Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 13 AL 268/97
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 10 AL 93/98
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 21.01.1998 sowie der Bescheid der Beklagten vom 09.12.1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.02.1997 aufgehoben.
II. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld (Alg) für die Zeit vom 25.07.1994 bis 22.10.1994 und 11.04.1995 bis 31.10.1995 sowie die Erstattung zu Unrecht bezogener Leistungen in Höhe von 17.462,70 DM und Beiträgen zur Krankenversicherung in Höhe von 4.001,17 DM.
Der am 1952 geborene Kläger war bis 30.04.1994 bei den französischen Streitkräften in Berlin als Büroangestellter beschäftigt. Am 04.05.1994 beantragte er beim Arbeitsamt (AA) Kehl die Gewährung von Alg und gab als Anschrift "F. straße, Z. , K." an. Das AA bewilligte ihm nach Ablauf einer Sperrzeit bzw des Ruhens des Anspruchs mit Bescheid vom 07.06.1994 für die Zeit vom 25.07.1994 bis 22.10.1994 Alg und anschließend bis 03.03.1995 Unterhaltsgeld (Uhg; Teilnahme an einer beruflichen Bildungsmaßnahme). Am 11.04.1995 beantragte der Kläger die Wiederbewilligung von Alg. Auch in diesem Antrag gab er die bereits bekannte Anschrift in K. an. Die Beklagte bewilligte ihm mit Bescheid vom 21.04.1995 erneut Alg für die Zeit vom 11.04.1995 bis 31.10.1995. Mit Wirkung ab 01.11.1995 ließ sich der Kläger am 12.10.1995 durch seine Lebensgefährtin, Frau L. , aus dem Leistungsbezug abmelden (Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit).
Am 18.07.1994, 10.30 Uhr, traf ein Außendienstmitarbeiter der Beklagten, der den Kläger zur Überprüfung des Leistungsanspruchs aufsuchen wollte, diesen unter der bekannten Anschrift nicht an. Er stellte jedoch fest, nach Augenschein habe der Kläger unter dieser Anschrift eine Wohnung. Am 08.07.1995 konnte dem Kläger dort ein Widerspruchsbescheid durch die Post wegen Abwesenheit nicht ausgehändigt werden. Bei einem weiteren Besuch des Außendienstmitarbeiters am 18.07.1996, 10.30 Uhr, wurde weder die (frühere) Lebensgefährtin des Klägers noch dieser selbst unter der bekannten Anschrift angetroffen. Frau L. - Bezieherin von Kindergeld - gab am 15.08.1996 bei der AA-Dienststelle Kehl zu Protokoll, die Adresse in K. sei eine Scheinadresse gewesen. Sie habe sich überwiegend in D. (Frankreich) bei ihrer Schwester aufgehalten.
Nach Anhörung des Klägers hob die Beklagte mit Bescheid vom 09.12.1996 die Entscheidungen vom 07.06.1994/21.04.1995 über die Bewilligung von Alg gemäß §§ 45 Abs 2 Satz 3 Nr 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X), 152 Abs 2 Arbeitsforderungsgessetz (AFG) mit Wirkung ab 25.07.1994 ganz auf, weil der Kläger seinen Wohnsitz nicht im Geltungsbereich des AFG, sondern in Frankreich gehabt habe. Die von ihm angegebene Anschrift in K. sei lediglich eine Scheinadresse gewesen. Das für die Zeit vom 25.07.1994 bis 22.10.1994 und 11.04.1995 bis 31.10.1995 gezahlte Alg in Höhe von 17.462,70 DM sowie die hierauf entfallenden Krankenversicherungsbeiträge in Höhe von 4.001,17 DM forderte sie zurück.
Im anschließenden Widerspruchsverfahren machte der Kläger geltend, er habe bis Anfang November 1995 bei Herrn J. / Frau S. in K. gewohnt, was diese bestätigen könnten. Da Frau L. der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig sei, könne es bei ihrer Aussage zu Missverständnissen gekommen sein. Er glaube auch, dass Frau L. nicht gelesen habe, was sie beim AA unterschrieben habe. Mit Widerspruchsbescheid vom 11.02.1997 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.
Gegen den am 27.02.1997 zugestellten Widerspruchsbescheid hat der Kläger am 21.04.1997 Klage zum Sozialgericht Nürnberg (SG) erhoben und beantragt, den Bescheid vom 09.12.1996 in der Ge- habe für die streitgegenständigliche Zeit Alg zu Recht bezogen, so dass die Rückforderung der Leistungen rechtswidrig sei.
Mit Urteil vom 21.01.1998 hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Der Kläger habe zu Beginn der Arbeitslosigkeit seinen Wohnsitz nicht in Deutschland, sondern in Frankreich gehabt. Bei der Anschrift in K. habe es sich nach Aussage der Lebensgefährtin vom 15.08.1996 lediglich um eine Scheinanschrift gehandelt. Die Gewährung von Alg beruhe daher auf unrichtigen Angaben, so dass die Beklagte gemäß § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X berechtigt gewesen sei, die Leistungsbewilligung mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger Berufung eingelegt und vorgetragen, die Erkenntnisse im Fall L. ließen sich nicht auf ihn übertragen. Der Vorwurf einer Scheinadresse treffe für ihn nicht zu. Er habe im Haus J. das Gästezimmer im Erdgeschoss bewohnt und sich in K. amtlich angemeldet. Bei Eintritt der Arbeitslosigkeit habe er daher seinen Wohnsitz nicht in Frankreich gehabt. Die Überzeugung des SG basiere insoweit lediglich auf Vermutungen. Zu keiner Zeit habe er mit Frau L. bei deren Schwester in Frankreich gewohnt.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des SG Nürnberg vom 21.01.1998 sowie den Bescheid vom 09.12.1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.02.1997 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Der Kläger sei weder am 18.07.1994 noch am 08.07.1995 oder am 18.07.1996 unter der K. Adresse erreichbar gewesen. Dass er vor 1996 von Frau L. , die sich in Frankreich aufgehalten habe, getrennt gelebt habe, sei seinem Widerspruch vom 18.05.1995 nicht zu entnehmen. Die Ausführungen sprächen vielmehr für ein Zusammenleben der Partner. Sowohl das Alg des Klägers als auch das Kindergeld für Frau L. sei auf dasselbe Konto überwiesen worden. Lebensmittelpunkt und Wohnsitz des Klägers seien daher in Frankreich gewesen.
Der Senat hat eine Auskunft von der Stadt K. - Einwohnermeldeamt - eingeholt und Frau C.L. sowie Frau U.S. als Zeugen uneidlich vernommen.
In Ergänzung des Sachverhalts wird auf die Leistungsakten des Klägers (Stammnr 140947) sowie auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung des Klägers ist zulässig (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz -SGG-). Sie ist auch begründet, weil das SG zu Unrecht die Voraussetzungen für eine Rücknahme der Alg-Bewilligungen angenommen hat.
Grundlage der Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit ist § 45 Abs 1 und 4 SGB X. § 45 Abs 4 SGB X eröffnet die Rücknahme von begünstigenden Verwaltungsakten für die Vergangenheit nur unter den Voraussetzungen des § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X. Von den Tatbeständen des § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X kommt im vorliegenden Fall die Nr 2 in Betracht. Danach darf die Alg-Bewilligung mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen werden, wenn sie auf Angaben beruhte, die der Kläger vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat. Dies wäre dann der Fall gewesen, wenn der Kläger nicht unter der bei der Antragstellung auf Alg angegebenen Anschrift erreichbar gewesen wäre, sondern - wie die Beklagte behauptet - bereits im Zeitpunkt der Antragstellung in Frankreich gewohnt hätte.
Da die Geltendmachung von Alg dem Territorialitätsprinzip des § 30 SGB I unterliegt, muss der Arbeitslose bei Antragstellung grundsätzlich einen inländischen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben (BSG vom 08.07.1993 - 7 RAr 44/92, nicht veröffentlicht; BSG vom 29.06.1995 - 11 RAr 9/95, SozR 3-6050 Art 71 Nr 8 S 42 f; Brand in Niesel AFG 2.Auflage § 100 Rdnr 19). Zwar kann im Hinblick auf § 30 Abs 2 SGB I auch ein Arbeitsloser, der nicht in Deutschland wohnt, einen Anspruch auf Alg besitzen. Diese Möglichkeit hat im vorliegenden Fall jedoch außer Betracht zu bleiben, da nach der Beweisaufnahme des Senats feststeht, dass der Kläger während des Leistungsbezugs im Geltungsbereich des AFG gewohnt hat.
Nach der auch für die Arbeitslosenversicherung verbindlichen Legaldefinition des § 30 Abs 3 Satz 1 SGB I hat jemand seinen Wohnsitz dort, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung beibehalten und benutzen wird. Maßgebend sind danach die tatsächlichen und wirtschaftlichen Gegebenheiten. Diese sprechen hier eindeutig dafür, dass der Kläger in Z. gewohnt hat.
So hat die Zeugin S. bestätigt, dass der Kläger im April 1994 in ihr Haus in Z. , F.str. gezogen ist. Ihm wurde das Gästezimmer zur Verfügung gestellt. Seine Möbel brachte er mit. Bad und Küche durfte er mitbenutzen. Auf dem Briefkasten war sein Name angebracht. Das Einwohnermeldeamt der Stadt K. bestätigte auf Anfrage des Senats am 19.07.2001 die am 01.05.1994 erfolgte Anmeldung des Klägers unter der oa Anschrift. Auch der Außendienstmitarbeiter der Beklagten gewann am 18.07.1994 nach Augenschein den Eindruck, dass der Kläger unter dieser Adresse eine Wohnung hat. Der Hinweis im Außendienstbericht vom 02.08.1998, das Haus der Familie J. sei zu klein, um weitere Personen zu beherbergen, bezieht sich offensichtlich nicht auf das Haus F.str.1, denn dieses Haus hat nach Angaben der Zeugin S. seit einem Ausbau im Jahr 1993 eine Wohnfläche von 160 m². Die Zeugin gab die Größe des Gästezimmers, in dem der Kläger untergebracht war, mit etwa 25 m² an, nach Schätzung des Klägers betrug die Wohnfläche 20 m².
Entgegen der Ansicht der Beklagten und des SG handelte es sich bei der genannten Anschrift nicht um eine Scheinadresse des Klägers. Beide stützten ihre gegenteilige Auffassung im Wesentlichen auf die Angaben der Lebensgefährtin des Klägers vom 15.08.1996. Dabei wurde aber übersehen, dass Frau L. nur hinsichtlich ihrer Person von einer Scheinadresse sprach, da sie sich überwiegend bei ihrer Schwester in Frankreich aufgehalten hat. Der Kläger wurde von ihr in diesem Zusammenhang nicht erwähnt. Der im Protokoll vom 15.08.1996 enthaltene Satz "das gleiche trifft im Übrigen auch auf ihren Lebenspartner, Herrn B. A., zu" bezieht sich grammatikalisch nur auf die Aussage der Frau L. , sie hätte aufgrund der EU-Vorschriften in Straßburg (Frankreich) keinen Leistungsanspruch gehabt.
Glaubhaft hat Frau L. bei ihrer Einvernahme durch den Senat angegeben, nach ihrem Zuzug am 24.06.1994 in Z. mit ihren drei Kindern nur zwei Wochen geblieben zu sein und anschließend vom Kläger mehr als ein Jahr getrennt gelebt zu haben. Damit war die Anschrift in Z. zwar für die Zeugin eine Scheinadresse, nicht aber für den Kläger. Nach den übereinstimmenden Angaben der Zeugen L. und S. hat dieser in Z. noch bis Ende 1995 gewohnt. Es steht daher zur Überzeugung des Senats fest, dass der Kläger jedenfalls während des Leistungsbezugs vom 25.07.1994 bis 22.10.1994/11.04.1994 bis 31.10.1995 unter der dem AA bekannten Anschrift seine Wohnung hatte. Die davon abweichenden Erkenntnisse des Außendienstmitarbeiters der Beklagten vom 18.07.1996 beziehen sich auf einen im vorliegenden Fall nicht mehr relevanten Zeitraum, da der letzte Tag des Leistungsbezugs des Klägers der 31.10.1995 war.
Der Kläger war während des Leistungsbezugs auch unter der bekannten Anschrift für das AA erreichbar (§ 103 Abs 1 Satz 1 Nr 3 AFG - eingefügt durch Gesetz vom 23.07.1979, BGBl S 1189). Hierzu bestimmt § 1 Satz 1 der Aufenthalts-Anordnung vom 03.10.1979 (ANBA 1979, 1388, zuletzt geändert durch 3.ÄndVO vom 24.03.1993 [ANBA 1993, 769]), dass das AA den Arbeitslosen während der üblichen Zeit des Eingangs der Briefpost unter der von ihm benannten, für die Zuständigkeit des AA maßgeblichen Anschrift erreichen können muss.
Wie die Vernehmung der Zeugin S. durch den Senat ergab, war der Kläger vormittags grundsätzlich im Haus anwesend. Zwar konnte die Zeugin nicht angeben, wie lange sich der Kläger jeweils noch im Haus aufhielt. Die Ausführungen des Klägers hierzu, er sei täglich etwa bis 11.00/ 12.00 Uhr in der Wohnung anwesend gewesen, erscheinen dem Senat aber glaubhaft. Dies auch deshalb, weil er nach der Beschreibung seiner Lebensgewohnheiten durch die als Zeugin gehörte Lebensgefährtin L. oft spät zu Bett zu gehen pflegte und morgens daher länger schlief. Somit konnte der Kläger die für ihn bestimmte Post bereits am Morgen in Empfang nehmen. Sein Name war nach der Aussage der Zeugin S. auf dem Briefkasten vermerkt. Auch verfügte der Kläger über den Briefkastenschlüssel.
Die Erreichbarkeit des Klägers wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass ihn der Außendienstmitarbeiter der Beklagten am 18.07.1996 nicht angetroffen hat. Zu diesem Zeitpunkt war der Kläger nämlich bereits aus der Wohnung ausgezogen. Auch liegt dieser Tag außerhalb des hier relevanten Zeitraums vom 25.07.1994 bis 31.10.1995. Dies gilt auch für den 18.07.1994. Am 08.07.1995 befand sich der Kläger nach seinen eigenen Angaben vor dem Senat - denen die Beklagte nicht widersprochen hat - in einem von der Beklagten genehmigten Urlaub.
Die Beweisaufnahme des Senats hat somit ergeben, dass der Kläger während des Leistungsbezugs im Geltungsbereich des AFG gewohnt hat und er unter der dem AA mitgeteilten Anschrift erreichbar war. Die Voraussetzungen für die Aufhebung der Leistungsbewilligung und Rückforderung des Alg lagen somit nicht vor. Auf die Berufung des Klägers waren daher das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg und die angefochtenen Bescheide aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.
II. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld (Alg) für die Zeit vom 25.07.1994 bis 22.10.1994 und 11.04.1995 bis 31.10.1995 sowie die Erstattung zu Unrecht bezogener Leistungen in Höhe von 17.462,70 DM und Beiträgen zur Krankenversicherung in Höhe von 4.001,17 DM.
Der am 1952 geborene Kläger war bis 30.04.1994 bei den französischen Streitkräften in Berlin als Büroangestellter beschäftigt. Am 04.05.1994 beantragte er beim Arbeitsamt (AA) Kehl die Gewährung von Alg und gab als Anschrift "F. straße, Z. , K." an. Das AA bewilligte ihm nach Ablauf einer Sperrzeit bzw des Ruhens des Anspruchs mit Bescheid vom 07.06.1994 für die Zeit vom 25.07.1994 bis 22.10.1994 Alg und anschließend bis 03.03.1995 Unterhaltsgeld (Uhg; Teilnahme an einer beruflichen Bildungsmaßnahme). Am 11.04.1995 beantragte der Kläger die Wiederbewilligung von Alg. Auch in diesem Antrag gab er die bereits bekannte Anschrift in K. an. Die Beklagte bewilligte ihm mit Bescheid vom 21.04.1995 erneut Alg für die Zeit vom 11.04.1995 bis 31.10.1995. Mit Wirkung ab 01.11.1995 ließ sich der Kläger am 12.10.1995 durch seine Lebensgefährtin, Frau L. , aus dem Leistungsbezug abmelden (Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit).
Am 18.07.1994, 10.30 Uhr, traf ein Außendienstmitarbeiter der Beklagten, der den Kläger zur Überprüfung des Leistungsanspruchs aufsuchen wollte, diesen unter der bekannten Anschrift nicht an. Er stellte jedoch fest, nach Augenschein habe der Kläger unter dieser Anschrift eine Wohnung. Am 08.07.1995 konnte dem Kläger dort ein Widerspruchsbescheid durch die Post wegen Abwesenheit nicht ausgehändigt werden. Bei einem weiteren Besuch des Außendienstmitarbeiters am 18.07.1996, 10.30 Uhr, wurde weder die (frühere) Lebensgefährtin des Klägers noch dieser selbst unter der bekannten Anschrift angetroffen. Frau L. - Bezieherin von Kindergeld - gab am 15.08.1996 bei der AA-Dienststelle Kehl zu Protokoll, die Adresse in K. sei eine Scheinadresse gewesen. Sie habe sich überwiegend in D. (Frankreich) bei ihrer Schwester aufgehalten.
Nach Anhörung des Klägers hob die Beklagte mit Bescheid vom 09.12.1996 die Entscheidungen vom 07.06.1994/21.04.1995 über die Bewilligung von Alg gemäß §§ 45 Abs 2 Satz 3 Nr 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X), 152 Abs 2 Arbeitsforderungsgessetz (AFG) mit Wirkung ab 25.07.1994 ganz auf, weil der Kläger seinen Wohnsitz nicht im Geltungsbereich des AFG, sondern in Frankreich gehabt habe. Die von ihm angegebene Anschrift in K. sei lediglich eine Scheinadresse gewesen. Das für die Zeit vom 25.07.1994 bis 22.10.1994 und 11.04.1995 bis 31.10.1995 gezahlte Alg in Höhe von 17.462,70 DM sowie die hierauf entfallenden Krankenversicherungsbeiträge in Höhe von 4.001,17 DM forderte sie zurück.
Im anschließenden Widerspruchsverfahren machte der Kläger geltend, er habe bis Anfang November 1995 bei Herrn J. / Frau S. in K. gewohnt, was diese bestätigen könnten. Da Frau L. der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig sei, könne es bei ihrer Aussage zu Missverständnissen gekommen sein. Er glaube auch, dass Frau L. nicht gelesen habe, was sie beim AA unterschrieben habe. Mit Widerspruchsbescheid vom 11.02.1997 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.
Gegen den am 27.02.1997 zugestellten Widerspruchsbescheid hat der Kläger am 21.04.1997 Klage zum Sozialgericht Nürnberg (SG) erhoben und beantragt, den Bescheid vom 09.12.1996 in der Ge- habe für die streitgegenständigliche Zeit Alg zu Recht bezogen, so dass die Rückforderung der Leistungen rechtswidrig sei.
Mit Urteil vom 21.01.1998 hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Der Kläger habe zu Beginn der Arbeitslosigkeit seinen Wohnsitz nicht in Deutschland, sondern in Frankreich gehabt. Bei der Anschrift in K. habe es sich nach Aussage der Lebensgefährtin vom 15.08.1996 lediglich um eine Scheinanschrift gehandelt. Die Gewährung von Alg beruhe daher auf unrichtigen Angaben, so dass die Beklagte gemäß § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X berechtigt gewesen sei, die Leistungsbewilligung mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger Berufung eingelegt und vorgetragen, die Erkenntnisse im Fall L. ließen sich nicht auf ihn übertragen. Der Vorwurf einer Scheinadresse treffe für ihn nicht zu. Er habe im Haus J. das Gästezimmer im Erdgeschoss bewohnt und sich in K. amtlich angemeldet. Bei Eintritt der Arbeitslosigkeit habe er daher seinen Wohnsitz nicht in Frankreich gehabt. Die Überzeugung des SG basiere insoweit lediglich auf Vermutungen. Zu keiner Zeit habe er mit Frau L. bei deren Schwester in Frankreich gewohnt.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des SG Nürnberg vom 21.01.1998 sowie den Bescheid vom 09.12.1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.02.1997 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Der Kläger sei weder am 18.07.1994 noch am 08.07.1995 oder am 18.07.1996 unter der K. Adresse erreichbar gewesen. Dass er vor 1996 von Frau L. , die sich in Frankreich aufgehalten habe, getrennt gelebt habe, sei seinem Widerspruch vom 18.05.1995 nicht zu entnehmen. Die Ausführungen sprächen vielmehr für ein Zusammenleben der Partner. Sowohl das Alg des Klägers als auch das Kindergeld für Frau L. sei auf dasselbe Konto überwiesen worden. Lebensmittelpunkt und Wohnsitz des Klägers seien daher in Frankreich gewesen.
Der Senat hat eine Auskunft von der Stadt K. - Einwohnermeldeamt - eingeholt und Frau C.L. sowie Frau U.S. als Zeugen uneidlich vernommen.
In Ergänzung des Sachverhalts wird auf die Leistungsakten des Klägers (Stammnr 140947) sowie auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung des Klägers ist zulässig (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz -SGG-). Sie ist auch begründet, weil das SG zu Unrecht die Voraussetzungen für eine Rücknahme der Alg-Bewilligungen angenommen hat.
Grundlage der Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit ist § 45 Abs 1 und 4 SGB X. § 45 Abs 4 SGB X eröffnet die Rücknahme von begünstigenden Verwaltungsakten für die Vergangenheit nur unter den Voraussetzungen des § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X. Von den Tatbeständen des § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X kommt im vorliegenden Fall die Nr 2 in Betracht. Danach darf die Alg-Bewilligung mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen werden, wenn sie auf Angaben beruhte, die der Kläger vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat. Dies wäre dann der Fall gewesen, wenn der Kläger nicht unter der bei der Antragstellung auf Alg angegebenen Anschrift erreichbar gewesen wäre, sondern - wie die Beklagte behauptet - bereits im Zeitpunkt der Antragstellung in Frankreich gewohnt hätte.
Da die Geltendmachung von Alg dem Territorialitätsprinzip des § 30 SGB I unterliegt, muss der Arbeitslose bei Antragstellung grundsätzlich einen inländischen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben (BSG vom 08.07.1993 - 7 RAr 44/92, nicht veröffentlicht; BSG vom 29.06.1995 - 11 RAr 9/95, SozR 3-6050 Art 71 Nr 8 S 42 f; Brand in Niesel AFG 2.Auflage § 100 Rdnr 19). Zwar kann im Hinblick auf § 30 Abs 2 SGB I auch ein Arbeitsloser, der nicht in Deutschland wohnt, einen Anspruch auf Alg besitzen. Diese Möglichkeit hat im vorliegenden Fall jedoch außer Betracht zu bleiben, da nach der Beweisaufnahme des Senats feststeht, dass der Kläger während des Leistungsbezugs im Geltungsbereich des AFG gewohnt hat.
Nach der auch für die Arbeitslosenversicherung verbindlichen Legaldefinition des § 30 Abs 3 Satz 1 SGB I hat jemand seinen Wohnsitz dort, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung beibehalten und benutzen wird. Maßgebend sind danach die tatsächlichen und wirtschaftlichen Gegebenheiten. Diese sprechen hier eindeutig dafür, dass der Kläger in Z. gewohnt hat.
So hat die Zeugin S. bestätigt, dass der Kläger im April 1994 in ihr Haus in Z. , F.str. gezogen ist. Ihm wurde das Gästezimmer zur Verfügung gestellt. Seine Möbel brachte er mit. Bad und Küche durfte er mitbenutzen. Auf dem Briefkasten war sein Name angebracht. Das Einwohnermeldeamt der Stadt K. bestätigte auf Anfrage des Senats am 19.07.2001 die am 01.05.1994 erfolgte Anmeldung des Klägers unter der oa Anschrift. Auch der Außendienstmitarbeiter der Beklagten gewann am 18.07.1994 nach Augenschein den Eindruck, dass der Kläger unter dieser Adresse eine Wohnung hat. Der Hinweis im Außendienstbericht vom 02.08.1998, das Haus der Familie J. sei zu klein, um weitere Personen zu beherbergen, bezieht sich offensichtlich nicht auf das Haus F.str.1, denn dieses Haus hat nach Angaben der Zeugin S. seit einem Ausbau im Jahr 1993 eine Wohnfläche von 160 m². Die Zeugin gab die Größe des Gästezimmers, in dem der Kläger untergebracht war, mit etwa 25 m² an, nach Schätzung des Klägers betrug die Wohnfläche 20 m².
Entgegen der Ansicht der Beklagten und des SG handelte es sich bei der genannten Anschrift nicht um eine Scheinadresse des Klägers. Beide stützten ihre gegenteilige Auffassung im Wesentlichen auf die Angaben der Lebensgefährtin des Klägers vom 15.08.1996. Dabei wurde aber übersehen, dass Frau L. nur hinsichtlich ihrer Person von einer Scheinadresse sprach, da sie sich überwiegend bei ihrer Schwester in Frankreich aufgehalten hat. Der Kläger wurde von ihr in diesem Zusammenhang nicht erwähnt. Der im Protokoll vom 15.08.1996 enthaltene Satz "das gleiche trifft im Übrigen auch auf ihren Lebenspartner, Herrn B. A., zu" bezieht sich grammatikalisch nur auf die Aussage der Frau L. , sie hätte aufgrund der EU-Vorschriften in Straßburg (Frankreich) keinen Leistungsanspruch gehabt.
Glaubhaft hat Frau L. bei ihrer Einvernahme durch den Senat angegeben, nach ihrem Zuzug am 24.06.1994 in Z. mit ihren drei Kindern nur zwei Wochen geblieben zu sein und anschließend vom Kläger mehr als ein Jahr getrennt gelebt zu haben. Damit war die Anschrift in Z. zwar für die Zeugin eine Scheinadresse, nicht aber für den Kläger. Nach den übereinstimmenden Angaben der Zeugen L. und S. hat dieser in Z. noch bis Ende 1995 gewohnt. Es steht daher zur Überzeugung des Senats fest, dass der Kläger jedenfalls während des Leistungsbezugs vom 25.07.1994 bis 22.10.1994/11.04.1994 bis 31.10.1995 unter der dem AA bekannten Anschrift seine Wohnung hatte. Die davon abweichenden Erkenntnisse des Außendienstmitarbeiters der Beklagten vom 18.07.1996 beziehen sich auf einen im vorliegenden Fall nicht mehr relevanten Zeitraum, da der letzte Tag des Leistungsbezugs des Klägers der 31.10.1995 war.
Der Kläger war während des Leistungsbezugs auch unter der bekannten Anschrift für das AA erreichbar (§ 103 Abs 1 Satz 1 Nr 3 AFG - eingefügt durch Gesetz vom 23.07.1979, BGBl S 1189). Hierzu bestimmt § 1 Satz 1 der Aufenthalts-Anordnung vom 03.10.1979 (ANBA 1979, 1388, zuletzt geändert durch 3.ÄndVO vom 24.03.1993 [ANBA 1993, 769]), dass das AA den Arbeitslosen während der üblichen Zeit des Eingangs der Briefpost unter der von ihm benannten, für die Zuständigkeit des AA maßgeblichen Anschrift erreichen können muss.
Wie die Vernehmung der Zeugin S. durch den Senat ergab, war der Kläger vormittags grundsätzlich im Haus anwesend. Zwar konnte die Zeugin nicht angeben, wie lange sich der Kläger jeweils noch im Haus aufhielt. Die Ausführungen des Klägers hierzu, er sei täglich etwa bis 11.00/ 12.00 Uhr in der Wohnung anwesend gewesen, erscheinen dem Senat aber glaubhaft. Dies auch deshalb, weil er nach der Beschreibung seiner Lebensgewohnheiten durch die als Zeugin gehörte Lebensgefährtin L. oft spät zu Bett zu gehen pflegte und morgens daher länger schlief. Somit konnte der Kläger die für ihn bestimmte Post bereits am Morgen in Empfang nehmen. Sein Name war nach der Aussage der Zeugin S. auf dem Briefkasten vermerkt. Auch verfügte der Kläger über den Briefkastenschlüssel.
Die Erreichbarkeit des Klägers wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass ihn der Außendienstmitarbeiter der Beklagten am 18.07.1996 nicht angetroffen hat. Zu diesem Zeitpunkt war der Kläger nämlich bereits aus der Wohnung ausgezogen. Auch liegt dieser Tag außerhalb des hier relevanten Zeitraums vom 25.07.1994 bis 31.10.1995. Dies gilt auch für den 18.07.1994. Am 08.07.1995 befand sich der Kläger nach seinen eigenen Angaben vor dem Senat - denen die Beklagte nicht widersprochen hat - in einem von der Beklagten genehmigten Urlaub.
Die Beweisaufnahme des Senats hat somit ergeben, dass der Kläger während des Leistungsbezugs im Geltungsbereich des AFG gewohnt hat und er unter der dem AA mitgeteilten Anschrift erreichbar war. Die Voraussetzungen für die Aufhebung der Leistungsbewilligung und Rückforderung des Alg lagen somit nicht vor. Auf die Berufung des Klägers waren daher das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg und die angefochtenen Bescheide aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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