L 7 P 42/97

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
7
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 10 P 106/96
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 7 P 42/97
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 23.07.1997 abgeändert. Es wird festgestellt, dass die Klägerin über den 31.12.1995 hinaus in der gesetzlichen Rentenversicherung pflichtversichert ist.
II. Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der am 1987 geborene Sohn der Klägerin V. M. leidet an einem Down-Syndrom bei Trisomie 21. Nach dem Gutachten von Frau Dr.H. vom 11.08.1995, eingeholt im Verfahren S 6 Kr 52/95 vor dem Sozialgericht Augsburg, liegen bei ihm bis auf eine durch Brille ausgeglichene Hornhautverkrümmung und Weitsichtigkeit keine weiteren organischen Störungen vor. Das sozialgerichtliche Verfahren endete mit der Annahme des Vergleichsangebots der Beklagten vom 20.11.1995, wonach diese Schwerpflegebedürftigkeit im Sinne des § 53 SGB V beim Sohn der Klägerin auch in dem Zeitraum vom 03.01.1995 bis 31.03.1995 anerkannte und ihn in dem Zeitraum vom 01.04. bis 31.12.1995 der Pflegestufe II und ab 01.01.1996 der Pflegestufe I zuordnete.

Am 20.02.1995 beantragte die Klägerin die Feststellung der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung für nicht erwerbsmäßig tätige Pflegepersonen. Mit Bescheid vom 29.03.1996 lehnte die Beklagte diesen Antrag ab. Pflegepersonen seien in der gesetzlichen Rentenversicherung u.a. nur dann sozial abzusichern, wenn sie einen Pflegebedürftigen mindestens 14 Stunden wöchentlich in der häuslichen Umgebung pflegen. Der Sohn der Klägerin befände sich während der Woche in der Lebenshilfe. Nach den eigenen Angaben der Klägerin erreiche der Pflegeumfang während der Woche eineinhalb Stunden; während des Wochenendes würde sie drei bis dreieinhalb Stunden aufwenden. Die Auswertung des Gutachtens von Frau Dr.H. habe ergeben, dass eine wöchentliche Pflegezeit von 13,5 Stunden anzuerkennen sei.

Im Widerspruchsverfahren trug die Klägerin im Wesentlichen vor, der Pflegeaufwand am Wochenende würde bei ca. dreieinhalb Stunden liegen. Sie sei nicht der Meinung, dass man ihren Sohn mit anderen acht-jährigen Kindern vergleichen könne. Die Aufsicht erschwere sich durch die höhere Gefahrenquelle in einem landwirtschaftlichen Betrieb. Im Hinblick auf dieses Vorbringen wandte sich die Beklagte an die Beigeladene, die sich dahingehend äußerte, die Versicherungspflicht gemäß § 3 Satz 1 Nr.1a SGB VI baue auf der leistungsrechtlichen Entscheidung der Pflegekassen über die Übernahme von Rentenversicherungsbeiträgen gemäß §§ 28 Abs.1 Nr.9 iVm § 44 SGB XI auf. Die Pflegekasse erbringe Rentenversicherungsbeiträge für Pflegepersonen als eine von ihr auszuführende eigenständige Sozialleistung. Es sei deshalb deren Aufgabe, die beantragte Leistung abzulehnen oder zu bewilligen. Ihr sei es dagegen verwehrt, in einem Widerspruchsverfahren über einen außerhalb des eigenen Kompetenzbereichs angesiedelten Leistungsanspruchs aus der Pflegeversicherung zu entscheiden.

Mit Widerspruchsbescheid vom 30.09.1996 wies die Beklagte sodann den Widerspruch als unbegründet zurück. Rentenversicherungspflicht träte nur ein, wenn feststehe, dass die Pflegepersonen die Pflegetätigkeit auf Dauer - mehr als zwei Monate - ausüben und der Pflegeumfang regelmäßig mindestens 14 Stunden in der Woche betrage. Nach den getroffenen Feststellungen sei dies hier nicht der Fall, da sich lediglich eine wöchentliche Pflegezeit von 13,5 Stunden ergäbe.

Zur Begründung ihrer zum Sozialgericht Augsburg erhobenen Klage hat die Klägerin vor allem auf die Notwendigkeit der Beaufsichtigung aufgrund zahlreicher Gefahrenquellen auf dem Bauernhof gefolgt werden, wonach die Ferienzeiten, in denen ihr Sohn nicht die Tagesbetreuung aufsuche, nicht im Rahmen des Zeitaufwands für Pflege zu berücksichtigen seien.

Die Beklagte hat auf ihr bisheriges Vorbringen verwiesen und angeregt, der Klägerin aufzugeben, ein Pflegetagebuch zu führen. Nach Auswertung des daraufhin erstellten Pflegetagebuchs ist die Beklagte zu dem Ergebnis gekommen, dass die Klägerin zwar aufgrund ihrer Aufzeichnungen auf einen Gesamtpflegebedarf von ca. zwei Stunden käme, dieser jedoch nicht in vollem Umfang als Pflegebedarf anerkannt werden könne.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 23.07.1997 haben sowohl die Klägerin als auch ihr als Zeuge einvernommener Ehemann nähere Ausführungen zu den Auswirkungen der Behinderung ihres Sohnes gemacht. Mit Urteil vom 23.07.1997 hat das Sozialgericht Augsburg daraufhin die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verurteilt, der Klägerin Leistungen zur sozialen Sicherung nach Maßgabe von § 44 SGB XI zu gewähren. Zum Hilfebedarf hinzuzurechnen seien auch die Hilfen im Bereich der Kommunikation, wodurch sich ein Gesamthilfebedarf von 14 3/4 Stunden errechne. Auch wenn die Klägerin auf dem Hof ihres Ehemannes mithelfe, läge keine Vollerwerbstätigkeit vor.

Mit ihrer dagegen eingelegten Berufung rügt die Beklagte im Wesentlichen, dass das Sozialgericht rechtsfehlerhaft Maßnahmen zur Förderung der Kommunikation mitberücksichtigt habe. Dies entspreche nicht der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), weshalb man insoweit auf das Urteil des BSG vom 23.10. 1996 - 4 RLw 7/96 - verweise. Die Klägerin wendet dagegen im Wesentlichen ein, das Erstgericht sei keineswegs über die Grenzen einer zulässigen Gesetzesauslegung hinausgegangen.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 06.08.1998 wurde ein Teilvergleich dahingehend geschlossen, dass sich die Beklagte 1995 gemäß § 44 SGB XI in der gesetzlichen Rentenversicherung abzusichern, sofern dies nicht bereits geschehen sei und sofern nicht ein Ausschlussgrund im Sinne des § 44 Abs.1 Satz 1 SGB XI vorläge. Im Übrigen wurde der Rechtsstreit zwecks Einholung eines ärztlichen Sachverständigengutachtens zum Umfang des Pflegebedarfs im Sinne des SGB XI vertagt.

Das Gericht erhob sodann Beweis durch Einholung eines Sachverständigengutachtens von dem Allgemeinarzt Dr.Z. , der in seinem Gutachten vom 11.08.1999 zu dem Ergebnis kam, die Klägerin pflege ihren Sohn pro Tag mindestens zwei Stunden und somit pro Woche mindestens 14 Stunden. Dem Ergebnis des Gutachtens vermochte sich die Beklagte nicht anzuschließen.

Mit Schreiben vom 07.08.2001 äußerte das Gericht gegenüber den Beteiligten seine Auffassung und verwies dabei insbesondere auf das Urteil des BSG vom 22.03.2001 - B 12 P 3/00 R -. Es schlug eine vergleichsweise Beendigung des Rechtsstreits dahingehend vor, dass sich die Beigeladene verpflichte, die Frage einer Versicherungspflicht der Klägerin aus § 44 SGB XI für die Zeit seit 01.04.1995 zu überprüfen und rechtsbehelfsfähig zu verbescheiden, wobei der mit Vergleich vor dem LSG vom 06.08.1998 geregelte Zeitraum unverändert übernommen werde. Die Beigeladene verwies in ihrer daraufhin abgegebenen Äußerung darauf, die Spitzenverbände der Krankenkasse, des VDR und des Verbandes der privaten Krankenversicherung u.a. hätten sich mit der Frage über die Auswirkungen der Entscheidung des BSG vom 22.03.2001 beschäftigt. Man sei zu dem Ergebnis gekommen, dass der Rentenversicherungsträger nicht in jedem Fall über die Versicherungspflicht von Pflegepersonen zu entscheiden habe, sondern nur dann, wenn Streit über die Versicherungspflicht oder den Umfang der Beitragspflicht bestehe. Dagegen bleibe die Klärung des zeitlichen Umfangs der Pflegetätigkeit weiterhin im Verantwortungsbereich der Pflegekasse. Im weiteren Verlauf äußerte sich die Beigeladene erneut und wies darauf hin, zwischenzeitlich läge eine "Verfahrensbeschreibung zur Feststellung der Rentenversicherungspflicht nicht erwerbsmäßig tätiger Pflegepersonen" vor. Da es hier jedoch nicht ausschließlich um die Frage der Versicherungspflicht der Klägerin gehe, sondern u.a. auch darum, welche Pflegeleistungen im Rahmen des § 44 SGB XI berücksichtigen seien, könne der angeregte Vergleich nicht geschlossen werden. Die Klägerin trägt dazu vor, nachdem von Seiten der Beigeladenen offensichtlich keine Vergleichsbereitschaft bestehe, könnte die seit der BSG-Entscheidung vom 22.03.2001 in der Sache liegende Problematik auch dadurch gelöst werden, dass eine Entscheidung über den Hilfsantrag zu II aus der Klageschrift vom 30.10.1996 entschieden werde.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 23.07.1997 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird im Übrigen auf den Inhalt der Verwaltungsunterlagen der Beklagten, der Verfahrensakte der erledigten Klage S 6 Kr 52/95 sowie der Verfahrensakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 151 SGG), ein Ausschließungsgrund (§ 144 Abs.1 SGG) liegt nicht vor. In der Sache erweist sich das Rechtsmittel als zum Teil begründet.

Zu Unrecht hat das Sozialgericht in seinem Urteil vom 23.07. 1997 die Beklagte verurteilt, der Klägerin Leistungen aus § 44 SGB XI zu gewähren. Denn die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch im Sinne eines eigenen subjektiven Rechts auf Entrichtung der auf ihre Pflegetätigkeit entfallenden Beiträge. Soweit das Ersturteil dem Klagebegehren in diesem Punkt entsprochen hat, ist es insoweit abzuändern, als festgestellt wird, dass die Klägerin über den 31.12.1995 hinaus in der gesetzlichen Rentenversicherung pflichtversichert ist.

Die Klägerin hat insbesondere ein Feststellungsinteresse daran, dass in ihrem Fall die Voraussetzungen für das Erbringen von Beiträgen zur gesetzlichen Sozialversicherung im Sinne der von §§ 44 SGB XI, 3 SGB VI geregelten Mindestvoraussetzungen gegeben sind. Nach der Entscheidung des BSG vom 22.03.2001 - B 12 P 3/00 R - ist in jedem Fall bis zum 31.12.2000 der Rentenversicherungsträger und nicht die Pflegekasse für die Feststellung der Versicherungs- und Beitragspflicht einer Pflegeperson im Rahmen des SGB XI zuständig. Entsprechend der Rechtsprechung des BSG im Bereich von Streitigkeiten über die Krankenversicherungspflicht der Rehabilitanten (BSGE 45, 296, 299 = SozR 2200 § 381 Nr.26, S.66) und der Arbeitslosen (BSG SozR 3-4100 § 155 Nr.4) gelten die Grundsätze dieser Entscheidungen auch für die Rentenversicherung. Somit hat auch der Rentenversicherungsträger, vorbehaltlich abweichender Regelungen, über die Versicherungspflicht, die Beitragspflicht und die Beitragshöhe selbst zu entscheiden.

Zwischenzeitlich liegt zwar eine "Verfahrensbeschreibung zur Feststellung der Rentenversicherungspflicht nicht erwerbsmäßig tätiger Pflegepersonen" des Verbandes Deutscher Versicherungsträger mit den Spitzenverbänden der Krankenkassen und dem Verband der privaten Krankenversicherung e.V. vor, wonach der Rentenversicherungsträger nicht in jedem Fall über die Versicherungspflicht von Pflegepersonen zu entscheiden hat. Der Rentenversicherungsträger soll danach nur dann zu entscheiden haben, wenn Streit über die Versicherungspflicht oder den Umfang der Beitragspflicht besteht, wohingegen es weiterhin im Verantwortungsbereich der Berufungsklägerin liegt, über den zeitlichen Umfang der Pflegetätigkeit zu entscheiden. Nachdem hier aber aufgrund des eingeholten Gutachtens von Dr.Z. der sachliche Teil der Anspruchsvoraussetzungen ausreichend geklärt ist, ist auch unter Zugrundelegung der so genannten "Verfahrensbeschreibung" die Zuständigkeit der Beigeladenen gegeben.

Nach Auffassung des Senats erfüllt die Klägerin die Voraussetzungen des Begriffs der Pflegeperson im Sinne des § 19 SGB XI, denn darunter sind Personen zu verstehen, die nicht erwerbsmäßig einen Pflegebedürftigen im Sinne des § 14 SGB XI wenigstens 14 Stunden wöchentlich in seiner häuslichen Umgebung pflegen. Diesen Umfang erreicht die Pflegetätigkeit der Klägerin bei ihrem Sohn. Insoweit folgert der Senat dies aus dem bereits zitierten Gutachten von Dr.Z. vom 11.08.1999, der zu dem Ergebnis kam, dass die Klägerin ihren Sohn täglich mindestens zwei Stunden und somit pro Woche mindestens 14 Stunden pflegt. Der Sachverständige hat sich in seinem Gutachten auch ausschließlich an dem Verrichtungskatalog des § 14 SGB XI orientiert, so dass hier die Frage, welche Pflegeleistungen im Rahmen des § 44 SGB XI berücksichtigt werden können, d.h. ob jegliche pflegerische Betreuung oder nur eine solche, die im Rahmen des Verrichtungskatalogs des § 14 SGB XI berücksichtigt werden könnte, dahinstehen kann. Den Einwendungen der Beklagten gegen das Gutachtensergebnis vermochte der Senat insoweit nicht zu folgen, da das Gutachten auch unter Berücksichtigung der Pflegeprotokolle, wobei die darin enthaltenen Angaben vom Sachverständigen eher als zu knapp beurteilt wurden und auch hinsichtlich des vom Sachverständigen eingeschätzten Hilfebedarfs für ein gesundes gleichaltriges Kind, nicht zu beanstanden ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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