am 9. März 2006 habe die Klägerin angegeben, wegen der Angst, den Stuhlgang nicht kontrollieren zu können, wolle sie eigentlich nirgendwo mehr hin. Neulich habe sie im Zusammenhang mit einem Arztbesuch wieder "die Hosen voll gehabt". Sie gebe eine Stuhlfrequenz von drei bis fünfmal pro Tag mit in der Regel weichem Stuhl, teilweise flüssig, an. In den vergangenen Monaten habe sie wiederholte Kontrollverluste mit Einkoten gehabt. Vor geplanten öffentlichen Aktivitäten mache die Klägerin nach ihren Angaben Einläufe, um die Darmentleerung zu steuern und dann einigermaßen sicher zu sein, dass für die nächsten Stunden kein Einkoten drohe. In dieser Verfassung habe sie sich kein Vorstellungsgespräch vorstellen können. Die Klägerin habe angegeben, sie nehme jetzt immer Ersatzunterwäsche mit. Vormittags müsse sie drei- bis fünfmal auf die Toilette, es komme jeweils weicher Stuhl. Im Zeitfenster der Untersuchungen habe sich der Zustand nicht wesentlich geändert.

Die ebenfalls als Zeugin gehörte Physiotherapeutin E. hat angegeben, sie habe die Klägerin von Oktober bis Dezember 2005 behandelt. Diese habe angegeben, sie habe in der linken Leiste Schmerzen, der Stuhlgang sei dünn, die Winde habe sie nicht unter Kontrolle. Die Behandlung sei nach dem Tanzberger-Konzept erfolgt mit Schwerpunkt vor allem auf dem Sphinktertraining. Nach den sechs Sitzungen seien die Beschwerden noch nicht vollständig behoben gewesen, weswegen sie eine Weiterbehandlung vorgeschlagen habe, ebenso die Fortführung des Beckenboden-Trainings in einer Gruppe. Die Klägerin habe sich dann nicht mehr vorgestellt.

Ferner hat der Senat durch den Berichterstatter den Ehemann der Klägerin, H. B., am 1. März 2011 als Zeugen vernommen. Er hat angegeben, sie hätten im Juni 2006 geheiratet, sich aber schon vorher gekannt. Nach der Heirat habe man den ersten gemeinsamen Urlaub gemacht und sei mit dem Wohnwagen nach Italien gefahren. Dies habe sich angeboten, weil der Wohnwagen über Toilette und Waschgelegenheiten verfüge. Diesen Urlaub habe man hauptsächlich auf dem Campingplatz verbracht, die Stuhlinkontinenz habe bereits damals bestanden. Insofern habe sich der Zustand seit der Operation (2004) weder gebessert noch verschlechtert. Die Klägerin müsse vormittags und nachmittags mehrmals die Toilette aufsuchen, wobei er nicht genau sagen könne, wie oft. Wenn unkontrolliert Luft abgehe, müsse sie sich oft waschen und umziehen. In der Woche vor der Vermählung habe sie sich vielleicht vier- oder fünfmal wegen plötzlichem Stuhlgang waschen und umziehen oder auch Duschen müssen. Die Einkäufe mache er normalerweise allein. Wenn die Einkaufsmöglichkeit in der Nähe und nicht so weit weg wäre, könnte seine Frau gelegentlich auch zum Einkaufen gehen. Wenn die Klägerin mitgehe, mache sie vorher einen Einlauf. Sie trage auch Einmalwindeln zur Vorsorge. Allein gehe sie nicht einkaufen und fahre sie auch nicht Auto. Wenn sich seine Frau nach unkontrolliertem Stuhlabgang waschen müsse daure dies etwa 20 bis 25 Minuten. Wenn seine Frau in einem fremden Bereich sei, könne es bis zu 35 Minuten dauern, wenn sie die Toilette aufsuchen bzw. benutzen müsse, zu Hause gehe das schneller. Wenn man spazieren gehe, fahre man z. B. mit dem Auto zum Wald, bleibe aber dann in der Regel in der Nähe des Autos, um erforderlichenfalls wieder heimfahren zu können. Er könne dann bei Bedarf das Auto heran holen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Beteiligtenvorbringens wird auf die Verwaltungsakten und der Beklagten sowie Gerichtsakten beider Instanzen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß den §§ 143, 144, 151 SGG zulässige Berufung der Klägerin, über die der Senat auf Grund des Einverständnisses der Beteiligten nach § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 1. April 2006, dem Antragsmonat.

Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung haben Versicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres bzw. bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze, wenn sie voll erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit zurückgelegt und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (siehe hierzu § 43 Abs. 2 Satz 1 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch - SGB VI -). Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI).

Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung haben Versicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres bzw. bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze, wenn sie teilweise erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit zurückgelegt und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (siehe hierzu § 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI). Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI).

Darüber hinaus ist nach § 43 Abs. 3 SGB VI generell nicht erwerbsgemindert, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigten (§ 43 Abs. 3 SGB VI).

Eine Rente aus eigener Versicherung wird gemäß § 99 Abs. 1 Satz 1 SGB VI von dem Kalendermonat ein geleistet, zu dessen Beginn die Anspruchsvoraussetzungen für die Rente erfüllt sind, wenn die Rente bis zum Ende des dritten Kalendermonats nach Ablauf des Monats beantragt wird, in dem die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind. Bei späterer Antragstellung wird eine Rente aus eigener Versicherung von dem Kalendermonat an geleistet, in dem die Rente beantragt wird (§ 99 Abs. 1 Satz 2 SGB VI).

Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit werden gemäß § 102 Abs. 2 Satz 1 SGB VI auf Zeit geleistet. Die Befristung erfolgt für längstens drei Jahre nach Rentenbeginn (§ 102 Abs. 2 Satz 2 SGB VI). Sie kann verlängert werden, wobei es bei dem ursprünglichen Rentenbeginn verbleibt (§ 102 Abs. 2 Satz 3 SGB VI). Nach § 102 Abs. 2 Satz 4 SGB VI erfolgen Verlängerungen für längstens drei Jahre nach dem Ablauf der vorherigen Frist. Renten, auf die ein Anspruch unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage besteht, werden gemäß § 102 Abs. 2 Satz 5 SGB VI unbefristet geleistet, wenn unwahrscheinlich ist, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden kann, wovon nach einer Gesamtdauer der Befristung von neun Jahren auszugehen ist.

Es ist insofern weder erforderlich, dass eine solche Behebung der Erwerbsminderung überwiegend wahrscheinlich ist, noch dass diese in absehbarer Zeit wahrscheinlich sein muss. Unwahrscheinlich im Sinne des § 102 Abs. 2 Satz 5 SGB VI ist dahingehend zu verstehen, dass schwerwiegende medizinische Gründe gegen eine rechtlich relevante Besserungsaussicht sprechen müssen, so dass ein Dauerzustand vorliegt, wovon erst ausgegangen werden kann, wenn alle Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind und auch danach ein aufgehobenes Leistungsvermögen besteht. Eingeschlossen werden alle Therapiemöglichkeiten nach allgemein anerkannten medizinischen Erfahrungen. Es kommt nicht darauf an, dass eine begründete Aussicht auf Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit besteht. Entscheidend ist vielmehr die Möglichkeit, das Leistungsvermögen eines Versicherten auf der Grundlage anerkannter Behandlungsmethoden wiederherzustellen. Solange diese Möglichkeit besteht und im Einzelfall keine gesundheitsspezifische Kontraindikation entgegen steht, ist von Unwahrscheinlichkeit der Behebung der Erwerbsminderung nicht auszugehen (vgl. Kater in Kasseler Kommentar, § 102 SGB VI Rdnr. 11 f).

Nach § 101 Abs. 1 SGB VI werden befristete Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nicht vor Beginn des 7. Kalendermonats nach dem Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit geleistet.

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) liegt Erwerbsunfähigkeit (jetzt: volle Erwerbsminderung) auch dann vor, wenn der Arbeitsmarkt verschlossen ist. Begründet wird dies damit, dass die Anweisung des Gesetzgebers, die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen, es nicht ausschließe, weiterhin Personen für erwerbsunfähig (jetzt: voll erwerbsgemindert) zu halten, die aus gesundheitlichen Gründen unter den betriebsüblichen Bedingungen nicht arbeiten können oder nur für Tätigkeiten in Betracht kommen, die ihrer Art nach nur selten in der Arbeitswelt vorkommen. Denn ihre Unfähigkeit, durch Arbeit Erwerb zu erzielen, beruht nicht auf der Schwankungen unterworfenen jeweiligen Lage des Arbeitsmarktes, sondern auf dem praktisch gänzlichen Fehlen entsprechender Arbeitsplätze in der Berufswelt. Der 4. und 5. Senat des BSG (SozR 2200 § 1246 Nrn. 137 und 139) haben hierfür einen Katalog mit insgesamt sieben Fallgruppen erstellt:

1. Tätigkeiten, die nur unter nicht betriebsüblichen Arbeitsbedingungen ausgeübt werden können 2. Arbeitsplätze, die der Versicherte aus gesundheitlichen Gründen nicht von der Wohnung aus aufsuchen kann 3. Tätigkeiten, bei denen die Zahl der in Betracht kommenden Stellen dadurch nicht unerheblich reduziert ist, dass der Versicherte nur in Teilbereichen des Tätigkeitsfeldes eingesetzt werden kann 4. Tätigkeiten, bei denen es sich um typische "Schonarbeitsplätze" handelt, die regelmäßig leistungsgeminderten Angehörigen des eigenen Betriebes vorbehalten bleiben und somit als Eingangsstelle für Betriebsfremde außer Betracht bleiben 5. Tätigkeiten, die auf einem Arbeitsplatz ausgeführt werden, der als Einstiegsstelle für Berufsfremde nicht zur Verfügung steht 6. Arbeitsplätze, die lediglich an bewährte Mitarbeiter als Aufstiegspositionen durch Beförderung oder Höherstufung vergeben werden 7. Fälle besonderer Art, in denen es naheliegt, dass der Arbeitsplatz trotz einer tariflichen Erfassung nur in ganz geringer Zahl vorkommt.

Die Klägerin kann nicht unter betriebsüblichen Bedingungen arbeiten, da sie auch unter Anwendung zumutbarer Vorbeugemaßnahmen aus gesundheitlichen Gründen an der regelmäßigen Ausübung lediglich theoretisch denkbarer Tätigkeiten gehindert ist und auch einen Arbeitsplatz nicht erreichen kann.

Das Leistungsvermögen der Klägerin ist insbesondere durch die seit der Operation vom Oktober 2004 bestehendes Sphinkterinkontinenz eingeschränkt, wegen der es ihr nicht möglich ist, einer beruflichen Tätigkeit des allgemeinen Arbeitsmarktes nachzugehen. Dies ergibt sich den zur Überzeugung des Senats aus der Tatsache, das die Klägerin nach dem insofern nachvollziehbaren Gutachten von PD Dr. L. durchschnittlich fünf - bis fünfzehnmal täglich eine Toilette aufsuchen muss und auch mit unwillkürlichem Stuhlabgang zu rechnen ist. Diese organisch bedingten Einschränkungen sind zur Überzeugung des Senats auch durch den von PD Dr. L. erhobenen Befund belegt. Danach gelangte dieser bei der rektal-digitalen Untersuchung mit dem Finger quasi ohne jeglichen Widerstand in das Rektum. Beim willkürlichen Kneifen zeigte sich nur ein angedeuteter Kneifdruck. Der Sphinkter war extrem schwach. Ein Sphinktermuskelring war zu tasten. Bei der willkürlichen Kontraktion des Sphinkters zeigte sich, dass quasi keine Sphinktermuskulatur an der Anusvorderseite zu tasten war. Hier war eine Narbe zwischen Introitus vaginae und Analkanal zu tasten. Ferner hat der Stuhl häufig flüssige bis breiige Konsistenz. Wenn es - wie häufig, wie auch vom Ehemann der Klägerin als Zeuge glaubhaft bestätigt - unwillkürlich zu Winden und Stuhlabgang kommt, was sich auch aus den Schilderungen der Klägerin gegenüber der Dipl.-Psych. Sch. und dem Psychiater H. ergibt - kommt, ist die Klägerin darauf angewiesen, umgehend eine Toilette aufzusuchen und ggf. auch eine Waschgelegenheit in Anspruch zu nehmen.

Die anale Inkontinenz ist für den Senat bestätigt durch u. B. den Bericht der Universitätsklinik Tübingen vom September 2005, die Aussage der Dr. H. vom 4. Dezember 2006, die vom Sachverständigen Dr. B. wiedergegebenen Schilderungen der Klägerin, das Sachverständigengutachten des PD Dr. L., die von der Zeugin Dipl.-Psych. Sch. wiedergegebenen Schilderungen der Klägerin, die von dem Psychiater H. berichteten Angaben der Klägerin und auch die Angaben der Physiotherapeutin Ehrensperger. Bestätigt ist dies letztlich auch durch die Aussagen des Ehemannes der Klägerin. Unter Berücksichtigung dessen handelt es sich zur Überzeugung des Senats nicht um eine bloße Stuhlinkontinenz, die zumutbar zu beherrschen ist und bei der es genügt, dass sich in der Nähe des Arbeitsplatzes - wie in der Arbeitsplatzordnung vorgeschrieben - eine Toilette befindet. Vielmehr muss die Klägerin auch die Möglichkeit haben, sich bei jederzeit möglichem unwillkürlichem Stuhlabgang zu säubern, eventuell auch zu Duschen. Dies folgt auch aus den insofern glaubhaften Schilderungen des Ehemannes der Klägerin als Zeuge, wonach sich die Klägerin bei unkontrolliertem Stuhlabgang waschen muss, was u. U. 20 bis 25 Minuten in Anspruch nehmen kann. Auch die vom Ehemann der Klägerin angegebenen Aktivitäten im Alltag lassen nicht den Schluss zu, dass die Klägerin zumutbar in der Lage wäre, einer beruflichen Tätigkeit des allgemeinen Arbeitsmarktes nachzugehen. Es folgt dies auch daraus, dass sie - was weder von den Gutachtern, noch von den behandelnden Ärzten und auch nicht vom Senat angezweifelt ist - nicht in der Lage ist, das Haus ohne besondere Vorkehrungen zu verlassen, wenn ein besonderer Termin ansteht. So benutzt sie, woran der Senat keine Zweifel hat, ein Klistier, wenn sie Termine wahrnehmen muss, allein aus der Befürchtung, dass unkontrolliert Stuhl abgeht. Im Rahmen der Ausübung einer beruflichen Tätigkeit ist es ihr zur Überzeugung des Senats nicht zuzumuten, dass sie täglich entsprechende Vorkehrungen in Form der Benutzung eines Klistiers und Darmreinigung durchführt, bevor sie sich auf den Weg zur Arbeit begibt.

Auch im Rahmen der Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit sind der Klägerin entsprechende Vorkehrungen nicht möglich bzw. entsprechende ausreichende Vorkehrungen nicht zumutbar.

Aus den vorstehenden Gründen hat der Senat keinen Zweifel, dass bei der Klägerin so erhebliche Einschränkungen bestehen, dass es ihr unter Berücksichtigung der besonderen Umstände nicht mehr möglich ist, einer regelmäßigen Erwerbstätigkeit nachzugehen.

Der Zustand besteht nach dem Gutachten von PD Dr. L. seit dem operativen Eingriff im Oktober 2004. Eine wesentliche Änderung ist seit dem nicht eingetreten, was sich auch aus den Aussagen der Physiotherapeutin E., des Psychiaters H. und der Dipl.-Psych. Sch. ergibt. Die Klägerin führt zur Überzeugung des Senats auch ein Sphinktertraining in Eigenregie durch, doch hat dies zu keiner wesentlichen Besserung geführt, wie sich dies auch aus dem Gutachten von PD Dr. L. ergibt. Eine solche Besserung ist - so PD Dr. L. - durch konservative Behandlungsverfahren auch nicht möglich. Die denkbare mögliche Alternative, einen künstlichen Darmausgang zu legen, ist der Klägerin nicht zumutbar, zumal ihrem verstorbenen Ehemann, der an einem Darmkarzinom gelitten hatte, ein solcher gelegt worden war und ihr die damit bekannten belastenden Umstände bekannt sind.

Angesichts dessen ist die Klägerin zur Überzeugung des Senats seit Oktober 2004 nicht mehr in der Lage, einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen, auch nicht in einem zeitlich verminderten Umfang.

Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente sind ebenfalls erfüllt, da die Klägerin in dem dem Leistungsfall vom Oktober 2004 vorangegangenen Fünfjahreszeitraum mehr als 36 Monate Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung entrichtet hat (vgl. Versicherungsverlauf vom 12. August 2009, wonach die Zeit vom 3. Juni 1996 bis 30. Januar 2003 durchgängig mit Pflichtbeiträgen auf Grund einer versicherungspflichtigen Beschäftigung und danach bis zum Leistungsfall mit Pflichtbeiträgen wegen Sozialleistungen und Arbeitslosigkeit belegt ist).

Da der Versicherungsfall im Oktober 2004 eingetreten und eine Besserung unwahrscheinlich ist, hat die Klägerin einen Anspruch auf Rente ab Beginn des Antragsmonats, dem 1. April 2006, längstens bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze.

Damit ist das angefochtene Urteil aufzuheben und die Beklagte zur Gewährung von Rente wegen voller Erwerbsminderung zu verurteilen. Hieraus und aus § 193 SGG folgt die Kostenentscheidung.

Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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