L 19 RJ 146/01

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
19
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 10 RJ 393/00
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 19 RJ 146/01
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 13.02.2001 und der Bescheid der Beklagten vom 22.11.1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.04.2000 abgeändert. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger ab 01.11.2000 Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren.
II. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
III. Die Beklagte hat dem Kläger die Hälfte der außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger Rentenleistungen wegen Berufsunfähigkeit (BU) zustehen.

Der am 1953 geborene Kläger hat von 1969 bis 1972 den Beruf eines Maschinenschlossers erlernt und anschließend als Fahrer, Kranfahrer und zuletzt von 1989 bis 29.02.1996 als Monteur für Pumpen (Reparatur und Wartung an klärtechnischen Einrichtungen) versicherungspflichtig gearbeitet. Entlohnt wurde er nach Gruppe 5 des Tarifvertrages für das Sanitär-/Installateurhandwerk in Bayern. In der Folgezeit war er arbeitslos und arbeitsunfähig.

Beim Kläger wurde im Mai 1993 eine Totalendoprothese am rechten und im Juni 1995 am linken Hüfgelenk implantiert. Nachdem sein Rentenantrag vom 31.01.1996 mit bindendem Bescheid vom 12.03.1996 abgelehnt worden war (das anschließende Klageverfahren S 17 Ar 828/96 endete durch Klagerücknahme), beantragte der Kläger am 05.10.1999 erneut Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Der Chirurg Dr.P. vom Ärztlichen Dienst der Beklagten gelangte im Gutachten vom 26.10./08.11.1999 ebenso wie der Internist Dr.M. im Gutachten vom 09.11.1999 zu der Beurteilung, dem Kläger seien vollschichtig leichte, zeitweise mittelschwere Arbeiten, jeweils im Wechselrhythmus zumutbar. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 22.11.1999 und Widerspruchsbescheid vom 17.04.2000 Rentenleistungen ab und verwies den Kläger auf ihm zumutbare andere Tätigkeiten.

Das Sozialgericht Nürnberg (SG) hat zunächst Befundberichte des Orthopäden Dr.S. und des Allgemeinmediziners Dr.S. sowie die Schwerbehindertenakten des AVF Nürnberg (GdB 50, Merkzeichen G) zum Verfahren beigezogen. Der Orthopäde Prof.Dr.L. hat das Gutachten vom 06.12.2000 erstattet. Er hat die Auffassung vertreten, der Kläger könne nur noch leichte Arbeiten in Vollschicht verrichten. Er sollte befreit sein von Arbeiten in ständiger Inklination (Vorneigung) der Rumpfwirbelsäule, von Arbeiten in Überstreckstellung der Halswirbelsäule und von Arbeiten mit den Armen über der Horizontalen. Die Arbeiten könnten im Wechselrhythmus verrichtet werden, vornehmlich aber im Sitzen. Nicht zumutbar seien Arbeiten in Feuchtigkeit und Nässe sowie auf Leitern und Gerüsten. Auch der anlässlich des Termins vom 13.02.2001 gehörte Sachverständige Dr.G. hat leichte bis gelegentlich mittelschwere Arbeiten vorzugsweise im Wechselrhythmus für zumutbar gehalten. Eine Besserung im Gesundheitszustand des Klägers sei nicht absehbar.

Mit Urteil vom 13.02.2001 hat das SG die Klage abgewiesen. In Anlehnung an eine in einem anderen Verfahren eingeholte berufskundliche Auskunft des LAA Bayern vom 19.06.1998 hat es den Kläger als Facharbeiter auf die Tätigkeit eines Telefonisten verwiesen, die diesem subjektiv und objektiv zumutbar sei.

Mit der hiergegen eingelegten Berufung macht der Kläger geltend, er könne auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht mehr leichte Tätigkeiten vollschichtig verrichten. Die Rumpfbeschwerden sowie weitere orthopädische Gesundheitsstörungen machten es unmöglich, ohne Schmerzen längere Zeit zu stehen, zu sitzen oder zu gehen. Er sei auch nicht zumutbar auf die Tätigkeit eines Telfonisten verweisbar. Daran hindere ihn seine beidseitige Schwerhörigkeit. Er benötige ein Hörgerät, welches das Anlegen von Kopfhörern nicht ermögliche. Aus diesem Grund müsse wenigstens Rente wegen BU gewährt werden.

Der Kläger beantragt nur noch,

das Urteil des SG Nürnberg vom 13.02.2001 sowie den Bescheid der Beklagten vom 22.11.1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.04.2000 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ab dem frühestmöglichen Zeitpunkt die gesetzlichen Leistungen wegen BU zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, der Kläger sei zumutbar auf die Tätigkeiten eines Telefonisten, Qualitätskontrolleurs, Endproduktprüfers sowie eines Angebots- bzw Auftragssachbearbeiters in der Metallindustrie verweisbar.

Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf den Inhalt der Gerichtsakten beider Rechtszüge, die frühere Klageakte des SG (S 17 Ar 828/96) und die Unterlagen der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist nach § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft; sie ist form- und fristgerecht eingelegt (§ 151 SGG) und auch im Übrigen zulässig.

Die Berufung des Klägers ist auch im Sinne des zuletzt gestellten Antrags begründet. Denn der Kläger ist berufsunfähig im Sinne des Gesetzes. Nach § 43 Abs 1 aF Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) haben Versicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen BU, wenn sie 1. berufsunfähig sind, 2. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der BU drei Jahre Pflichtbeiträge geleistet und 3. vor Eintritt der BU die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.

Sämtliche Anspruchsvoraussetzungen werden vom Kläger erfüllt. Nach dem aktenkundigen Versicherungsverlauf sind sowohl die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren (§ 50 Abs 1 Nr 2 SGB VI) als auch die erforderliche Beitragsdichte (§ 43 Abs 1 Nr 2 SGB VI) und damit die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente wegen BU gegeben.

Beim Kläger liegt auch BU im Sinne des Gesetzes vor. Nach § 43 Abs 2 aF SGB VI ist berufsunfähig ein Versicherter, dessen Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten gesunken ist. Nach den überzeugenden Ausführungen des vom SG gehörten Orthopäden Prof.Dr.L. im Gutachten vom 06.12.2000 kann der Kläger im Hinblick auf die bei ihm bestehenden Gesundheitsstörungen nur noch leichte körperliche Tätigkeiten vollschichtig verrichten, wenn die vom ärztlichen Sachverständigen beschriebenen Funktionseinschränkungen beachtet werden. Solche leichte Arbeiten kann der Kläger nur noch im Wechselrhytmus verrichten, überwiegend im Sitzen. In Anbetracht dieses Leistungsvermögens ist davon auszugehen, dass der Kläger aus gesundheitlichen Gründen gehindert ist, seinem zuletzt versicherungspflichtig ausgeübten Beruf als Monteur für Pumpen weiter nachzugehen. Darüber besteht zwischen den Beteiligten auch kein Streit.

Der Umstand, dass ein Versicherter seinen zuletzt ausgeübten Beruf nicht mehr verrichten kann, zieht aber nicht ohne weiteres die Annahme des Leistungsfalles der BU nach sich. Vielmehr ist nun anhand der Kriterien des § 43 Abs 2 SGB VI zu ermitteln, ob der Versicherte noch zumutbar auf andere Tätigkeiten verwiesen werden kann. Dabei umfasst der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit zu beurteilen ist, alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seinen bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können (§ 43 Abs 2 Satz 2 aF SGB VI).

Vorliegend ist davon auszugehen - darüber besteht zwischen den Beteiligten auch kein Streit -, dass der Kläger Berufsschutz als Facharbeiter im Sinne des vom BSG entwickelten Mehrstufenschemas genießt. Als Facharbeiter mit einem anerkannten Ausbildungsberuf sind ihm nach § 43 Abs 2 aF SGB VI nicht nur Tätigkeiten aus seinem bisherigen, für die Anerkennung des Berufsschutzes maßgebenden Qualifikationsbereich, sondern auch solche der nächstniedrigeren Gruppe (des Mehrstufenschemas) zumutbar, soweit er dadurch weder in seinem beruflichen Können und Wissen noch bezüglich seiner gesundheitlichen Kräfte überfordert wird (BSG SozR 2200 § 1246 Nr 137). Nach der Rechtsprechung des BSG (SozR 2200 § 1246 Nr 147) muss es sich bei den der Gruppe "Sonstige Ausbildungsberufe" entnommenen Verweisungstätigkeiten um solche handeln, die der Betroffene nach einer Anlernzeit von höchstens drei Monaten wettbewerbsfähig ausüben kann, die aber objektiv für einen ungelernten Arbeiter eine mindestens drei Monate umfassende (betriebliche oder überbetriebliche) Ausbildung erfordern.

Im Hinblick auf die beim Kläger vorliegenden Gesundheitsstörungen und deren Auswirkungen auf seine Einsetzbarkeit ist der Senat zu der Überzeugung gelangt, dass der Kläger zur Zeit nicht zumutbar auf andere qualifizierte Anlerntätigkeiten verwiesen werden kann.

Dies gilt schon für die Tätigkeit eines Telefonisten, auf die das SG den Kläger im angefochtenen Urteil verwiesen hat. Insoweit bezieht sich der Senat auf sein Urteil vom 13.10.1999 (L 19 RJ 44/99). Zwar ist die Tätigkeit eines Telefonisten durchaus in verschiedenen Tarifverträgen als Anlerntätigkeit ausgewiesen und wird entsprechend entlohnt. Als zumutbare Verweisungstätigkeit kommt sie aber nur dann infrage, wenn bereits die Eingangsgruppe die eines qualifizierten Angelernten darstellt. Wie ein Vergleich zB der Vergütungsgruppen VIII bis X des Tarifvertrages der kommunalen Arbeitgeberverbände (Anlage 1 a zum BAT - VKA -) ergibt, erfordern aber Angestelltentätigkeiten in Büro und Registratur regelmäßig eine über drei Monate hinausgehende Anlernzeit. Lediglich die in der Vergütungsgruppe IX und X beschriebenen Tätigkeiten könnten vom Kläger innerhalb der Dreimonatsfrist erlernt werden. Die Tätigkeit im Telefondienst kommt zwar nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 12.09.1991 SozR 3-2200 § 1246 Nr 17) für einen Facharbeiter grundsätzlich als zumutbare Verweisungstätigkeit in Betracht. Dies gilt aber nur, wenn der Telefonist innerhalb eines Zeitraums von drei Monaten nach der Vergütungsgruppe VIII des oben genannten Tarifvertrages entlohnt wird. Eingangsgruppe für den Telefonisten ist aber die Vergütungsgruppe IX, deren allgemeine Qualifikationsanforderungen keine tarifliche Umschreibung einer als "sonstiger Ausbildungsberuf" im Sinne des Mehrstufenschemas zu bewertenden Anlerntätigkeit enthält, so dass sie einer Anlerntätigkeit nicht gleichgestellt und dem Kläger als Facharbeiter nicht zugemutet werden kann. Die Tätigkeit eines Telefonisten ist dem Kläger somit nicht zumutbar.

Auf Prüf- und Kontrolltätigkeiten in der metallverarbeitenden Industrie kann der Kläger nicht zumutbar verwiesen werden. Unabhängig davon, ob der Kläger medizinisch gesehen für solche Tätigkeiten überhaupt geeignet ist, ist nach dem Ergebnis zahlreicher berufskundlicher Auskünfte des LAA Bayern Außenstehenden der Zugang zu solchen Tätigkeiten verwehrt. Denn Prüftätigkeiten auf einer einem Facharbeiter zumutbaren Qualifikationsstufe, die außerdem die Rücksichtnahme auf verschiedene Leistungsminderungen zulassen, sind erfahrungsgemäß Außenstehenden - zumal mit den Vorkenntnissen und dem beruflichen Werdegang eines Arbeitnehmers wie dem Versicherten - nicht zugänglich; sie werden in der Regel innerbetrieblich mit langjährigen, oft unkündbaren, bewährten, mit den Produkten und Produktionsverfahren vertrauten leistungsgeminderten Mitarbeitern besetzt.

Der Kläger kann auch nicht zumutbar auf die Tätigkeit eines Angebots- und Auftragssachbearbeiters verwiesen werden. Dabei ist zunächst davon auszugehen, dass der Kläger sein gesamtes versicherungspflichtiges Erwerbsleben als Handwerker verbracht hat. Für solche Tätigkeiten, die Aufgaben in der Projektbearbeitung, Planung, Auftragsbearbeitung, Kalkulation und in der Materialdisposition umfassen, fehlen dem Kläger die erforderlichen Kenntnisse. Für derartige Tätigkeiten ist üblicherweise mindestens eine kaufmännische oder technische Ausbildung, zum Teil sogar eine höhere Qualifikation oder Zusatzqualifikation Voraussetzung. Diese hat in der Regel nicht einmal ein Handwerksmeister. Außerdem sind heutzutage für diesen Aufgabenbereich EDV-Kenntnisse erforderlich. Der Kläger verfügt jedoch nicht über kaufmännische und auch nicht über Produktkenntnisse, so dass eine Einarbeitungszeit von bis zu drei Monaten sicherlich nicht genügt.

Dem Kläger sind daher gegenwärtig die von der Beklagten genannten Verweisungstätigkeiten nicht zumutbar. Weitere dem Kläger subjektiv und objektiv zumutbare Verweisungstätigkeiten sind nicht ersichtlich. Damit liegen die Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente wegen BU vor. Den Leistungsfall der BU hat der Senat in Übereinstimmung mit den Ausführungen des vom SG gehörten ärztlichen Sachverständigen Prof.Dr.L. im Oktober 2000 (mit dem Tag der ambulanten Untersuchung) angenommen. Denn Prof.Dr.L. hat im Vergleich zu den Ermittlungen der Beklagten (Gutachten Dr.P. und Dr.M. vom 08. bzw 09.11.1999) zum ersten Mal herausgestellt, dass schon aus rein orthopädischer Sicht dem Kläger nur noch leichte Tätigkeiten zumutbar sind, während der Ärztliche Dienst der Beklagten noch mittelschwere Tätigkeiten zeitweise für zumutbar gehalten hat. Daraus folgt zur Überzeugung des Senats, dass der Kläger in der Zeit vor der Untersuchung durch Prof.Dr.L. zumindest noch teilweise mittelschwere Tätigkeiten verrichten konnte und deshalb in seiner Erwerbsfähigkeit und damit auch in der Verweisbarkeit noch weniger eingeschränkt war.

Das angefochtene Urteil des SG Nürnberg vom 13.02.2001 und die diesem zugrunde liegenden Entscheidungen der Beklagten waren daher abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Leistungen wegen BU ab 01.11.2000 zu gewähren. Im Übrigen war die Berufung zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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