L 7 P 21/00

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
7
1. Instanz
SG Regensburg (FSB)
Aktenzeichen
S 2 P 85/97
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 7 P 21/00
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 30.03.2000 wird zurückgewiesen.
II. Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger ein Anspruch auf Leistungen gemäß den Regeln der gesetzlichen Pflegeversicherung des SGB XI zusteht.

Der im Jahre 1935 geborene Kläger ist infolge der Auswirkungen eines Schädel-Hirntraumas im Jahre 1956 infolge eines Motorradunfalls seit 1978 stationär im Bezirkskrankenhaus Wöllersdorf untergebracht. Am 31.05.1996 stellte er erstmals Antrag auf Leistungen aus der gesetzlichen Pflegeversicherung; Leistungen zur Pflege nach den Bestimmungen des SGB V vor dem Inkrafttreten des SGB XI hatte der Kläger nicht bezogen.

Die Begutachtung durch eine Pflegefachkraft des Medizinischen Dienstes der gesetzlichen Krankenversicherung auf der Grundlage der Feststellungen anlässlich eines Besuchs am 07.08.1996 ergab die Feststellung im Gutachten vom 11.11.1996, dass beim Kläger im Bereich der Grundpflege keinerlei Hilfebedarf bestehe, nur im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung bedürfe der Kläger täglich für eine halbe Stunde der Hilfe. Was die Fähigkeiten und den Interventionsbedarf in Bezug auf die Aktivitäten des täglichen Lebens angehe, so ist in diesem Gutachten folgendes festgehalten: der Kläger sei beim Aufrechterhalten der vitalen Funktionen bedingt selbständig; in der Fähigkeit, sich situativ anpassen zu können, sei er selbständig; bei der Versorgung seines künstlichen Darmausgangs sei er teilweise unselbständig; selbständig sei er aber darin, für seine eigene Sicherheit sorgen zu können, sich zu bewegen, sich sauber zu halten und zu kleiden, zu essen und zu trinken, sich zu beschäftigen, zu kommunizieren, zu ruhen und zu schlafen sowie darin, die sozialen Bereiche des Lebens zu sichern. Am Stütz- und Bewegungsapparat bestünden mäßige Einschränkungen in Gestalt von Bewegungseinschränkungen beider Schultergelenke und eines kleinschrittigen Ganges, außerdem habe der Kläger eine nach vorne gebeugte Körperhaltung; das Stehen und das Gehen seien alleine möglich; an den inneren Organen fänden sich schwere Einschränkungen in Gestalt eines Zustandes nach einem operierten Dickdarmcarzinom und von Herzrythmusstörungen, sowie eines diätpflichtigen Diabetes mellitus; die an den Sinnesorganen bestehende Einschränkung in Gestalt einer beiderseitigen Sehminderung sei durch Hilfsmittel kompensiert; was das Zentralnervensystem und die Psyche angehe, so seien die Einschränkungen mäßig, es sei ein Zustand nach traumatisch bedingten fokalen Anfällen zu verzeichnen, die Feinmotorik der rechten Hand sei etwas reduziert; der Kläger sei aber freundlich und ausgeglichen, und fühle sich wohl, auch sei ein Gespräch möglich. Daraufhin lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 23.08.1996 den Antrag ab. In der Widerspruchsbegründung gab der Betreuer des Klägers u.a. an, der Pflegebedarf bestehe in der Hauptsache in medizinischer Versorgung und in der Überwachung der Medikamenteneinnahme, der Pflegebedarf übersteige das Maß der Pflegestufe III bei weitem. Gegen den Widerspruchsbescheid vom 29.10. 1997 reichte der Kläger zum Sozialgericht Regensburg Klage ein. Zur Begründung ist angegeben, gemäß den gesetzlichen Regelungen habe der Kläger Anspruch auf Pflege in vollstationären Einrichtungen, da häusliche oder teilstationäre Pflege nicht möglich sei bzw. wegen der Besonderheit des Falles des Klägers nicht in Betracht komme; letztlich komme es auf eine Einstufung in eine Pflegestufe nicht an; allein aus der Tatsache, dass der Kläger stationär untergebracht sei, ergebe sich sein Anspruch auf Pflegestufe III bzw. aus Leistungen nach der Regelung für Härtefälle. Des weiteren hat die Klagepartei im wesentlichen vorgetragen, nachdem der Kläger als Pflegefall in einem Bezirkskrankenhaus untergebracht sei, weil er ansonsten akut selbstmordgefährdet wäre und auch die notwendigen täglichen Verrichtungen nicht ausführen würde, könne kein vernünftiger Zweifel daran bestehen, dass der Kläger pflegebedürftig im Sinne des § 14 SGB XI sei. Der Klagebegründung beigefügt ist ein Schreiben des Bezirkskrankenhauses Wöllersdorf an das zuständige Vormundschaftsgericht vom 20.05.1981, in welchem u.a. ausgeführt ist: " ...befindet sich seit dem 15.09.1978 hier in stationärer Behandlung. Er leidet an einer Psychose nach Schädelhirntrauma. Während bei früheren stationären Aufenthalten im Bezirkskrankenhaus Regensburg die paranoide Symptomatik im Vordergrund stand, führte zur jetzigen Einweisung eine depressive Verstimmung ...Herr Sch. geht hier auf der Station keinerlei Beschäftigung nach, ist auch nicht dazu zu motivieren. Er sitzt den ganzen Tag herum, geht höchstens ab und zu einmal spazieren. Im Gespräch fallen seine Gedächtnisstörungen sowie seine mangelnde Konzentration auf. Er wirkt schwung- und initiativlos, gibt auf Fragen kaum Antwort, äußert nur ständig stereotyp Entlassungswünsche. Seiner Zukunft steht er völlig kritiklos gegenüber, meint, er könne nach der Entlassung wieder daheim auf dem Bauernhof arbeiten, bedenkt aber nicht dabei, dass er hier nicht einmal für einige Stunden täglich in der Lage ist die Beschäftigungstherapie aufzusuchen ..."

Mit Urteil vom 30.03.2000 wies das Sozialgericht die Klage ab. Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers. Zur Begründung ist sinngemäß im wesentlichen noch ausgeführt, der Anspruch des Klägers ergebe sich auch aus § 43 SGB XI, wo eine vom Verrichtungskatalog des § 14 SGB XI unabhängige Anspruchsgrundlage normiert sei.

Der Kläger beantragt,

das Ersturteil und die zugrundeliegenden Bescheide aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Leistungen nach der Pflegestufe III bei stationärer Unterbringung zu gewähren.

Demgegenüber beantragt die Beklagte,

die Berufung zurückzuweisen.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf Tatbestand und Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils und die dort angeführten Beweismittel Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet. Das Ersturteil und die zugrundeliegenden Bescheide der Beklagten sind nicht zu beanstanden. Nach den Bestimmungen der gesetzlichen Pflegeversicherung im SGB XI stehen dem Kläger Leistungen daraus nicht zu.

Ob ein Behinderter Leistungen aus der gesetzlichen Pflegeversicherung zu beanspruchen hat und in welche Pflegestufe er ggf. einzugruppieren ist, bemißt sich nach den §§ 14, 15 SGB XI. Welche Pflegetätigkeiten dabei allein zu berücksichtigen sind, bemißt sich im Bereich der sogenannten Grundpflege nach den Bestimmungen des § 14 Abs. 4 Nr. 1 bis 3 SGB XI, der dieser Eingruppierung zugrunde zu legende Hilfebedarf im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung ist in § 14 Abs. 4 Nr. 4 festgelegt. Nach § 14 Abs. 4 SGB XI ist in diesem Zusammenhang im Bereich der Grundpflege allein maßgebend, ob und in welchem Umfang Hilfebedarf bei folgenden gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens besteht: - im Bereich der Körperpflege: Waschen, Duschen, Baden, Zahn pflege, Kämmen, Rasieren, Darm- und Blasenentleerung; - im Bereich der Ernährung: Mundgerechtes Zubereiten der Nah rung, Aufnahme der Nahrung; - im Bereich der Mobilität: Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, An und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen, Verlassen und Wie deraufsuchen der Wohnung.

Bei den genannten Verrichtungen besteht im Falle des Klägers kein nennenswerter Hilfebedarf, der von der Klagepartei demgegenüber vorgetragene Hilfebedarf im wesentlichen in Gestalt der Kontrolle, ob die verordneten Medikamente eingenommen sind, gehört nach dem Willen des Gesetzes nicht zu diesen Verrichtungen. Dass bei dieen Verrichtungen kein nennenswerter Hilfebedarf besteht, entnimmt der Senat der Darstellung im Gutachten des Medizinischen Dienstes der gesetzlichen Krankenversicherung vom 11.11.1996, in welchem überzeugend beschrieben ist, an welchen Krankheitszeichen der Kläger leidet, und dass er den Ablauf des täglichen Lebens selbst durchaus so gestalten kann, dass keine der zum Grundpflegebedarf zählenden Verrichtungen im Sinne des § 14 Abs. 4 SGB XI von einer anderen Person ausgeführt oder unterstützt zu werden braucht. Der Senat stützt seine Einschätzung auf diese Feststellungen. Der Senat hat in dieser Situation darauf verzichtet, ein gerichtliches Gutachten einzuholen. Zwar hat der Klägervertreter den aus diesem Gutachten zu ziehenden Folgerungen, nämlich dass dem Kläger ein Anspruch auf Pflegegeld nach dem SGB XI nicht zusteht, widersprochen; er hat jedoch in keiner Weise schlüssig vorgetragen, bei welcher Verrichtung im Sinne des für den Umfang der Grundpflege maßgebenden Verrichtungskatalogs der Kläger der Hilfe bedürfe. Sinngemäß hat der Klägervertreter zur Begründung des Klageanspruchs vielmehr ausgeführt, dass durch eine entsprechend erweiternde Auslegung dem elften Band des SGB ein dem Willen des Gesetzgebers vermeintlich besser entsprechender Inhalt gegeben werden müsse, und zwar dergestalt, dass Versicherte mit einem derart schweren Leiden wie der Kläger auch unabhängig vom Verrichtungskatalog leistungsberechtigt seien. Unter diesen Umständen glaubt der Senat auf eine weitere Begutachtung verzichten zu können.

Der Katalog an Verrichtungen, nach denen gemäß §§ 14, 15 SGB XI die Hilfebedürftigkeit als Voraussetzung für Leistungen aus der gesetzlichen Pflegeversicherung zu bemessen ist, ist seinem Wortlaut und seiner Zielsetzung nach abschließend; er ist grundsätzlich auch einer Erweiterung durch Analogie nicht zugänglich. Nach dem Willen des Gesetzes dient der Katalog der Verrichtungen des § 14 Abs. 4 SGB XI dem Ziel, diejenigen Lebensbereiche festzulegen, mit deren Hilfe Pflegebedürftigkeit im Sinne des Rechts der gesetzlichen Pflegeversicherung eingegrenzt werden sollte; diese orientieren sich erkennbar an den gewöhnlichen (Minimal-)Bedürfnissen eines Erwachsenen, der im eigenen Haushalt lebt (so auch das BSG, Urt. vom 19.2.1998; B 3 P 11/97 R). Deswegen - so das BSG a.a.O. - blieben neben den in § 14 Abs. 4 SGB XI aufgeführten Bereichen andere, die nicht in gleichem Maße als lebensnotwendig angesehen würden, wie z.B. Kommunikation, Bildung u.ä. als Kriterien für die Beurteilung der Hilfebedürftigkeit im Sinne des Rechts der sozialen Pflegeversicherung ausgeschlossen. Daß durch die Begrenzung des für Pflegeleistungen aus dem SGB XI maßgebenden Hilfebedarfs infolge der Formulierung des Verrichtungskatalogs des § 14 Abs. 4 SGB XI Pflegebedürftige von Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung ausgeschlossen sind, bei denen der Hilfebedarf auf anderen Gebieten liegt als durch den Verrichtungskatalog festgelegt, ist vom Gesetz gewollt; die Pflegeversicherung ist bewußt nicht als umfassende Absicherung des Pflegerisikos konzipiert worden, die Leistungen bei jeder Form von Hilfebedürftigkeit gewährt (vgl. BSG a.a.O.). Anders als im Recht der sozialen Versorgung (vgl. § 35 BVG) oder der gesetzlichen Unfallversicherung (vgl. § 44 SGB VII) sind im Recht der gesetzlichen Pflegeversicherung nicht die Folgen einer Pflegebedürftigkeit zu entschädigen, die in ihrem gesamten Ausmaß durch ein bestimmtes, in seinen Auswirkungen auszugleichendes, Ereignis verursacht worden sind, sondern nur diejenigen Auswirkungen von Hilflosigkeit, bei denen die Betroffenen dem Gesetzgeber in besonderem Maße als schutzwürdig erschienen sind. Dies rechtfertigt es, die von der gesetzlichen Pflegeversicherung erfaßten Fälle - anders als bei §§ 35 BVG, 44 SGB VII - nach Art und Schwere zu beschränken. Wie vom BSG hervorgehoben (a.a.O.) lassen sich dem aus diesen Gründen zum Zwecke der Eingrenzung des von der gesetzlichen Pflegeversicherung erfaßten Personenkreises aufgestellten Verrichtungskatalog (§ 14 Abs. 4 SGB XI) auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken entgegenhalten. Denn solange nicht die Absicherung des Existenzminimums in Frage steht, lassen sich aus der Verfassung sozialrechtliche Ansprüche nicht herleiten. Etwas anderes könnte nur gelten, wenn im sozialen Leistungsrecht durch die Aufstellung der Anspruchsvoraussetzungen willkürliche Abgrenzungen getroffen würden. Dafür, daß dies hier der Fall sei, gibt es jedoch keine Anhaltspunkte.

Die dargestellten Maßstäbe gelten auch für die Vorschrift des § 43 SGB XI, denn auch diese Bestimmung knüpft an das Tatbestandsmerkmal der Pflegebedürftigkeit an, das in § 14 Abs. 1 SGB XI ausdrücklich in der Weise und für alle Fälle des SGB XI definiert ist, dass maßgeblich allein der Verrichtungskatalog des § 14 Abs. 4 SGB XI ist. Legt man folglich diese Regeln im Falle des Klägers zugrunde, so ist auch ein Anspruch aus § 43 SGB XI offensichtlich ausgeschlossen, weil im Bereich der Grundpflege des § 14 Abs. 4 SGB XI ein nennenswerter Hilfebedarf offensichtlich nicht vorhanden ist.

Einzuräumen ist der Klagepartei, daß das Ergebnis in ihrem Falle in der Sache als unbefriedigend angesehen werden kann. Dies liegt zum einen daran, daß das Gesetz (SGB XI) bei den Voraussetzungen der Pflegeleistungen in einer Weise typisiert, die auf die spezifischen Interessen und Bedürfnisse des Klägers keine Rücksicht nimmt. Zum anderen darf aber auch nicht übersehen werden, daß bei Einführung des Rechts der sozialen Pflegeversicherung in der Öffentlichkeit Erwartungen geweckt worden sind, die das Gesetz seinem klaren Wortlaut nach nicht einlösen kann und nach dem Willen des Gesetzgebers offensichtlich auch nicht einlösen soll. Dieser Zustand gibt jedoch gleichwohl nicht die Möglichkeit, aus den Bestimmungen des SGB XI die von der Klägerin erhobenen Ansprüche herzuleiten.

Aus diesem Prozessergebnis folgt gemäß § 193 SGG auch die getroffene Kostenentscheidung. Ein Grund für die Zulassung der Revision gemäß § 160 SGG besteht nicht.
Rechtskraft
Aus
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