Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
7
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 71 KA 54/02 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 7 B 12/03 KA ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 10. Januar 2003 wird zurückgewiesen. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst tragen. Der Wert des Verfahrensgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 19.959,33 Euro festgesetzt.
Gründe:
Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die Festsetzung einer Schadensersatzverpflichtung wegen der Überschreitung der Richtgrößen für die von ihm 1998 verordneten Arznei- und Heilmittel.
Der Prüfungsausschuss bei der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin setzte mit Beschluss vom 3. April 2001 gegen den Antragsteller, einen zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassenen Arzt für Innere Medizin, auf Grund der Überprüfung der Wirtschaftlichkeit der Verordnung von Arznei- und Heilmitteln wegen der Überschreitung der Richtgrößen 1998 eine Schadensersatzverpflichtung in Höhe von 130.256,69 DM (= 66.599,19 Euro) fest. Auf die vom Antragsteller und der Beigeladenen zu 1) erhobenen Widersprüche reduzierte der Antragsgegner mit Beschluss vom 3. Dezember 2001 die Schadensersatzverpflichtung auf 59.878,00 Euro. Diesen Beschlüssen legten die Prüfungsgremien die am 20. April 1998 abgeschlossene und im KV-Blatt 7/98 (S. A160) veröffentlichte Vereinbarung zwischen der Beigeladenen zu 1) einerseits und den Beigeladenen zu 2) bis 6) sowie der Bundesknappschaft andererseits über die Festsetzung von Richtgrößen und Prüfung der Wirtschaftlichkeit bei Überschreitung der Richtgrößen (Richtgrößen-Vereinbarung) für das Jahr 1998 sowie die zwischen den Beigeladenen vereinbarten und im KV-Blatt 9/99 (S. A236) veröffentlichten Prüfkriterien für die Wirtschaftlichkeitsprüfung der Verordnungsweise bei Richtgrößenüberschreitungen (Prüfvereinbarung) zu Grunde.
Gegen die Festsetzung der Schadensersatzverpflichtung hat der Antragsteller beim Sozialgericht Berlin Klage erhoben und um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht. Das Sozialgericht hat mit Beschluss vom 10. Januar 2003 die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 3. Dezember 2001 im Wesentlichen mit der Begründung angeordnet, dass die der Berechnung der Schadensersatzverpflichtung zu Grunde gelegten Bruttoverordnungskosten nicht in voller Höhe durch Originalverordnungen bzw. Images belegt werden könnten. Die exakte Feststellung, in welcher Höhe die Ärzte Kosten für Arznei- und Heilmittel veranlasst hätten, sei jedoch für die Wirtschaftlichkeitsprüfung bei Überschreitung der Richtgrößen unerlässlich, so dass nicht von der Rechtmäßigkeit der gegen den Antragsteller festgesetzten Schadensersatzverpflichtung ausgegangen werden könne.
Gegen den ihm am 24.Januar 2003 zugestellten Beschluss hat der Antragsgegner am 3. Februar 2003 Beschwerde eingelegt.
Die gemäß §§ 172 Abs.1, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde ist unbegründet. Das Sozialgericht hat die gemäß § 106 Abs. 5a S.3 Sozialgesetzbuch/Fünftes Buch (SGB V) in der hier maßgeblichen Fassung des Zweiten Gesetzes zur Neuordnung von Selbstverwaltung und Eigenverantwortung in der gesetzlichen Krankenversicherung (2.GKV-Neuordnungsgesetz, 2. GKV-NOG) vom 23.6.1997 (BGBl. I S.1520) - SGB V a.F.- ausgeschlossene aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Entscheidung des Antragsgegners nach § 86b Abs.1 S.1 Nr.2 SGG zu Recht angeordnet. Denn das Aussetzungsinteresse des Antragstellers überwiegt das Interesse des Antragsgegners und der Beigeladenen zu 2) bis 6) an der sofortigen Vollziehung, weil sich der angegriffene Beschluss des Antragsgegners bei der im vorliegenden Verfahren nur möglichen summarischen Prüfung als rechtswidrig erweist.
Nach § 106 Abs.1 SGB V a.F. überwachten die Krankenkassen und die Kassenärztlichen Vereinigungen die Wirtschaftlichkeit der vertragsärztlichen Versorgung. Die Wirtschaftlichkeit der Versorgung wurde u.a. geprüft durch die arztbezogene Prüfung ärztlich verordneter Leistungen bei Überschreiten der Richtgrößen nach § 84 SGB V a.F. (§ 106 Abs.2 S.1 Nr.1 SGB V a.F.). Für die Wirtschaftlichkeitsprüfung nach § 106 SGB V a.F. hatten die Beigeladenen gemäß § 84 Abs. 3 S.1 SGB V a.F. einheitliche arztgruppenspezifische Richtgrößen für das Volumen der je Arzt verordneten Leistungen, insbesondere von Arznei-, Verband- und Heilmitteln getrennt zu vereinbaren. Diese Vereinbarungen lösten das Budget nach § 84 Abs.1 SGB V a.F. ab. Danach vereinbarten die Beigeladenen ein Budget als Obergrenze für die insgesamt von den Vertragsärzten veranlassten Ausgaben für Arznei-, Verband- und Heilmittel. Das Budget war für das jeweils folgende Kalenderjahr, erstmals für das Jahr 1994, auf der Grundlage des nach Art. 27 des Gesundheitsstrukturgesetzes für das Jahr 1993 festgelegten Budgets zu vereinbaren. Nach § 106 Abs.3 SGB V a.F. vereinbarten die Beigeladenen die Verfahren zur Prüfung der Wirtschaftlichkeit nach Abs.2 gemeinsam und einheitlich. Die Vereinbarung für die Prüfung bei Überschreitung der Richtgrößen nach § 84 a.F. SGB V hatte einen Vomhundertsatz der Überschreitung vorzusehen, ab dem Prüfungen ohne Antragstellung durchgeführt wurden, sowie einen Vomhundertsatz der Überschreitung, ab dem der Vertragsarzt den sich daraus ergebenden Mehraufwand zu erstatten hatte, soweit dieser nicht durch Praxisbesonderheiten begründet war. Die Beigeladenen hatten auch das Verfahren für die Fälle zu regeln, in denen die Krankenkassen den Versicherten nach § 64 SGB V Kosten erstattete. Nach § 106 Abs. 5a S.1 SGB V a.F. wurden bei einer Überschreitung der Richtgrößen nach § 84 Abs. 3 SGB V a. F. um mehr als 15 v. H. Prüfungen nach Abs. 2 S. 1 Nr.1 a.F. ohne Antragstellung durchgeführt; bei einer Überschreitung um mehr als 25 v.H. hatte der Vertragsarzt den sich daraus ergebenden Mehraufwand zu erstatten, soweit dieser nicht durch Praxisbesonderheiten begründet war.
Die angegriffene Schadensersatzpflicht ist mit diesen Bestimmungen nicht zu vereinbaren; denn die Prüfung der Verordnungsweise des Antragstellers auf der Grundlage der Richtgrößen-Vereinbarung 1998 und der Prüfvereinbarung 1999 ist rechtswidrig. Die genannten Vereinbarungen sind öffentlich-rechtliche Verträge mit Rechtsnormcharakter, so genannte Normsetzungsverträge (vgl. Engelhard in Hauck, SGB V, Gesetzliche Krankenversicherung, Kommentar, Bd.2 § 84 Rdnr.158 m.w.N.) im Rang untergesetzlichen Landesrechts (vgl. BSG, Urteil vom 27.Juni 2001-B 6 KA 66/00 R SozR 3- 2500 § 106 SGB V Nr. 53 S.289 f.), weil sie gegenüber am Vertragsschluss nicht beteiligten Dritten -Ärzten (vgl. § 95 Abs.3 S.2 SGB V) und Krankenkassen- unmittelbare rechtliche Außenwirkung entfalten (vgl. BSGE 71,42. 45ff ; 78,191,196). Sie verstoßen gegen höherrangiges Recht und sind deshalb nichtig.
Die Richtgrößen-Vereinbarung 1998 ist nach summarischer Prüfung schon von der gesetzlichen Ermächtigung in § 84 Abs.3 SGB V a.F. nicht gedeckt, weil sie nicht vor Beginn des Jahres 1998 vereinbart ( und veröffentlicht) worden ist, sondern erst im Juli 1998. Zwar schreibt § 84 Abs. 3 SGB V in der hier maßgeblichen Fassung des 2.GKV-NOG nicht mehr ausdrücklich vor, dass Richtgrößen-Vereinbarungen „für das jeweils folgende Kalenderjahr“ vereinbart sein mussten, wie dies § 84 Abs.3 S.1 SGB V in der bis zum 31. Dezember 1997 geltenden Fassung des Gesundheitsstrukturgesetzes bestimmte. Schon der Gesetzesbegründung des 2.GKV-NOG lässt sich jedoch entnehmen, dass der Gesetzgeber an der Verpflichtung der Vertragspartner, die Richtgrößen-Vereinbarung vor Beginn des Kalenderjahres abzuschließen (und zu publizieren), für das sie gelten sollte, nichts ändern wollte. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit (14.Ausschuss) vom 19.März 1997 (BT-Drs. 13/7264), der die Änderung des § 84 Abs.3 SGB V in der hier maßgebliche Fassung vorgeschlagen hatte, lassen erkennen, dass der Gesetzgeber die Vertragsparteien durch die Neufassung der Bestimmung lediglich verpflichten wollte, das Budget des § 84 Abs. 1 SGB V durch Richtgrößen abzulösen, diese grundsätzlich getrennt nach Arznei-, Verband- und Heilmitteln, aber kassenübergreifend zu vereinbaren und die Ausrichtung der Richtgrößen an den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Beitragssatzstabilität nach § 71 Abs.1 SGB V sicherzustellen (vgl. BT-Drs. 13/7264 S.104). Außerdem ist die Indikationsbezogenheit der Richtgrößen und die Berücksichtigung der Zahl und der Altersstruktur der Versicherten aufgegeben worden. Auch ohne ausdrückliche Wiederholung des Wortlautes des Satzes 1 des § 84 Abs.3 SGB V in der Fassung des Gesundheitsstrukturgesetzes folgt die Verpflichtung der Vertragsparteien, die Richtgrößen-Vereinbarung für das Jahr 1998 noch im Jahr 1997 zu vereinbaren (und bekannt zu machen), aus der ihr zugedachten Funktion, an die Stelle des Budgets für Arznei-, Verband- und Heilmittel zu treten. Denn für dieses Budget schrieb § 84 Abs. 1 S.2 SGB V in der Fassung des 2.GKV-NOG- unverändert gegenüber der Fassung des Gesundheitsstrukturgesetzes- vor, dass es „für das jeweils folgende Kalenderjahr“ zu vereinbaren war. Das Budget für 1998 musste deshalb bereits 1997 vereinbart (und bekannt gemacht) werden. Dem lag als Gesetzeszweck zu Grunde, dass die Ärzte schon zu Beginn eines Kalenderjahres ihr Verordnungsverhalten dem ihnen bekannten Budget anpassen sollten, so dass das Budget eine leistungssteuernde Funktion hatte. Hiervon unterscheidet sich die Funktion der Richtgrößen nicht; auch sie sollen den Vertragsarzt bei seinen Entscheidungen über die Verordnung von Arznei-, Verband- und Heilmitteln nach dem Wirtschaftlichkeitsgebot leiten (vgl. § 84 Abs.6 S.3 SBG V in der Fassung des Gesetzes zur Ablösung des Arznei- und Heilmittelbudgets (Arzneimittelbudget-Ablösungsgesetz) - ABAG- vom19.12.2001, BGBl. I S. 3773), ihm zur Wirtschaftlichkeit seines Verordnungsverhaltens Informationen und Hinweise geben und ihn vor dem nicht durch Praxisbesonderheiten begründeten Überschreiten der Richtgrößen warnen. Denn der Unterschied zwischen Richtgrößen und Budget liegt nicht in ihrer Funktion, das Ausgabenvolumen im Verordnungsbereich zu steuern und dadurch die Finanzierbarkeit der Gesetzlichen Krankenversicherung zu sichern, sondern in den Konsequenzen der Überschreitung des vereinbarten Verordnungsvolumens. Während für eine Budgetüberschreitung die Mitglieder einer Kassenärztlichen Vereinigung kollektiv mit der ihnen zustehenden Gesamtvergütung haften sollten, führt die Überschreitung der Richtgrößen zu einer Einstandspflicht des einzelnen unwirtschaftlich verordnenden Vertragsarztes im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung. Unterscheiden sich Funktion und Wirkungsweise von Budget und Richtgrößen bei ihrer Überschreitung vor allem durch die Person des Einstandspflichtigen, ist nicht einzusehen, warum das Budget strengeren Erlassvorschriften unterworfen sein soll als die nach dem Willen des Gesetzgebers des 2. GKV-NOG an seine Stelle tretenden Richtgrößen, zumal der Arznei-, Verband- und Heilmittelausgaben veranlassende Vertragsarzt auf die Einhaltungder Richtgrößen einen sehr viel größeren Einfluss hat als auf die Wahrung des Budgets und deshalb um so eher auf eine rechtzeitige Information über die Richtgrößen angewiesen ist. Daraus kann nur folgen, dass an den Zeitpunkt des Zustandekommens (und der Publikation) der Richtgrößen-Vereinbarung dieselben Anforderungen zu stellen sind wie für das Budget für Arznei-, Verband- und Heilmittel, solange die Richtgrößen an die Stelle des Budgets treten sollten. Das bedeutet für den vorliegenden Fall, dass die Richtgrößen-Vereinbarung vor dem Beginn des Jahres 1998, für das sie Geltung beanspruchte, zustande gekommen (vereinbart und veröffentlicht) sein musste, um der Wirtschaftlichkeitsprüfung des Antragstellers nach Richtgrößen zu Grunde gelegt werden zu können.
Darüber hinaus ist die Feststellung der Schadensersatzverpflichtung des Antragstellers wegen der Überschreitung der Richtgrößen auch deswegen rechtswidrig, weil die Richtgrößen-Vereinbarung und die Prüfvereinbarung nach summarischer Prüfung gegen Art. 20 Abs.3 GG verstoßen und deshalb verfassungswidrig sind. Der Antragsgegner durfte diese Regelungen deshalb dem angegriffenen Bescheid nicht zu Grunde legen.
Das Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes setzt der Befugnis des Normgebers, den Eintritt nachteiliger Rechtsfolgen auf einen Zeitraum vor Verkündung der Norm zu erstrecken, enge Grenzen. Auch außerhalb des Anwendungsbereichs des Art. 103 Abs. 2 GG (Rückwirkungsverbot für Strafbestimmungen) ist er nur unter strengen Voraussetzungen berechtigt, Rechtsfolgen für einen vor Verkündung der Norm liegenden Zeitpunkt eintreten zu lassen (BVerfGE 72, 200, 242, 257 – st.Rspr). Dabei ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu unterscheiden zwischen der nur in bestimmten Ausnahmefällen zulässigen echten (retroaktiven) Rückwirkung eines Gesetzes, bei der das Gesetz nachträglich ändernd in abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Sachverhalte eingreift, und der unechten (retrospektiven) Rückwirkung von Rechtsnormen, bei der die Norm auf gegenwärtig noch nicht abgeschlossene Sachverhalte für die Zukunft einwirkt und damit zugleich die betroffene Rechtsposition nachträglich entwertet. Unechte Rückwirkung von Normen ist unter leichteren Voraussetzungen zulässig, nämlich bereits dann, wenn das Vertrauen des Einzelnen auf den Fortbestand einer bestimmten gesetzlichen Regelung im Hinblick auf die Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für das Wohl der Allgemeinheit nicht den Vorrang verdient (vgl. BVerfGE 36, 73, 82; 40, 65, 75f; 75, 246, 280). Belastende Gesetze hingegen, die sich echte Rückwirkung beilegen, sind wegen eines Verstoßes gegen das Gebot der Rechtssicherheit, die für den Einzelnen vor allem Vertrauensschutz bedeutet, grundsätzlich nichtig (vgl. zum Vorstehenden und Folgenden BSG, Urteil vom17. September 1997, - 6 Rka 36/97, SozR 3- 2500 § 87 SGB V Nr.18).
Diese Grundsätze sind im vorliegenden Fall anzuwenden; denn bei der Richtgrößen-Vereinbarung nach § 84 Abs.3 SGB V a.F. und der Prüfvereinbarung nach § 106 Abs.3 SGB V a. F. handelt es sich - wie bereits festgestellt – aus dem Blickwinkel des betroffenen Arztes um Normsetzungsverträge im Rang untergesetzlichen Landesrechts.
Vorliegend ist ein Fall echter Rückwirkung gegeben. Denn die Richtgrößen-Vereinbarung vom 20. April 1998 konnte frühestens im Juli 1998 gegenüber den Normunterworfenen wirksam werden; sie ordnet gemäß § 7 ausdrücklich die Anwendbarkeit der Richtgrößen ab dem 1. Januar 1998 und gemäß § 2 Abs.2 als Prüfungszeitraum das Kalenderjahr 1998 an und misst sich damit teilweise Wirksamkeit für einen Zeitraum vor ihrer Bekanntgabe bei. Bei dieser Sachlage ist es ohne Bedeutung, ob von echter Rückwirkung im Sinne der Rechtsprechung des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts erst dann gesprochen wird, wenn der Beginn des zeitlichen Anwendungsbereichs einer Norm auf einen Zeitpunkt festgelegt wird, der vor ihrem förmlichen In-Kraft-Treten liegt (vgl. BVerfGE 63, 343, 353; 72, 200, 242, 250), oder ob von der weitergehenden Rechtsauffassung ausgegangen wird, wonach echte Rückwirkung bereits gegeben ist, wenn ein Gesetz nachträglich ändernd in abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Tatbestände zum Nachteil der Betroffenen eingreift (vgl. BVerfGE 72, 175, 196 ). Auch bei Zugrundelegung des engeren, auf rein formale Gesichtspunkte abstellenden Rückwirkungsbegriffs sind wegen der Inkraftsetzung der Rechtsnorm für einen vor ihrer Bekanntgabe liegenden Zeitraum die Voraussetzungen einer echten Rückwirkung erfüllt.
Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass in Fällen wie dem vorliegenden von einer echten Rückwirkung erst gesprochen werden könne, wenn der Prüfungszeitraum vor Bekanntgabe der Norm vollständig abgelaufen ist. Es unterliegt keinem Zweifel, dass dann ein Fall der echten Rückwirkung gegeben ist, so dass die Prüfvereinbarung, die erst im amtlichen Teil des KV-Blattes vom September 1999 veröffentlicht wurde, gleichwohl aber nach § 9 Abs.1 die Grundlage der Prüfung der Verordnungsweise ab 1. Januar 1998 darstellen soll, gegen das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot verstößt. Daraus folgt jedoch nicht, dass die noch während des Prüfungszeitraums 1998 im Juli 1998 veröffentlichte Richtgrößen-Vereinbarung nur den weniger strengen Voraussetzungen der unechten Rückwirkung unterworfen wäre. Dabei bliebe unberücksichtigt, dass die Ärzte auf die vor der Publikation der Norm veranlassten Ausgaben für Arznei-, Verband- und Heilmittel keinen Einfluss mehr hatten, aber die Folgen dieser Ausgaben nach Maßgabe der später erlassenen Richtgrößen-Vereinbarung hätten tragen müssen, die Norm deshalb insofern nachträglich ändernd in abgewickelte Sachverhalte eingreift. Den daraus entstehenden Schwierigkeiten kann auch nicht dadurch Rechnung getragen werden, dass die Richtgrößen-Vereinbarung - bis zu ihrem In-Kraft-Treten - an den strengeren Voraussetzungen der echten und für den Zeitraum danach an den weniger strengen der unechten Rückwirkung zu messen wäre, weil die Richtgrößen-Vereinbarung das Kalenderjahr 1998 als einheitlichen, untrennbaren Prüfungszeitraum bestimmt. Deshalb ergibt sich die Notwendigkeit, in wertender Betrachtung zu bestimmen, zu welchem Zeitpunkt die Prüfvereinbarung erlassen sein muss, damit sie nicht in einen im Wesentlichen abgeschlossenen Sachverhalt nachträglich zu Lasten des Antragstellers eingreift, bzw. in welchem Zeitraum - vor oder nach der Veröffentlichung der Norm - der Sanktionsschwerpunkt der Rechtsnorm liegt. Hierbei kann es schon aus Gründen des Gleichheitsgrundsatzes und der Praktikabilität nicht darauf ankommen, wann der Antragsteller den größeren Teil der Kosten für Arznei-, Verband- und Heilmittel veranlasst hat, sondern es ist aus den genannten Gründen erforderlich, für alle der Richtgrößen-Vereinbarung unterworfenen Ärzte einheitlich zu bestimmen, wann von einer retroaktiven Wirkung der Richtgrößen-Vereinbarung auszugehen ist. In der Literatur wird dieser Zeitpunkt spätestens auf den Beginn des zweiten Quartals eines Jahres festgesetzt und zur Begründung auf § 84 Abs. 6 S.1 SGB V in der Fassung des ABAG verwiesen, der eine Vereinbarung bis zum 31. März verlangt (Engelhard, a.a.O., § 84 Rdnrn. 119-121). Denkbar wäre auch, die Grenze zwischen echter und unechter Rückwirkung durch Rückgriff auf Art.17 des Gesetzes zur Stärkung der Solidarität in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz - GKV-SolG-) vom 19.Dezember 1998 ( BGBl. I S. 3853) oder Art. 3a S.1 ABAG zu ziehen, die eine Schiedsamtsfestsetzung bei Nichtzustandekommen einer Richtgrößen-Vereinbarung bis zum 30.Juni bzw. 31. Mai vorsehen. Jedenfalls im Rahmen der summarischen Prüfung sieht der Senat den 30. Juni als den maßgeblichen Zeitpunkt an, an dem eine retrospektive in eine retroaktive Wirkung umschlägt. Denn zu diesem Zeitpunkt muss spätestens damit gerechnet werden, dass eine nicht unbeträchtliche Zahl von Ärzten schon ein Verordnungsvolumen erreicht hat, das eine Einhaltung des Richtgrößenvolumens am Ende des Kalenderjahres ausgeschlossen erscheinen lässt, zumal die Vertragsärzte die Versorgung der Versicherten mit den benötigten Arzneimitteln nicht unter Berufung auf die Ausschöpfung ihres Richtgrößenvolumens verweigern dürfen.
Den verfassungsrechtlichen Bedenken an der Wirksamkeit der Vereinbarungen steht auch nicht entgegen, dass die Beigeladene zu 1) die Berliner Vertragsärzte bereits im März 1998 über die Einigung der Vertragspartner über eine Richtgrößen-Vereinbarung für das Kalenderjahr 1998 durch ein „KV-Telegramm“ informiert hatte. Denn abgesehen davon, dass diese Information keine Einzelheiten über den die Ärzte betreffenden Inhalt der Vereinbarung enthält, kommt es für die Abgrenzung zwischen echter und unechter Rückwirkung auf den Zeitraum der Veröffentlichung einer Norm an. Maßgeblicher Schnittpunkt für die Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Zukunft ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der Tag der Verkündung einer Norm. Erst zu diesem Zeitpunkt wird die Rechtsnorm rechtlich existent (vgl. BVerfGE 63, 343, 353; 72, 200, 241). Für Gesetze und Rechtsverordnungen des Bundes regelt Art. 82 GG das In-Kraft-Treten und die dazu erforderliche Form der Verkündung im Bundesgesetzblatt ausdrücklich. Doch auch die von Art. 82 GG nicht erfassten Normen des geschriebenen Rechts entfalten regelmäßig erst mit ihrer ordnungsgemäßen Verkündung Wirkung, weil sie nämlich "nach deutschem Staatsrecht" erst mit der ordnungsgemäßen Verkündung existent werden (so BVerfGE 63, 343, 353). Demgemäß erweist sich die hinlängliche Publikation von allgemein-verbindlichen, mit Außenwirkung ausgestatteten Rechtsregeln als ein für alle Normsetzungsakte geltendes "rechtsstaatliches Erfordernis" (BVerfGE 44, 322, 350 zu für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträgen; BVerfGE 65, 283, 291 zu Bebauungsplänen). Bei den hier maßgeblichen Vereinbarungen gilt, jedenfalls soweit ihnen Außenwirkung gegenüber solchen Personen und Institutionen zukommt, die an der Normsetzung nicht unmittelbar beteiligt sind, nichts anderes.
Deshalb ist auch für die Gültigkeit der Richtgrößen-Vereinbarung und der Prüfvereinbarung ihre Publikation erforderlich. Allerdings enthalten die §§ 84 und 106 SGB V keine ausdrückliche Regelung über die Veröffentlichung der Vereinbarungen oder ihrer Änderungen, während etwa § 94 Abs. 2 SGB V für die Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen ausdrücklich bestimmt, dass diese im Bundesanzeiger bekannt zu machen sind (zur Publikationspflicht vgl. § 99 Abs. 1 Satz 3 SGB V für den Bedarfsplan, § 16 Abs. 7, § 16b Abs. 4 Ärzte-ZV für die Anordnung und Aufhebung von Zulassungsbeschränkungen). Aus zwingenden Gründen der Rechtssicherheit setzt die Wirksamkeit von Regelungen der der Wirtschaftlichkeitsprüfung zu Grunde liegenden Normen gegenüber den von ihnen Betroffenen, also in erster Linie den Vertragsärzten, voraus, dass die Normadressaten von ihnen haben Kenntnis nehmen können. Deshalb kann auch bei den hier maßgeblichen Vereinbarungen nicht auf die öffentliche Bekanntgabe als Voraussetzung ihrer rechtlichen Existenz im Verhältnis zu denjenigen, die am Normsetzungsverfahren nicht beteiligt sind, verzichtet werden. Dem entspricht es, dass alle Richtgrößen-Vereinbarungen und Prüfvereinbarungen und ihre Änderungen im KV-Blatt, dem offiziellen Organ der Beigeladenen zu 1), oder in Beilagen zu dieser Zeitschrift veröffentlicht worden sind und veröffentlicht werden. Das ist auch hier- wie bereits dargelegt – geschehen.
Die Notwendigkeit einer Publikation der Vereinbarungen zur Wirtschaftlichkeitsprüfung ergibt sich darüber hinaus daraus, dass sie steuernd auf die Leistungserbringung, also auf das Leistungsverhalten des Arztes, einwirken sollen. Die Leistungserbringung im vertragsärztlichen System kann sich grundsätzlich nur nach den Normen vollziehen, die zu dem Zeitpunkt gelten, in dem der Arzt die einzelne Leistung ausführt. Wie bereits festgestellt, dienen die Vereinbarungen zur Wirtschaftlichkeitsprüfung dazu, das Verordnungsverhalten der Ärzte steuernd zu beeinflussen. Allen steuernden Regelungen ist gemeinsam, dass die mit ihnen intendierten Zielsetzungen nur erreicht werden können, wenn sie zu dem Zeitpunkt, in dem der einzelne Leistungserbringer über das Ob und das Wie der Leistungserbringung entscheidet, in Kraft sind. Verhaltenssteuernde Normen können ihren Zweck nur erfüllen, wenn sich der Arzt von vornherein darauf einstellen kann, von welchen Grenzbeträgen ab eine unwirtschaftliche Verordnungsweise vorliegen würde. Das setzt voraus, dass der für den einzelnen Arzt maßgebende Grenzbetrag schon zu Beginn seiner Arbeit, jedenfalls aber zu einem Zeitpunkt hinreichend bestimmt oder zumindest hinreichend bestimmbar ist, der eine Einhaltung des Prüfvolumens durch Änderung des Verordnungsverhaltens noch zulässt (vgl.BSG SozR 3-2500 § 87 SGB V Nr. 18).
Die demnach vorliegende echte (retroaktive) Rückwirkung der Vereinbarungen ist rechtswidrig. Normen dürfen nur in Ausnahmefällen echte Rückwirkung entfalten. Als ein solcher Ausnahmetatbestand ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts insbesondere der Umstand anerkannt, dass die Rechtsunterworfenen mit einer Neuregelung bezogen auf einen vor In-Kraft-Treten des Gesetzes liegenden Zeitpunkt rechnen mussten, weil die gesetzliche Neuregelung eine unklare oder verworrene bzw. lückenhafte Regelung ersetzt hat oder die ersetzte Regelung in einem Maße systemwidrig oder unbillig war, dass ernsthafte Zweifel an ihrer Verfassungsmäßigkeit bestehen mussten. Gleiches gilt, wenn durch die Rückwirkung kein oder nur ganz unerheblicher Schaden verursacht worden ist, und schließlich dann, wenn zwingende Gründe des allgemeinen Wohls, die dem Vertrauensschutz der Rechtsunterworfenen vorgehen, die rückwirkende Inkraftsetzung der Regelung im Einzelfall legitimieren können (vgl. BVerfGE 30, 367, 387 ff; 88, 384, 404). Keiner dieser Sachverhalte liegt hier vor.
Die Richtgrößen-Vereinbarung für 1998 ist die erste Richtgrößen-Vereinbarung im Zuständigkeitsbereich der Beigeladen zu 1) und konnte schon deswegen keine unklare Regelung ersetzen. Auch mussten die Berliner Vertragärzte nicht mit einem rückwirkenden In-Kraft-Treten dieser Vereinbarung rechnen, weil der bis zum 31.Dezember 1997 geltende § 84 Abs.3 S. 2 SGB V in der Fassung des Gesundheitsstrukturgesetzes das Zustandekommen dieser Vereinbarung vor dem Beginn des Jahres 1998 vorschrieb und das seit dem 1.Januar 1998 geltende Recht zumindest eine rückwirkende Vereinbarung nicht zuließ. Das Vertrauen der Vertragsärzte ist auch nicht durch die Vereinbarung vom 20. April 1998 zerstört worden. Zwar können nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unter Vertrauensschutzgesichtspunkten auch gegen eine echte Rückwirkung von Gesetzen verfassungsrechtliche Bedenken nicht zu erheben sein, soweit lediglich die Zeit zwischen dem Gesetzesbeschluss des Deutschen Bundestages und der Verkündung der geänderten oder neu erlassenen Norm im Bundesgesetzblatt betroffen ist. Ab dem Tag der "endgültigen Beschlussfassung im Bundestag" müssen danach die Betroffenen mit der Rechtsänderung rechnen und können ihr Verhalten darauf einstellen (vgl. BVerfGE 72, 200, 260, 262). Dieser Gesichtspunkt kann jedoch bei untergesetzlichen Normen keine Anwendung finden (BSGE 71, 202, 207 f = SozR 3-4100 § 45 Nr. 3). Dass der Antragsteller schon nach § 12 SGB V zu einer wirtschaftlichen Verordnungsweise verpflichtet war, rechtfertigt entgegen der Rechtsauffassung des Antragsgegners ebenfalls nicht die rückwirkende Festsetzung der Richtgrößen. Nach den Ermittlungen des Senats erfasst die Schadensersatzverpflichtung von ca. 59,878 Euro beim Antragsteller wie bei den betroffenen anderen Ärzten einen nicht unbeträchtlichen Teil ihrer jährlichen Einkünfte und ist deshalb nicht unbeachtlich. Auf den durch die retroaktive Wirkung der Vereinbarung entstandenen Schaden kann mangels festgestellter Daten nicht abgestellt werden. Es ist auch nicht zu erkennen, dass zwingende Gründe des allgemeinen Wohls die rückwirkende Inkraftsetzung der Vereinbarung unter Zurückstellung des Vertrauensschutzes des Antragstellers gebieten könnten. Denn abgesehen von der Tatsache, dass nicht zu erkennen ist, warum die Richtgrößen erst so spät vereinbart und vor allem bei einer Vereinbarung im April erst im Juli publiziert worden sind, bildeten sie im Jahre 1998 nicht die einzige Möglichkeit, steuernd auf die Verordnungsweise der Vertragsärzte einzuwirken, weil hierzu den Vertragspartnern noch das Instrument des Budgets nach § 84 Abs. 1 SGB V a. F. zur Verfügung stand.
Rechtfertigende Gründe für einen rückwirkenden Erlass der Prüfvereinbarung sind ebenfalls nicht zu erkennen.
Deshalb muss die Beschwerde des Antragsgegners ohne Erfolg bleiben, ohne dass es auf die übrigen von den Beteiligten und dem Sozialgericht aufgeworfenen Rechtsfragen ankommt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG in Verbindung mit §§ 154, 162 Verwaltungsgerichtsordnung, die Wertfestsetzung auf § 197a SGG in Verbindung mit §§ 13,20 Gerichtskostengesetz.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Gründe:
Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die Festsetzung einer Schadensersatzverpflichtung wegen der Überschreitung der Richtgrößen für die von ihm 1998 verordneten Arznei- und Heilmittel.
Der Prüfungsausschuss bei der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin setzte mit Beschluss vom 3. April 2001 gegen den Antragsteller, einen zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassenen Arzt für Innere Medizin, auf Grund der Überprüfung der Wirtschaftlichkeit der Verordnung von Arznei- und Heilmitteln wegen der Überschreitung der Richtgrößen 1998 eine Schadensersatzverpflichtung in Höhe von 130.256,69 DM (= 66.599,19 Euro) fest. Auf die vom Antragsteller und der Beigeladenen zu 1) erhobenen Widersprüche reduzierte der Antragsgegner mit Beschluss vom 3. Dezember 2001 die Schadensersatzverpflichtung auf 59.878,00 Euro. Diesen Beschlüssen legten die Prüfungsgremien die am 20. April 1998 abgeschlossene und im KV-Blatt 7/98 (S. A160) veröffentlichte Vereinbarung zwischen der Beigeladenen zu 1) einerseits und den Beigeladenen zu 2) bis 6) sowie der Bundesknappschaft andererseits über die Festsetzung von Richtgrößen und Prüfung der Wirtschaftlichkeit bei Überschreitung der Richtgrößen (Richtgrößen-Vereinbarung) für das Jahr 1998 sowie die zwischen den Beigeladenen vereinbarten und im KV-Blatt 9/99 (S. A236) veröffentlichten Prüfkriterien für die Wirtschaftlichkeitsprüfung der Verordnungsweise bei Richtgrößenüberschreitungen (Prüfvereinbarung) zu Grunde.
Gegen die Festsetzung der Schadensersatzverpflichtung hat der Antragsteller beim Sozialgericht Berlin Klage erhoben und um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht. Das Sozialgericht hat mit Beschluss vom 10. Januar 2003 die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 3. Dezember 2001 im Wesentlichen mit der Begründung angeordnet, dass die der Berechnung der Schadensersatzverpflichtung zu Grunde gelegten Bruttoverordnungskosten nicht in voller Höhe durch Originalverordnungen bzw. Images belegt werden könnten. Die exakte Feststellung, in welcher Höhe die Ärzte Kosten für Arznei- und Heilmittel veranlasst hätten, sei jedoch für die Wirtschaftlichkeitsprüfung bei Überschreitung der Richtgrößen unerlässlich, so dass nicht von der Rechtmäßigkeit der gegen den Antragsteller festgesetzten Schadensersatzverpflichtung ausgegangen werden könne.
Gegen den ihm am 24.Januar 2003 zugestellten Beschluss hat der Antragsgegner am 3. Februar 2003 Beschwerde eingelegt.
Die gemäß §§ 172 Abs.1, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde ist unbegründet. Das Sozialgericht hat die gemäß § 106 Abs. 5a S.3 Sozialgesetzbuch/Fünftes Buch (SGB V) in der hier maßgeblichen Fassung des Zweiten Gesetzes zur Neuordnung von Selbstverwaltung und Eigenverantwortung in der gesetzlichen Krankenversicherung (2.GKV-Neuordnungsgesetz, 2. GKV-NOG) vom 23.6.1997 (BGBl. I S.1520) - SGB V a.F.- ausgeschlossene aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Entscheidung des Antragsgegners nach § 86b Abs.1 S.1 Nr.2 SGG zu Recht angeordnet. Denn das Aussetzungsinteresse des Antragstellers überwiegt das Interesse des Antragsgegners und der Beigeladenen zu 2) bis 6) an der sofortigen Vollziehung, weil sich der angegriffene Beschluss des Antragsgegners bei der im vorliegenden Verfahren nur möglichen summarischen Prüfung als rechtswidrig erweist.
Nach § 106 Abs.1 SGB V a.F. überwachten die Krankenkassen und die Kassenärztlichen Vereinigungen die Wirtschaftlichkeit der vertragsärztlichen Versorgung. Die Wirtschaftlichkeit der Versorgung wurde u.a. geprüft durch die arztbezogene Prüfung ärztlich verordneter Leistungen bei Überschreiten der Richtgrößen nach § 84 SGB V a.F. (§ 106 Abs.2 S.1 Nr.1 SGB V a.F.). Für die Wirtschaftlichkeitsprüfung nach § 106 SGB V a.F. hatten die Beigeladenen gemäß § 84 Abs. 3 S.1 SGB V a.F. einheitliche arztgruppenspezifische Richtgrößen für das Volumen der je Arzt verordneten Leistungen, insbesondere von Arznei-, Verband- und Heilmitteln getrennt zu vereinbaren. Diese Vereinbarungen lösten das Budget nach § 84 Abs.1 SGB V a.F. ab. Danach vereinbarten die Beigeladenen ein Budget als Obergrenze für die insgesamt von den Vertragsärzten veranlassten Ausgaben für Arznei-, Verband- und Heilmittel. Das Budget war für das jeweils folgende Kalenderjahr, erstmals für das Jahr 1994, auf der Grundlage des nach Art. 27 des Gesundheitsstrukturgesetzes für das Jahr 1993 festgelegten Budgets zu vereinbaren. Nach § 106 Abs.3 SGB V a.F. vereinbarten die Beigeladenen die Verfahren zur Prüfung der Wirtschaftlichkeit nach Abs.2 gemeinsam und einheitlich. Die Vereinbarung für die Prüfung bei Überschreitung der Richtgrößen nach § 84 a.F. SGB V hatte einen Vomhundertsatz der Überschreitung vorzusehen, ab dem Prüfungen ohne Antragstellung durchgeführt wurden, sowie einen Vomhundertsatz der Überschreitung, ab dem der Vertragsarzt den sich daraus ergebenden Mehraufwand zu erstatten hatte, soweit dieser nicht durch Praxisbesonderheiten begründet war. Die Beigeladenen hatten auch das Verfahren für die Fälle zu regeln, in denen die Krankenkassen den Versicherten nach § 64 SGB V Kosten erstattete. Nach § 106 Abs. 5a S.1 SGB V a.F. wurden bei einer Überschreitung der Richtgrößen nach § 84 Abs. 3 SGB V a. F. um mehr als 15 v. H. Prüfungen nach Abs. 2 S. 1 Nr.1 a.F. ohne Antragstellung durchgeführt; bei einer Überschreitung um mehr als 25 v.H. hatte der Vertragsarzt den sich daraus ergebenden Mehraufwand zu erstatten, soweit dieser nicht durch Praxisbesonderheiten begründet war.
Die angegriffene Schadensersatzpflicht ist mit diesen Bestimmungen nicht zu vereinbaren; denn die Prüfung der Verordnungsweise des Antragstellers auf der Grundlage der Richtgrößen-Vereinbarung 1998 und der Prüfvereinbarung 1999 ist rechtswidrig. Die genannten Vereinbarungen sind öffentlich-rechtliche Verträge mit Rechtsnormcharakter, so genannte Normsetzungsverträge (vgl. Engelhard in Hauck, SGB V, Gesetzliche Krankenversicherung, Kommentar, Bd.2 § 84 Rdnr.158 m.w.N.) im Rang untergesetzlichen Landesrechts (vgl. BSG, Urteil vom 27.Juni 2001-B 6 KA 66/00 R SozR 3- 2500 § 106 SGB V Nr. 53 S.289 f.), weil sie gegenüber am Vertragsschluss nicht beteiligten Dritten -Ärzten (vgl. § 95 Abs.3 S.2 SGB V) und Krankenkassen- unmittelbare rechtliche Außenwirkung entfalten (vgl. BSGE 71,42. 45ff ; 78,191,196). Sie verstoßen gegen höherrangiges Recht und sind deshalb nichtig.
Die Richtgrößen-Vereinbarung 1998 ist nach summarischer Prüfung schon von der gesetzlichen Ermächtigung in § 84 Abs.3 SGB V a.F. nicht gedeckt, weil sie nicht vor Beginn des Jahres 1998 vereinbart ( und veröffentlicht) worden ist, sondern erst im Juli 1998. Zwar schreibt § 84 Abs. 3 SGB V in der hier maßgeblichen Fassung des 2.GKV-NOG nicht mehr ausdrücklich vor, dass Richtgrößen-Vereinbarungen „für das jeweils folgende Kalenderjahr“ vereinbart sein mussten, wie dies § 84 Abs.3 S.1 SGB V in der bis zum 31. Dezember 1997 geltenden Fassung des Gesundheitsstrukturgesetzes bestimmte. Schon der Gesetzesbegründung des 2.GKV-NOG lässt sich jedoch entnehmen, dass der Gesetzgeber an der Verpflichtung der Vertragspartner, die Richtgrößen-Vereinbarung vor Beginn des Kalenderjahres abzuschließen (und zu publizieren), für das sie gelten sollte, nichts ändern wollte. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit (14.Ausschuss) vom 19.März 1997 (BT-Drs. 13/7264), der die Änderung des § 84 Abs.3 SGB V in der hier maßgebliche Fassung vorgeschlagen hatte, lassen erkennen, dass der Gesetzgeber die Vertragsparteien durch die Neufassung der Bestimmung lediglich verpflichten wollte, das Budget des § 84 Abs. 1 SGB V durch Richtgrößen abzulösen, diese grundsätzlich getrennt nach Arznei-, Verband- und Heilmitteln, aber kassenübergreifend zu vereinbaren und die Ausrichtung der Richtgrößen an den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Beitragssatzstabilität nach § 71 Abs.1 SGB V sicherzustellen (vgl. BT-Drs. 13/7264 S.104). Außerdem ist die Indikationsbezogenheit der Richtgrößen und die Berücksichtigung der Zahl und der Altersstruktur der Versicherten aufgegeben worden. Auch ohne ausdrückliche Wiederholung des Wortlautes des Satzes 1 des § 84 Abs.3 SGB V in der Fassung des Gesundheitsstrukturgesetzes folgt die Verpflichtung der Vertragsparteien, die Richtgrößen-Vereinbarung für das Jahr 1998 noch im Jahr 1997 zu vereinbaren (und bekannt zu machen), aus der ihr zugedachten Funktion, an die Stelle des Budgets für Arznei-, Verband- und Heilmittel zu treten. Denn für dieses Budget schrieb § 84 Abs. 1 S.2 SGB V in der Fassung des 2.GKV-NOG- unverändert gegenüber der Fassung des Gesundheitsstrukturgesetzes- vor, dass es „für das jeweils folgende Kalenderjahr“ zu vereinbaren war. Das Budget für 1998 musste deshalb bereits 1997 vereinbart (und bekannt gemacht) werden. Dem lag als Gesetzeszweck zu Grunde, dass die Ärzte schon zu Beginn eines Kalenderjahres ihr Verordnungsverhalten dem ihnen bekannten Budget anpassen sollten, so dass das Budget eine leistungssteuernde Funktion hatte. Hiervon unterscheidet sich die Funktion der Richtgrößen nicht; auch sie sollen den Vertragsarzt bei seinen Entscheidungen über die Verordnung von Arznei-, Verband- und Heilmitteln nach dem Wirtschaftlichkeitsgebot leiten (vgl. § 84 Abs.6 S.3 SBG V in der Fassung des Gesetzes zur Ablösung des Arznei- und Heilmittelbudgets (Arzneimittelbudget-Ablösungsgesetz) - ABAG- vom19.12.2001, BGBl. I S. 3773), ihm zur Wirtschaftlichkeit seines Verordnungsverhaltens Informationen und Hinweise geben und ihn vor dem nicht durch Praxisbesonderheiten begründeten Überschreiten der Richtgrößen warnen. Denn der Unterschied zwischen Richtgrößen und Budget liegt nicht in ihrer Funktion, das Ausgabenvolumen im Verordnungsbereich zu steuern und dadurch die Finanzierbarkeit der Gesetzlichen Krankenversicherung zu sichern, sondern in den Konsequenzen der Überschreitung des vereinbarten Verordnungsvolumens. Während für eine Budgetüberschreitung die Mitglieder einer Kassenärztlichen Vereinigung kollektiv mit der ihnen zustehenden Gesamtvergütung haften sollten, führt die Überschreitung der Richtgrößen zu einer Einstandspflicht des einzelnen unwirtschaftlich verordnenden Vertragsarztes im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung. Unterscheiden sich Funktion und Wirkungsweise von Budget und Richtgrößen bei ihrer Überschreitung vor allem durch die Person des Einstandspflichtigen, ist nicht einzusehen, warum das Budget strengeren Erlassvorschriften unterworfen sein soll als die nach dem Willen des Gesetzgebers des 2. GKV-NOG an seine Stelle tretenden Richtgrößen, zumal der Arznei-, Verband- und Heilmittelausgaben veranlassende Vertragsarzt auf die Einhaltungder Richtgrößen einen sehr viel größeren Einfluss hat als auf die Wahrung des Budgets und deshalb um so eher auf eine rechtzeitige Information über die Richtgrößen angewiesen ist. Daraus kann nur folgen, dass an den Zeitpunkt des Zustandekommens (und der Publikation) der Richtgrößen-Vereinbarung dieselben Anforderungen zu stellen sind wie für das Budget für Arznei-, Verband- und Heilmittel, solange die Richtgrößen an die Stelle des Budgets treten sollten. Das bedeutet für den vorliegenden Fall, dass die Richtgrößen-Vereinbarung vor dem Beginn des Jahres 1998, für das sie Geltung beanspruchte, zustande gekommen (vereinbart und veröffentlicht) sein musste, um der Wirtschaftlichkeitsprüfung des Antragstellers nach Richtgrößen zu Grunde gelegt werden zu können.
Darüber hinaus ist die Feststellung der Schadensersatzverpflichtung des Antragstellers wegen der Überschreitung der Richtgrößen auch deswegen rechtswidrig, weil die Richtgrößen-Vereinbarung und die Prüfvereinbarung nach summarischer Prüfung gegen Art. 20 Abs.3 GG verstoßen und deshalb verfassungswidrig sind. Der Antragsgegner durfte diese Regelungen deshalb dem angegriffenen Bescheid nicht zu Grunde legen.
Das Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes setzt der Befugnis des Normgebers, den Eintritt nachteiliger Rechtsfolgen auf einen Zeitraum vor Verkündung der Norm zu erstrecken, enge Grenzen. Auch außerhalb des Anwendungsbereichs des Art. 103 Abs. 2 GG (Rückwirkungsverbot für Strafbestimmungen) ist er nur unter strengen Voraussetzungen berechtigt, Rechtsfolgen für einen vor Verkündung der Norm liegenden Zeitpunkt eintreten zu lassen (BVerfGE 72, 200, 242, 257 – st.Rspr). Dabei ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu unterscheiden zwischen der nur in bestimmten Ausnahmefällen zulässigen echten (retroaktiven) Rückwirkung eines Gesetzes, bei der das Gesetz nachträglich ändernd in abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Sachverhalte eingreift, und der unechten (retrospektiven) Rückwirkung von Rechtsnormen, bei der die Norm auf gegenwärtig noch nicht abgeschlossene Sachverhalte für die Zukunft einwirkt und damit zugleich die betroffene Rechtsposition nachträglich entwertet. Unechte Rückwirkung von Normen ist unter leichteren Voraussetzungen zulässig, nämlich bereits dann, wenn das Vertrauen des Einzelnen auf den Fortbestand einer bestimmten gesetzlichen Regelung im Hinblick auf die Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für das Wohl der Allgemeinheit nicht den Vorrang verdient (vgl. BVerfGE 36, 73, 82; 40, 65, 75f; 75, 246, 280). Belastende Gesetze hingegen, die sich echte Rückwirkung beilegen, sind wegen eines Verstoßes gegen das Gebot der Rechtssicherheit, die für den Einzelnen vor allem Vertrauensschutz bedeutet, grundsätzlich nichtig (vgl. zum Vorstehenden und Folgenden BSG, Urteil vom17. September 1997, - 6 Rka 36/97, SozR 3- 2500 § 87 SGB V Nr.18).
Diese Grundsätze sind im vorliegenden Fall anzuwenden; denn bei der Richtgrößen-Vereinbarung nach § 84 Abs.3 SGB V a.F. und der Prüfvereinbarung nach § 106 Abs.3 SGB V a. F. handelt es sich - wie bereits festgestellt – aus dem Blickwinkel des betroffenen Arztes um Normsetzungsverträge im Rang untergesetzlichen Landesrechts.
Vorliegend ist ein Fall echter Rückwirkung gegeben. Denn die Richtgrößen-Vereinbarung vom 20. April 1998 konnte frühestens im Juli 1998 gegenüber den Normunterworfenen wirksam werden; sie ordnet gemäß § 7 ausdrücklich die Anwendbarkeit der Richtgrößen ab dem 1. Januar 1998 und gemäß § 2 Abs.2 als Prüfungszeitraum das Kalenderjahr 1998 an und misst sich damit teilweise Wirksamkeit für einen Zeitraum vor ihrer Bekanntgabe bei. Bei dieser Sachlage ist es ohne Bedeutung, ob von echter Rückwirkung im Sinne der Rechtsprechung des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts erst dann gesprochen wird, wenn der Beginn des zeitlichen Anwendungsbereichs einer Norm auf einen Zeitpunkt festgelegt wird, der vor ihrem förmlichen In-Kraft-Treten liegt (vgl. BVerfGE 63, 343, 353; 72, 200, 242, 250), oder ob von der weitergehenden Rechtsauffassung ausgegangen wird, wonach echte Rückwirkung bereits gegeben ist, wenn ein Gesetz nachträglich ändernd in abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Tatbestände zum Nachteil der Betroffenen eingreift (vgl. BVerfGE 72, 175, 196 ). Auch bei Zugrundelegung des engeren, auf rein formale Gesichtspunkte abstellenden Rückwirkungsbegriffs sind wegen der Inkraftsetzung der Rechtsnorm für einen vor ihrer Bekanntgabe liegenden Zeitraum die Voraussetzungen einer echten Rückwirkung erfüllt.
Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass in Fällen wie dem vorliegenden von einer echten Rückwirkung erst gesprochen werden könne, wenn der Prüfungszeitraum vor Bekanntgabe der Norm vollständig abgelaufen ist. Es unterliegt keinem Zweifel, dass dann ein Fall der echten Rückwirkung gegeben ist, so dass die Prüfvereinbarung, die erst im amtlichen Teil des KV-Blattes vom September 1999 veröffentlicht wurde, gleichwohl aber nach § 9 Abs.1 die Grundlage der Prüfung der Verordnungsweise ab 1. Januar 1998 darstellen soll, gegen das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot verstößt. Daraus folgt jedoch nicht, dass die noch während des Prüfungszeitraums 1998 im Juli 1998 veröffentlichte Richtgrößen-Vereinbarung nur den weniger strengen Voraussetzungen der unechten Rückwirkung unterworfen wäre. Dabei bliebe unberücksichtigt, dass die Ärzte auf die vor der Publikation der Norm veranlassten Ausgaben für Arznei-, Verband- und Heilmittel keinen Einfluss mehr hatten, aber die Folgen dieser Ausgaben nach Maßgabe der später erlassenen Richtgrößen-Vereinbarung hätten tragen müssen, die Norm deshalb insofern nachträglich ändernd in abgewickelte Sachverhalte eingreift. Den daraus entstehenden Schwierigkeiten kann auch nicht dadurch Rechnung getragen werden, dass die Richtgrößen-Vereinbarung - bis zu ihrem In-Kraft-Treten - an den strengeren Voraussetzungen der echten und für den Zeitraum danach an den weniger strengen der unechten Rückwirkung zu messen wäre, weil die Richtgrößen-Vereinbarung das Kalenderjahr 1998 als einheitlichen, untrennbaren Prüfungszeitraum bestimmt. Deshalb ergibt sich die Notwendigkeit, in wertender Betrachtung zu bestimmen, zu welchem Zeitpunkt die Prüfvereinbarung erlassen sein muss, damit sie nicht in einen im Wesentlichen abgeschlossenen Sachverhalt nachträglich zu Lasten des Antragstellers eingreift, bzw. in welchem Zeitraum - vor oder nach der Veröffentlichung der Norm - der Sanktionsschwerpunkt der Rechtsnorm liegt. Hierbei kann es schon aus Gründen des Gleichheitsgrundsatzes und der Praktikabilität nicht darauf ankommen, wann der Antragsteller den größeren Teil der Kosten für Arznei-, Verband- und Heilmittel veranlasst hat, sondern es ist aus den genannten Gründen erforderlich, für alle der Richtgrößen-Vereinbarung unterworfenen Ärzte einheitlich zu bestimmen, wann von einer retroaktiven Wirkung der Richtgrößen-Vereinbarung auszugehen ist. In der Literatur wird dieser Zeitpunkt spätestens auf den Beginn des zweiten Quartals eines Jahres festgesetzt und zur Begründung auf § 84 Abs. 6 S.1 SGB V in der Fassung des ABAG verwiesen, der eine Vereinbarung bis zum 31. März verlangt (Engelhard, a.a.O., § 84 Rdnrn. 119-121). Denkbar wäre auch, die Grenze zwischen echter und unechter Rückwirkung durch Rückgriff auf Art.17 des Gesetzes zur Stärkung der Solidarität in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz - GKV-SolG-) vom 19.Dezember 1998 ( BGBl. I S. 3853) oder Art. 3a S.1 ABAG zu ziehen, die eine Schiedsamtsfestsetzung bei Nichtzustandekommen einer Richtgrößen-Vereinbarung bis zum 30.Juni bzw. 31. Mai vorsehen. Jedenfalls im Rahmen der summarischen Prüfung sieht der Senat den 30. Juni als den maßgeblichen Zeitpunkt an, an dem eine retrospektive in eine retroaktive Wirkung umschlägt. Denn zu diesem Zeitpunkt muss spätestens damit gerechnet werden, dass eine nicht unbeträchtliche Zahl von Ärzten schon ein Verordnungsvolumen erreicht hat, das eine Einhaltung des Richtgrößenvolumens am Ende des Kalenderjahres ausgeschlossen erscheinen lässt, zumal die Vertragsärzte die Versorgung der Versicherten mit den benötigten Arzneimitteln nicht unter Berufung auf die Ausschöpfung ihres Richtgrößenvolumens verweigern dürfen.
Den verfassungsrechtlichen Bedenken an der Wirksamkeit der Vereinbarungen steht auch nicht entgegen, dass die Beigeladene zu 1) die Berliner Vertragsärzte bereits im März 1998 über die Einigung der Vertragspartner über eine Richtgrößen-Vereinbarung für das Kalenderjahr 1998 durch ein „KV-Telegramm“ informiert hatte. Denn abgesehen davon, dass diese Information keine Einzelheiten über den die Ärzte betreffenden Inhalt der Vereinbarung enthält, kommt es für die Abgrenzung zwischen echter und unechter Rückwirkung auf den Zeitraum der Veröffentlichung einer Norm an. Maßgeblicher Schnittpunkt für die Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Zukunft ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der Tag der Verkündung einer Norm. Erst zu diesem Zeitpunkt wird die Rechtsnorm rechtlich existent (vgl. BVerfGE 63, 343, 353; 72, 200, 241). Für Gesetze und Rechtsverordnungen des Bundes regelt Art. 82 GG das In-Kraft-Treten und die dazu erforderliche Form der Verkündung im Bundesgesetzblatt ausdrücklich. Doch auch die von Art. 82 GG nicht erfassten Normen des geschriebenen Rechts entfalten regelmäßig erst mit ihrer ordnungsgemäßen Verkündung Wirkung, weil sie nämlich "nach deutschem Staatsrecht" erst mit der ordnungsgemäßen Verkündung existent werden (so BVerfGE 63, 343, 353). Demgemäß erweist sich die hinlängliche Publikation von allgemein-verbindlichen, mit Außenwirkung ausgestatteten Rechtsregeln als ein für alle Normsetzungsakte geltendes "rechtsstaatliches Erfordernis" (BVerfGE 44, 322, 350 zu für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträgen; BVerfGE 65, 283, 291 zu Bebauungsplänen). Bei den hier maßgeblichen Vereinbarungen gilt, jedenfalls soweit ihnen Außenwirkung gegenüber solchen Personen und Institutionen zukommt, die an der Normsetzung nicht unmittelbar beteiligt sind, nichts anderes.
Deshalb ist auch für die Gültigkeit der Richtgrößen-Vereinbarung und der Prüfvereinbarung ihre Publikation erforderlich. Allerdings enthalten die §§ 84 und 106 SGB V keine ausdrückliche Regelung über die Veröffentlichung der Vereinbarungen oder ihrer Änderungen, während etwa § 94 Abs. 2 SGB V für die Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen ausdrücklich bestimmt, dass diese im Bundesanzeiger bekannt zu machen sind (zur Publikationspflicht vgl. § 99 Abs. 1 Satz 3 SGB V für den Bedarfsplan, § 16 Abs. 7, § 16b Abs. 4 Ärzte-ZV für die Anordnung und Aufhebung von Zulassungsbeschränkungen). Aus zwingenden Gründen der Rechtssicherheit setzt die Wirksamkeit von Regelungen der der Wirtschaftlichkeitsprüfung zu Grunde liegenden Normen gegenüber den von ihnen Betroffenen, also in erster Linie den Vertragsärzten, voraus, dass die Normadressaten von ihnen haben Kenntnis nehmen können. Deshalb kann auch bei den hier maßgeblichen Vereinbarungen nicht auf die öffentliche Bekanntgabe als Voraussetzung ihrer rechtlichen Existenz im Verhältnis zu denjenigen, die am Normsetzungsverfahren nicht beteiligt sind, verzichtet werden. Dem entspricht es, dass alle Richtgrößen-Vereinbarungen und Prüfvereinbarungen und ihre Änderungen im KV-Blatt, dem offiziellen Organ der Beigeladenen zu 1), oder in Beilagen zu dieser Zeitschrift veröffentlicht worden sind und veröffentlicht werden. Das ist auch hier- wie bereits dargelegt – geschehen.
Die Notwendigkeit einer Publikation der Vereinbarungen zur Wirtschaftlichkeitsprüfung ergibt sich darüber hinaus daraus, dass sie steuernd auf die Leistungserbringung, also auf das Leistungsverhalten des Arztes, einwirken sollen. Die Leistungserbringung im vertragsärztlichen System kann sich grundsätzlich nur nach den Normen vollziehen, die zu dem Zeitpunkt gelten, in dem der Arzt die einzelne Leistung ausführt. Wie bereits festgestellt, dienen die Vereinbarungen zur Wirtschaftlichkeitsprüfung dazu, das Verordnungsverhalten der Ärzte steuernd zu beeinflussen. Allen steuernden Regelungen ist gemeinsam, dass die mit ihnen intendierten Zielsetzungen nur erreicht werden können, wenn sie zu dem Zeitpunkt, in dem der einzelne Leistungserbringer über das Ob und das Wie der Leistungserbringung entscheidet, in Kraft sind. Verhaltenssteuernde Normen können ihren Zweck nur erfüllen, wenn sich der Arzt von vornherein darauf einstellen kann, von welchen Grenzbeträgen ab eine unwirtschaftliche Verordnungsweise vorliegen würde. Das setzt voraus, dass der für den einzelnen Arzt maßgebende Grenzbetrag schon zu Beginn seiner Arbeit, jedenfalls aber zu einem Zeitpunkt hinreichend bestimmt oder zumindest hinreichend bestimmbar ist, der eine Einhaltung des Prüfvolumens durch Änderung des Verordnungsverhaltens noch zulässt (vgl.BSG SozR 3-2500 § 87 SGB V Nr. 18).
Die demnach vorliegende echte (retroaktive) Rückwirkung der Vereinbarungen ist rechtswidrig. Normen dürfen nur in Ausnahmefällen echte Rückwirkung entfalten. Als ein solcher Ausnahmetatbestand ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts insbesondere der Umstand anerkannt, dass die Rechtsunterworfenen mit einer Neuregelung bezogen auf einen vor In-Kraft-Treten des Gesetzes liegenden Zeitpunkt rechnen mussten, weil die gesetzliche Neuregelung eine unklare oder verworrene bzw. lückenhafte Regelung ersetzt hat oder die ersetzte Regelung in einem Maße systemwidrig oder unbillig war, dass ernsthafte Zweifel an ihrer Verfassungsmäßigkeit bestehen mussten. Gleiches gilt, wenn durch die Rückwirkung kein oder nur ganz unerheblicher Schaden verursacht worden ist, und schließlich dann, wenn zwingende Gründe des allgemeinen Wohls, die dem Vertrauensschutz der Rechtsunterworfenen vorgehen, die rückwirkende Inkraftsetzung der Regelung im Einzelfall legitimieren können (vgl. BVerfGE 30, 367, 387 ff; 88, 384, 404). Keiner dieser Sachverhalte liegt hier vor.
Die Richtgrößen-Vereinbarung für 1998 ist die erste Richtgrößen-Vereinbarung im Zuständigkeitsbereich der Beigeladen zu 1) und konnte schon deswegen keine unklare Regelung ersetzen. Auch mussten die Berliner Vertragärzte nicht mit einem rückwirkenden In-Kraft-Treten dieser Vereinbarung rechnen, weil der bis zum 31.Dezember 1997 geltende § 84 Abs.3 S. 2 SGB V in der Fassung des Gesundheitsstrukturgesetzes das Zustandekommen dieser Vereinbarung vor dem Beginn des Jahres 1998 vorschrieb und das seit dem 1.Januar 1998 geltende Recht zumindest eine rückwirkende Vereinbarung nicht zuließ. Das Vertrauen der Vertragsärzte ist auch nicht durch die Vereinbarung vom 20. April 1998 zerstört worden. Zwar können nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unter Vertrauensschutzgesichtspunkten auch gegen eine echte Rückwirkung von Gesetzen verfassungsrechtliche Bedenken nicht zu erheben sein, soweit lediglich die Zeit zwischen dem Gesetzesbeschluss des Deutschen Bundestages und der Verkündung der geänderten oder neu erlassenen Norm im Bundesgesetzblatt betroffen ist. Ab dem Tag der "endgültigen Beschlussfassung im Bundestag" müssen danach die Betroffenen mit der Rechtsänderung rechnen und können ihr Verhalten darauf einstellen (vgl. BVerfGE 72, 200, 260, 262). Dieser Gesichtspunkt kann jedoch bei untergesetzlichen Normen keine Anwendung finden (BSGE 71, 202, 207 f = SozR 3-4100 § 45 Nr. 3). Dass der Antragsteller schon nach § 12 SGB V zu einer wirtschaftlichen Verordnungsweise verpflichtet war, rechtfertigt entgegen der Rechtsauffassung des Antragsgegners ebenfalls nicht die rückwirkende Festsetzung der Richtgrößen. Nach den Ermittlungen des Senats erfasst die Schadensersatzverpflichtung von ca. 59,878 Euro beim Antragsteller wie bei den betroffenen anderen Ärzten einen nicht unbeträchtlichen Teil ihrer jährlichen Einkünfte und ist deshalb nicht unbeachtlich. Auf den durch die retroaktive Wirkung der Vereinbarung entstandenen Schaden kann mangels festgestellter Daten nicht abgestellt werden. Es ist auch nicht zu erkennen, dass zwingende Gründe des allgemeinen Wohls die rückwirkende Inkraftsetzung der Vereinbarung unter Zurückstellung des Vertrauensschutzes des Antragstellers gebieten könnten. Denn abgesehen von der Tatsache, dass nicht zu erkennen ist, warum die Richtgrößen erst so spät vereinbart und vor allem bei einer Vereinbarung im April erst im Juli publiziert worden sind, bildeten sie im Jahre 1998 nicht die einzige Möglichkeit, steuernd auf die Verordnungsweise der Vertragsärzte einzuwirken, weil hierzu den Vertragspartnern noch das Instrument des Budgets nach § 84 Abs. 1 SGB V a. F. zur Verfügung stand.
Rechtfertigende Gründe für einen rückwirkenden Erlass der Prüfvereinbarung sind ebenfalls nicht zu erkennen.
Deshalb muss die Beschwerde des Antragsgegners ohne Erfolg bleiben, ohne dass es auf die übrigen von den Beteiligten und dem Sozialgericht aufgeworfenen Rechtsfragen ankommt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG in Verbindung mit §§ 154, 162 Verwaltungsgerichtsordnung, die Wertfestsetzung auf § 197a SGG in Verbindung mit §§ 13,20 Gerichtskostengesetz.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
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