L 5 RJ 291/97

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Landshut (FSB)
Aktenzeichen
S 2 Ar 378/95
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 5 RJ 291/97
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 8. April 1997 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die am ...1948 geborene Klägerin ist 1970 aus Jugoslawien zugezogen. Sie hat keinen Beruf erlernt. Seit 01.09.1992 ist sie nach Konkurs der Firma, bei der sie 20 Jahre als Büglerin beschäftigt war arbeitslos bzw. arbeitsunfähig. Der Versicherungsverlauf ist lückenlos, zuletzt wegen Lohnersatzleistungen als sonstige Versicherte (§ 3 SGB VI).

Auf den am 30.09.1994 gestellten Rentenantrag der Klägerin erstattete der Neurologe Dr.M ... in R ... im Auftrag der Beklagten ein Gutachten vom 12.01.1995 mit der Diagnose einer "neurotisch-depressiven Entwicklung". Leichte bis gelegentlich mittelschwere körperliche Arbeiten seien der Klägerin noch vollschichtig zumutbar.

Mit Bescheiden vom 01.02.1995/06.04.1995 lehnte die Beklagte Leistungen ab, da das Erwerbsvermögen noch nicht im erforderlichen Maße herabgesunken sei.

Hiergegen hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht Landshut (SG) erhoben. Das SG hat die Schwerbehindertenakte sowie zahlreiche Arztberichte (Dres. H ..., Kl ..., N ... und Kr ...) beigezogen. Anschließend hat es Gutachten des Neurologen und Psychiater Dr.W ..., Medizinaldirektor im Bezirkskrankenhaus M ..., vom 07.02.1996 und der Sozialmedizinerin Dr. T ... vom 08.04.1997 eingeholt. Dazwischen war die Klägerin in stationärer Behandlung in der Klinik für traditionelle chinesische Medizin in K ... (10.04.-09.05.1996). Dr.W ... hat eine somatoforme Störung bei depressiven Verstimmungszuständen diagnostiziert; weder sei aber der Antrieb vermindert, noch eine psychomotorische Verlangsamung vorhanden. Die Klägerin habe Interessen, Hobbies und Lebensfreude und entfalte auch Aktivitäten. Dr.T ... hat daneben Kopfschmerzen, Migräne und Wirbelsäulenbeschwerden festgestellt, aber ebenso ein vollschichtiges Leistungsvermögen bejaht.

Durch Urteil vom 08.04.1997 hat das SG die Klage abgewiesen. Ein vollschichtiges Erwerbsvermögen sei gegeben.

Hiergegen hat die Klägerin Berufung eingelegt, denn der behandelnde Neurologe Dr.N ... verneine ein vollschichtiges Leistungsvermögen (Attest vom 15.05.1997) und könne nicht nachvollziehen, dass sie auf dem Arbeitsmarkt noch vermittelbar sei.

Das LSG hat drei Gutachten von den Psychiatern/Neurologen Dres. Ki ..., St ... und H ... sowie dem Orthopäden/ Chirurgen Dr. L ... eingeholt. Letzterer hält die Klägerin für leichte und mittelschwere Arbeiten für vollschichtig erwerbsfähig (bei gelegentlichem Wechsel der Arbeitshaltung und unter Außerachtlassung länger anhaltenden Hebens und Tragens schwerer Lasten, Überkopfarbeiten, Zwangshaltungen). An Kraft, Geschicklichkeit, Grob- und Feinmotorik könnten durchaus normale Ansprüche gestellt werden. Dr. Ki ... hat in seinem Gutachten vom 15.10.1999 ein von der Aussicht auf einen sekundären Krankheitsgewinn bestimmtes Rentenbegehren festgestellt. Dadurch erkläre sich auch die vom behandelnden Nervenarzt angeführte Therapieresistenz. Es liege eine Dysthymie (F 34.1) nach dem Diagnoseschlüssel ICD 10 und damit erst die Vorstufe einer eigentlichen depressiven Erkrankung vor. Dies beschränke die berufliche Leistungsfähigkeit keinesfalls in zeitlicher Hinsicht. Dr. St ... hat seinem Gutachten vom 23.11.2000 neben der Aufzeichnung der Beschwerden Fragebögen (Selbstbeurteilungsskala nach Zung und Beck, Hamilton- Depressionsskala - HAMD) zugrundegelegt und darauf gestützt eine Somatisierungsstörung mit Krankheitswert diagnostiziert, die soziale Funktionen, d.h. auch die Arbeitsfähigkeit beeinträchtigen könnte. Der Klägerin sei keinerlei Erwerbstätigkeit mehr zumutbar. In den Gutachten der Dres. W ... und Ki ... sei die Schwere der depressiven Verstimmung nicht richtig eingeschätzt und zu unrecht nur eine endogene Depression als schwerwiegende psychische Erkrankung angesehen worden. Dies sei nach den modernen psychiatrischen Klassifikationen und Leitlinien nicht mehr aufrechtzuerhalten.

Abschließend hat Dr.H ... in seinem Gutachten nach Aktenlage vom 16.02.2001 ausgeführt, die Klägerin sei organisch mehrfach sehr eingehend untersucht worden, ohne dass bis auf ein geringgradiges HWS- und LWS- Syndrom Funktionseinschränkungen festzustellen waren. Bei unterschiedlicher Bezeichnung der neurotisch-depressiven Entwicklung seien fast alle Sachverständigen zum Ergebnis eines vollschichtigen Leistungsvermögen gelangt. Lediglich Dr.St ... habe eine undifferenzierte Somatisierungsstörung und ohne definitionsgemäß erforderliche Befunde - 11 von 18 definierten "Tender points" (der von Dr.St ... verwendete Begriff "Trigger points" zeuge von mangelndem Fachwissen) - ein Fibromyalgiesyndrom diagnostiziert. Auch fehle es an Hinweisen im Röntgenbild und in den Laborbefunden. Die von Dr. St ... für bedeutsam gehaltenen Fragebögen brächten keinen größeren Erkenntnisgewinn als eine sorgfältig durchgeführte psychiatrische Exploration. Insgesamt bestehe bei der Klägerin eine Dysthymie, allenfalls noch verbunden mit einer undifferenzierten Somatisierungsstörung.

Die Klägerin stellt sinngemäß den Antrag,

die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Landshut vom 08.04.1997 sowie des Bescheides vom 01.02.1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.04.1995 zu verurteilen, ihr wegen des vom 30.09.1994 gestellten Antrags Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 08.04.1997 zurückzuweisen.

Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt der Akten beider Instanzen und der Versicherten- und Gutachtensakten der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgemäß eingelegte Berufung ist auch ansonsten zulässig.

In der Sache hat sie keinen Erfolg.

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Unstreitig liegen die formalen Voraussetzungen der §§ 43, 44 SGB VI alter Fassung vor dem 31.12.2000 wie auch neuer Fassung ab dem 01.01.2001 vor. Die Klägerin hat die allgemeine Wartezeit ebenso erfüllt wie die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen (3/5-Belegung).

Sie ist jedoch weder erwerbs- noch berufsunfähig. Denn sie besitzt noch ein vollschichtiges Erwerbsvermögen auf dem ihr zumutbaren allgemeinen Arbeitsmarkt. Für jedweden Berufsschutz besteht keinerlei Anhaltspunkt. Damit ist sie auf der vollen Breite des Arbeitsmarktes der ungelernten Arbeitnehmer zu beurteilen, auf dem sie mehr als die Lohnhälfte verdienen kann.

Der Klägerin ist der Arbeitsmarkt aber auch nicht praktisch verschlossen (vgl. Beschluss des Großen Senats des BSG vom 10.12.1996, BSGE 43, 75 = SozR 2200 § 1246 Nr. 13). Danach beurteilt sich die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten nicht nur nach der im Gesetz allein genannten - gesundheitlichen - Fähigkeit, Arbeiten zu verrichten, sondern auch danach, durch Arbeit Erwerb zu erzielen, was bei einem lediglich zur Teilzeitarbeit fähigen Versicherten nicht mehr der Fall ist. Die Klägerin besitzt aber ein vollschichtiges Erwerbsvermögen. Damit ist ihr Kläger der Arbeitsmarkt nicht verschlossen. Dies hat der Gesetzgeber auch klargestellt (zweites Gesetz zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (2. SGB VI-ÄndG) vom 02.05.1996 ).

Die Überzeugung des Senats beruht auf den schlüssigen Gutachten der Dres. Ki ..., H ... und L ... Für ein derart eingeschränktes Leistungsvermögen in zeitlicher Hinsicht (völlig aufgehobenes Erwerbsvermögen), wie es Dr. St ... annimmt, fehlt es an entsprechenden massiven Erkrankungsbildern. Bei psychiatrischen Erkrankungen ist das Leistungsvermögen - wie auch Dr. St ... ausführt schon häufig mit der Diagnosestellung verknüpft. Wenn Dr.St ... von einer Dysthymie ausgeht und sich auf den ICD-10 beruft (F 45.1, undifferenzierte Somatisierungsstörung), so muss er auch, wie Dr. H ... zurecht ausführt, akzeptieren, dass damit nur eine sehr leichte, wenngleich chronisch-depressive Verstimmung gemeint ist, die nicht die Kriterien einer leichten oder gar mittelgradigen rezidivierend-depressiven Störung erfüllt. Als undifferenzierte Somatisierungsstörung (F45.1) wird nach ICD-10 ein Beschwerdebild definiert, in dem zahlreiche unterschiedliche und hartnäckige körperliche Beschwerden vorliegen, trotzdem aber eben das vollständige und typische klinische Bild einer Somatisierungsstörung selbst nicht erfüllt ist. Eine zeitliche Leistungsminderung ließe sich hieraus nicht ableiten. Es handele sich dabei definitionsgemäß lediglich um eine leichte seelische Störung ohne sozialmedizinische Relevanz und zeitliche Leistungsminderung. Dies belegen auch die Antworten der Klägerin in den Testbögen. Dr.St ... hat neben einer selbst explorierten Beschwerdeschilderung eine Selbstbeurteilungsskala nach Zung sowie eine solche nach Beck als auch einen Hamilton-Depressionstest (HAMD) verwendet. In der Beurteilungsskala nach Zung führt die Klägerin beispielsweise an, ihr falle es nicht schwer, Entscheidungen zu treffen (meistens); sie glaube, dass sie nützlich sei und dass man sie brauche (meistens), ihr Leben sei ziemlich ausgefüllt (meistens) und sie tue Dinge, die sie früher nicht tat, immer noch gern (meistens). Die Antworten nach der Selbstbeurteilungsskala nach Beck widersprechen denjenigen nach Zung. Die Klägerin sagt nämlich dort, dass sie sich ohne fremde Hilfe zu nichts entscheiden könne, wohingegen sie nach Zung geantwortet hat, dass es ihr nicht schwer falle, Entscheidungen zu treffen. Dies sind Ungereimtheiten, mit denen sich der Sachverständige nicht auseinandergesetzt hat. Dennoch hat sich Dr.St ... in seiner Beurteilung gerade wesentlich auf die Feststellung depressiver Verstimmungszustände gestützt, die "eindrucksvoll in Selbstbeurteilungstests sowie in Fremdbeurteilungstests bestätigt werden" könnten. Zusätzlich hat er mit einer Fibromyalgie argumentiert, die nach den Feststellungen von Dr. H ... (vgl. dazu auch H ... in Suchenwirth, Kunze und Krasney, Neurologische Begutachtung, 3. Aufl., 2000, Kap. 37) mangels genügend schmerzhafter "Tender points" und Hinweisen im Röntgenbild und in den Laborbefunden nicht sicher diagnostiziert werden kann. Zu unrecht unterstellt Dr.St ... auch seinem Vorgutachter Dr. Ki ..., dass dieser mangels Vorliegens einer endogenen Depression auf dem Stand einer veralteten wissenschaftlichen Lehrmeinung der Klägerin die Anerkennung einer wesentlichen Leistungsminderung versagt habe. Dr.Ki ... hat insoweit lediglich festgestellt, dass der behandelnde Nervenarzt Dr. N ... 1986 endogene Anteile der Erkrankung angenommen habe, ohne seine Beurteilung von deren Genese abhängig zu machen.

Bei den bei der Klägerin gefundenen qualitativen Einschränkungen kommen noch keine ernsthaften Zweifel daran auf, dass sie nicht in einem Betrieb unter üblichen Bedingungen einsetzbar wäre. Anders verhielte es sich bei Vorliegen einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung (vgl. BSGE 80, 24, 33 = SozR 3-2600 § 44 Nr.8; = SozR 3-2600 § 43 Nr.21( 13. Senat)). Es kann bei dem vorhandenen positiven Leistungsprofil der Klägerin ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass es auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt für die an sich noch mögliche Vollzeittätigkeit eine ausreichende Zahl von Arbeitsplätzen gibt, ohne dass ernste Zweifel daran aufkommen, dass die Klägerin mit dem ihr verbliebenen Leistungsvermögen in einem Betrieb einsetzbar ist. Das Bestehen einer Bezeichnungspflicht hängt in diesem Zusammenhang entscheidend von Anzahl, Art und Umfang der beim Versicherten bestehenden qualitativen Leistungseinschränkungen ab. Zunächst genügt eine Beurteilung, ob das Restleistungsvermögen dem Versicherten körperliche Verrichtungen (wie z.b. Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Bedienen von Maschinen, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen usw.) erlaubt, die in ungelernten Tätigkeiten gefordert zu werden pflegen (vgl. BSGE 80, 24, 34 = SozR 3- 2600 § 44 Nr.8). Durch eine derartige Bezeichnung von Tätigkeiten der Art nach werden dem Versicherten allgemein geeignete Tätigkeitsfelder aufgezeigt (vgl. BSG SozR 3-2600 § 43 Nr.17; BSG SozR 3-2600 § 44 Nr.12).

Es lassen sich für die Klägerin mit ihren qualitativen Einschränkungen durchaus noch Bereiche des allgemeinen Arbeitsmarkts beschreiben, für die sie mit ihrem Restleistungsvermögen eingesetzt werden kann. Die Klägerin sollte zwar nicht ständig schweren und mittelschweren Arbeiten ausgesetzt werden, auch ist eine Arbeit im gelegentlichen Wechsel von Stehen zu Sitzen geboten, ebenso sind Arbeiten über Kopfhöhe oder in Zwangshaltung oder Exposition gegenüber Witterungseinflüssen und thermischen Schwankungen unzumutbar. Wegen der bestehenden Stimmungslabilität sollten auch Tätigkeiten mit Publikumsverkehr vermieden werden. Damit kann die Klägerin aber z.B. noch einfache Montagetätigkeiten mit Kunststoff, Plastik, Glas oder Holz durchführen.

Ob die Klägerin tatsächlich in einen solchen Arbeitsplatz vermittelt werden kann, ist rechtlich unerheblich, da bei vollschichtig einsatzfähigen Versicherten der Arbeitsmarkt offen und das Risiko der Vermittlung nicht von der gesetzlichen Renten-, sondern von der Arbeitslosenversicherung zu tragen ist (vgl. BSG SozR 2200 § 1246 RVO Nr.19). Die Neufassung des Rechts der Arbeitsförderung und der Arbeitslosenversicherung 1997 sieht gerade für diesen Personenkreis eine besondere Förderung vor (vgl. zum Beispiel Regelungen zur Vermeidung von Langzeitarbeitslosigkeit in § 6 SGB III, besonderer Begriff des Langzeitarbeitslosen in § 18 SGB III und Vorschriften zur Verbesserung der Eingliederungsaussichten in §§ 48 ff. SGB III).

Das Urteil des SG war daher zu bestätigen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs.1 Nrn.1 und 2 SGG) sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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