L 5 AS 2097/11 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
5
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 162 AS 26079/11 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 5 AS 2097/11 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
§ 15 Abs. 1 Satz 6 SGB II stellt keine Rechtsgrundlage dafür dar, eine bereits abgeschlossene und weiterhin geltende Eingliederungsvereinbarung durch einen Verwaltungsakt zu ergänzen, zu ändern oder zu ersetzen.
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 13. Oktober 2010 aufgehoben und die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 6. September 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Oktober 2011 angeordnet. Die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers werden in beiden Rechtszügen vom Antragsgegner erstattet.

Gründe:

Die am 18. November 2011 eingegangene Beschwerde des Antragstellers gegen den ihm am 19. Oktober 2011 zugestellten Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 13. Oktober 2011, mit dem sein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 6. September 2011 abgelehnt worden ist, hat Erfolg. Mit dem angefochtenen Bescheid hat der Antragsgegner die Regelungen einer Eingliederungsvereinbarung für die Zeit vom 6. September 2011 bis zum 15. Januar 2012 durch einen Verwal-tungsakt getroffen, obwohl die Beteiligten am 27. Mai 2011 für die Zeit bis zum 15. Januar 2012 bereits eine Eingliederungsvereinbarung geschlossen hatten.

Die zulässige Beschwerde ist begründet. Nachdem zwischenzeitlich ein zurückweisender Widerspruchsbescheid vom 20. Oktober 2011 erlassen worden ist, gegen den der Antragsteller bei dem Sozialgericht unter dem Aktenzeichen S 191 AS 31115/11 Klage erhoben hat, ist dessen Begehren dahingehend zu verstehen, dass die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage angeordnet werden soll. Das so verstandene Aussetzungsinteresse des Antragstellers überwiegt gegenüber dem Vollziehungsinteresse des Antragsgegners (§ 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 des Sozi-algerichtsgesetzes [SGG]). Der Bescheid vom 6. September 2011 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 20. Oktober 2011 erweist sich nach vorläufiger Prüfung als rechtswidrig.

Der Antragsgegner kann den angefochtenen Bescheid nicht auf den als Rechtsgrundlage ausschließlich in Betracht kommenden § 15 Abs. 1 Satz 6 des Zweiten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB II) stützen. Danach sollen die in einer Eingliederungsvereinbarung zu treffenden Regelungen durch Verwaltungsakt erfolgen, wenn eine Eingliederungsvereinbarung nicht zustande kommt. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist das Nichtzustandekom-men einer Eingliederungsvereinbarung zwar keine Voraussetzung für einen ersetzenden Verwaltungsakt. Vielmehr steht dem Grundsicherungsträger diese Alternative schon dann zu, wenn sie ihm als der besser geeignete Weg erscheint (Bundessozialgericht, Urteil vom 22. Sep-tember 2009, B 4 AS 13/09 R). Das bedeutet jedoch nicht, dass die Behörde eine bereits abge-schlossene und weiterhin geltende Eingliederungsvereinbarung durch einen Verwaltungsakt ergänzen, ändern oder ersetzen darf, wenn sie dies für erforderlich hält. Bereits aus dem Wort-laut der Vorschrift wird deutlich, dass sie nur anwendbar ist, wenn keine Eingliederungsver-einbarung besteht. Das ergibt sich auch aus der Gesetzesbegründung. Danach konkretisiert die Eingliederungsvereinbarung das Sozialrechtsverhältnis zwischen dem Erwerbsfähigen und der Agentur für Arbeit. Sie enthält verbindliche Aussagen zum Fördern und Fordern des Erwerbsfähigen, insbesondere zu den abgesprochenen Leistungen zur Eingliederung in Arbeit und den Mindestanforderungen an die eigenen Bemühungen um berufliche Eingliederung nach Art und Umfang. Die Eingliederungsvereinbarung soll für sechs Monate gelten. Gelingt die Eingliederung in diesem Zeitraum nicht, ist eine neue Vereinbarung zu schließen, dabei sind die gewonnenen Erfahrungen zu berücksichtigen. Durch die Befristung sollen eine intensive Betreuung und eine zeitnahe kritische Überprüfung der Eignung der für die berufliche Eingliederung eingesetzten Mittel sichergestellt werden. Kommt eine Eingliederungsvereinbarung nicht zustande, können die vorgesehenen Festlegungen auch durch einen Verwaltungsakt getroffen werden (BT-Drucksache 15/1516, S. 54). Der Gesetzgeber ist also davon ausgegangen, dass eine einmal abgeschlossene Eingliederungsvereinbarung grundsätzlich bis zum Ablauf der Befristung gilt. Da es sich zudem bei einer Eingliederungsvereinbarung um einen öffentlich-rechtlichen Vertrag im Sinne des § 53 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) handelt (Sächsisches Landessozialgericht, Urteil vom 26. Mai 2011, L 3 AL 120/09; Urteil vom 19. Juni 2008, L 3 AS 39/07; Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 19. Juli 2007, L 7 AS 689/07; Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 17. März 2006, L 7 AS 118/05; Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 17. Oktober 2008, L 7 AS 251/08 B ER, L 7 AS 252/08 B ER, L 7 AS 253/08 B ER; Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 21. Oktober 2009, L 12 AS 12/09), unterliegt sie gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II den Vorga-ben der §§ 53 bis 62 SGB X. Die gesetzlichen Regelungen für eine nachträgliche Vertragsan-passung und eine Kündigung ergeben sich aus § 59 SGB X. Haben sich danach die Verhältnisse, die für die Festsetzung des Vertragsinhalts maßgebend gewesen sind, seit Abschluss des Vertrages so wesentlich geändert, dass einer Vertragspartei das Festhalten an der ursprüngli-chen vertraglichen Regelung nicht zuzumuten ist, so kann diese Vertragspartei eine Anpassung des Vertragsinhalts an die geänderten Verhältnisse verlangen oder, sofern eine Anpassung nicht möglich oder einer Vertragspartei nicht zuzumuten ist, den Vertrag schriftlich kündigen.

Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte durfte der Antragsgegner keinen Verwaltungsakt nach § 15 Abs. 1 Satz 6 SGB II erlassen. Die Eingliederungsvereinbarung vom 27. Mai 2011 ist weiterhin wirksam. Sie ist weder durch den Antragsteller noch durch den Antragsgegner nachträglich beseitigt worden. Soweit der Antragsteller mit Schreiben vom 17. Juni 2011 seine Unterschrift für ungültig erklärt hat, weil er mit dem vereinbarten Vertragsinhalt
teilweise nicht einverstanden war und sich bei der Unterzeichnung zur Eile gedrängt fühlte, hat er keinen zur Anfechtung berechtigenden Irrtum im Sinne des § 58 Abs. 1 SGB X in Verbindung mit den § 119 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) geltend gemacht. Auch auf ein vertragli-ches oder gesetzliches Kündigungsrecht konnte sich der Antragsteller hierbei nicht stützen. Von der gesetzlichen Regelung des § 59 SGB X sind die Beteiligten in der Eingliederungsvereinbarung insoweit abgewichen, als dort lediglich eine Abänderung derselben für den Fall vereinbart worden ist, dass aufgrund von wesentlichen Änderungen in den persönlichen Verhältnissen des Erinnerungsführers eine Anpassung der vereinbarten Maßnahmen und Pflichten erforderlich ist, wobei dasselbe gilt, wenn sich herausstellt, dass das Ziel der Integration in den Arbeitsmarkt nur aufgrund von Anpassungen und Änderungen der Vereinbarung erreicht oder beschleunigt werden kann. Ob die Beteiligten damit ein Kündigungsrecht ausgeschlossen ha-ben, kann offen bleiben. Jedenfalls hat der Antragsteller keinerlei Änderungen geltend ge-macht. Ebensowenig ist die Eingliederungsvereinbarung vom 27. Mai 2011 durch den
Antragsgegner gekündigt worden. Es fehlt bereits an einer schriftlichen Kündigung (§ 59 Abs. 2 Satz 1 SGB X). Eine solche ist auch in dem Bescheid vom 6. September 2011 nicht enthalten.

Die Kostenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss kann gemäß § 177 SGG nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden.
Rechtskraft
Aus
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