Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
20
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 5 Ar 704/95
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 20 RJ 358/97
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 10.04.1997 wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) über den 31. August 1994 hinaus. Die am 1967 geborene Klägerin hat nach ihren Angaben keinen Beruf erlernt. Sie arbeitete von 1984 bis 1985 als Zimmermädchen und von 1985 bis 1988 mit Unterbrechungen als Sortiererin, Versandarbeiterin und Stanzerin. Am 14.06.1989 erlitt sie einen privaten Unfall (Sturz aus dem Fenster der Wohnung), bei dem sie sich ua eine Trümmerfraktur des Lendwirbelkörpers I, eine Beckenringfraktur und eine Steißbeinfraktur zuzog. Die Beklagte bejahte bei der Klägerin die Voraussetzungen der vorzeitigen Wartezeiterfüllung gemäß § 245 SGB VI und bewilligte ihr aufgrund des am 25.01.1993 gestellten Reha-Antrags mit Bescheid vom 19.10.1994 Rente wegen EU auf Zeit vom 01.01.1993 bis zum 31.08.1994. Der Eintritt des Versicherungsfalles wurde mit dem Unfalltag 14.06.1989 angenommen. Am 06.12.1994 beantragte die Klägerin die Weitergewährung der Rente über den Monat August 1994 hinaus und legte dazu ein Attest ihres behandelnden Arztes Dr.E. vom 07.12.1994 vor, der für (voraussichtlich) weitere zwei Jahre die Fortdauer des bestehenden Zustandes der EU annahm. Die Beklagte ließ die Klägerin durch den Chirurgen Dr.v.G. und den Internisten Dr.M. untersuchen. Von Seiten des chirurgischen Fachgebiets wurde die Klägerin nach Ablauf der Zeitrente wieder für fähig erachtet, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt leichte Tätigkeiten im Wechselrhythmus vollschichtig zu verrichten; internistischerseits waren keine Einschränkungen der Leistungsfähigkeit festzustellen. Als Versandarbeiterin (wie zuletzt bei der Fa. Q.) könne die Klägerin aber nicht mehr eingesetzt werden. Nach prüfärztlicher Auswertung der ergänzend von der W.Klinik in B. beigezogenen Krankengeschichte lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 20.02.1995 die Weitergewährung der Rente wegen EU ab. Dagegen erhob die Klägerin am 02.03.1995 Widerspruch. Während des Vorverfahrens unterzog sie sich vom 25.05. bis 22.06.1995 einer medizinischen Reha-Maßnahme in der Rheumaklinik II in Wiesbaden. Die Entlassung erfolgte als arbeitsunfähig für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit; im Übrigen sollten ihr leichte Arbeiten im Wechselrhythmus im Umfang von halb- bis untervollschichtig möglich sein. Der Sozialmedizinische Dienst der Beklagten (Dr.A.) hielt dagegen ab 01.09.1994 eine ganztägige Arbeitsbelastung für zumutbar. Daraufhin wies die Beklagte den Widerspruch mit Bescheid vom 30.10.1995 als unbegründet zurück.
Auf die am 07.11.1995 Klage erhobene Klage hat das Sozialgericht Nürnberg (SG) Befundberichte des Nervenarztes Dr.H. , des Orthopäden Dr.E. und der Allgemeinärztin P. sowie einen Entlassungsbericht der W.Klinik vom 16.10.1995 (über eine ambulante Vorstellung der Klägerin am 13.10.1995) beigezogen. Zur weiteren Sachaufklärung hat das SG Gutachten des Orthopäden Dr.M. vom 25.11.1996 und der Nervenärztin Dr.O. vom 12.05.1996 eingeholt und ein orthopädisches Gutachten des Dr.S. vom 06.04.1996 zum Verfahren beigenommen, das dieser in der Schwerbehinderten-Streitsache der Klägerin erstellt hatte. Dr.M. führte ua aus, klinisch sei eine Fehlhaltung der Wirbelsäule (Hohl-Rund-Rücken; Skoliose) aufgefallen, was trotz eines optimalen Behandlungsergebnisses nach Entfernung des 1.Lendenwirbelkörpers und Spondylodese die von der Klägerin angegebenen wiederkehrenden Belastungsbeschwerden im Bereich der LWS erkläre. Daraus ergäben sich zwar qualitative Einsatzbeschränkungen; aus rein orthopädischer Sicht sei die körperliche Leistungsfähigkeit der Klägerin für leichte Arbeiten aber sicherlich noch nicht bzw nicht mehr in den untervollschichtigen Bereich abgesunken.
Frau Dr.O. habe jedoch bei der Klägerin eine konversionsneurotische Störung auf dem Boden traumatisierender Kindheitserlebnisse festgestellt und daraus auf eine erheblich eingeschränkte psychophysische Leistungsfähigkeit geschlossen. Die auf psychiatrischen Fachgebiet bestehenden Gesundheitsstörungen seien so weitreichend, dass sie allein nurmehr geringfügige Tätigkeiten von weniger als zwei Stunden täglich zuließen.
Dieser Leistungsbeurteilung hat sich das SG angeschlossen und die Beklagte mit Urteil vom 10.04.1997 verpflichtet, der Klägerin über den 31.08.1994 hinaus die gesetzlichen Leistungen wegen EU auf Dauer (Rente bzw Übergangsgeld) zu gewähren. Eine vollschichtige Erwerbstätigkeit könne der Klägerin nicht mehr abverlangt werden. Ihre psychische Belastbarkeit (für den Erwerb neuer Lerninhalte) sei weitgehend aufgehoben. Ansatzmöglichkeiten für berufsfindende Maßnahmen seien praktisch nicht mehr gegeben. Es liege eine deutliche Beeinträchtigung der freien Willensäußerung und der Verhaltenssteuerung auf dem Boden traumatisierender Kindheitserlebnisse bei mangelhaftem Kompensationsvermögen infolge grenzwertiger intellektueller Begabung vor. Daran könne die Durchführung eines (weiteren) Heilverfahrens entgegen der Auffassung der Beklagten nichts ändern.
Gegen dieses Urteil richtet sich die am 15.07.1997 beim Bayer. Landessozialgericht eingegangene Berufung der Beklagten: Es sei objektiv nicht nachgewiesen, dass die Klägerin die bei ihr vorliegenden psychischen Störungen nicht aus eigener Willensanstrengung überwinden könne. Zur Besserung und weiteren Abklärung der Beschwerden sei die Durchführung eines psychosomatischen Heilverfahrens vordringlich. Die Klägerin legte ein Attest des Nervenarztes Dr.H. vom 11.02.1998 vor, der wegen akuter Überlastung (Geburt des zweiten Kindes am 28.04.1997, Schlafstörungen, bevorstehende Unterleibsoperation) die Bewilligung einer Haushaltshilfe empfahl. Vom 08.09. bis 20.10.1998 unterzog sich die Klägerin der von der Beklagten bewilligten stationären Rehamaßnahme in der psychosomatischen Klinik B ... Nach dem Entlassungsbericht vom 18.11.1998 wurden dort folgende Diagnosen gestellt: Anhaltende somatoforme Schmerzstörung mit medizinischem Krankheitsfaktor aus dem orthopädischen Fachgebiet; emotional instabile Persönlichkeit, impulsiver Typ. Leichte Arbeiten in Tagschicht könne die Klägerin noch vollschichtig leisten; dagegen sei ihr die Tätigkeit einer Warenaufmacherin oder Versandfertigmacherin nicht mehr (weniger als zwei Stunden täglich) zumutbar.
Auf Antrag der Klägerin hat der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr.G. nach ambulanter Untersuchung das Gutachten vom 24.09.1999 erstellt und darin folgende Diagnosen genannt: Anhaltende somatoforme Schmerzstörung auf dem Boden einer emotional instabilen Persönlickeit vom impulsiven Typ mit der Folge vielfältiger Körperbeschwerden, vor allem Schmerzen des Bewegungsapparates sowie auch Affekt- und Antriebsstörungen; zusätzlich bestehe beidseits ein Karpaltunnel-Syndrom mit Missempfindungen und Schmerzen in den Händen. Im Hinblick auf die Folgen der Unfallverletzung von 1989 bestehe eine deutliche Einschränkung der körperlichen Leistunsfähigkeit, die letztlich orthopädisch zu beurteilen sei. Die Klägerin könne nur für leichte körperliche Tätigkeiten, abwechselnd im Gehen, Sitzen und Stehen und nicht in einseitig belastender Körperhaltung eingesetzt werden. Darüber hinaus bestünden Beschränkungen hinsichtlich der Leistungsmotivation, der Merk- und Konzentrationsfähigkeit, des Reaktionsvermögens und der Umstellungsfähigkeit sowie der praktischen Anstelligkeit und Findigkeit, vor allem der Ausdauer und Anpassungsfähigkeit an den technischen Wandel. Hinsichtlich des zeitlichen Umfanges der Arbeiten sei die Klägerin nach seinem Dafürhalten nur noch halb- bis untervollschichtig einsetzbar; zusätzlich bestehe die Notwendigkeit zur Einhaltung vermehrter Pausen von mehr als zehn Minuten pro Stunde. Dies gelte auch für Arbeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes. Die Einschränkung der Leistungsfähigkeit bestehe durchgehend seit 1994. Verlässliche Aussagen für die künftige Entwicklung der Klägerin seien aus psychiatrisch-psychotherapeutischer Sicht derzeit nicht möglich, auch wenn im weiteren Verlauf grundsätzlich eine Besserung durch Fortsetzung der ambulanten nervenärztlichen und psychotherapeutischen Behandlung erwartet werden könne; eine Nachuntersuchung werde für Ende des Jahres 2001 empfohlen. Die Beklagte hat zu dem Gutachten durch ihre beratende Ärztin Dr.F. Stellung genommen: Von einer durchgängig chronischen Entwicklung der psychiatrischen Störungen der Klägerin könne nicht ausgegangen werden; nach wie vor bestehe für leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes ein vollschichtiges Leistungsvermögen. In der mündlichen Verhandlung am 29.03.2000 wurde das Verfahren vertagt. Zur weiteren Sachaufklärung hat der Senat eine Bescheinigung über Mitglieds- und Krankheitszeiten der Klägerin bei der AOK-Direktion Mittelfranken, eine Auskunft der Fa.Q. und einen Befundbericht des Gynäkologen Dr.S. eingeholt. Ferner wurde der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr.F. , Lt.Arzt der R.-Klinik in B. , zum gerichtlichen Sachverständigen ernannt. In seinem Gutachten vom 05.02.2001 hat er nach ambulanter Untersuchung der Klägerin für die Zeit ab August 1994 folgende Gesundheitsstörungen festgestellt: Emotional instabile Persönlichkeit; somatoforme Störung; verheilte Frakturen des Fersenbeins links, des vorderen Beckenrings rechts, des Steißbeines rechts und des 1. Lenden- wirbelkörpers; Zustand nach lumbaler Spondylodese ohne neurologische Ausfallserscheinungen. Die Klägerin könne bei durchschnittlicher Belastung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nur noch stundenweise und unregelmäßig tätig sein. Es bestehe auch keine begründete Aussicht, dass die bestehenden Leistungseinschränkungen in absehbarer Zeit durch geeignete Maßnahmen behoben werden könnten. Die Beklagte hat auch zu diesem Gutachten eine Stellungnahme der Ärztin für Psychiatrie Dr. F. (vom 22.03.2001) vorgelegt. Danach wird die Klägerin weiterhin für fähig erachtet, leichte Tätigkeiten unter Beachtung qualitativer Einsatzbeschränkungen vollschichtig zu leisten.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des SG Nürnberg vom 10.04.1997 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 20.02.1995 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 30.10.1995 abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Dem Senat haben die Verwaltungsakten der Beklagten, die Prozessakte des SG Nürnberg (sowohl das Rentenverfahren als auch das Verfahren nach dem Schwerbehindertengesetz betreffend) und die Schwerbehindertenakte des AVF Nürnberg vorgelegen. Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den gesamten Akteninhalt Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Beklagten ist form- und fristgerecht eingelegt (§§ 143, 151 SGG) und auch im Übrigen zulässig. Das Rechtsmittel der Beklagten erweist sich als nicht begründet. Das SG hat zutreffend entschieden, dass der Klägerin Rente wegen EU über den Monat August 1994 hinaus zusteht, und zwar als Rente auf unbestimmte Zeit. Dieses Ergebnis ist durch ausführliche Untersuchungen und Begutachtungen der Klägerin im Berufungsverfahren bestätigt worden. Die Klägerin ist seit 1994 bis derzeit und weiterhin für erwerbsbringende Tätigkeiten nicht mehr in nennenswertem Umfang einsetzbar. Dies hat insbesondere Dr.F. im Gutachten vom 05.02.2001 in überzeugender Weise herausgestellt. In der diagnostischen Einordnung der bei der Klägerin bestehenden Gesundheitsstörungen konnte er keine wesentlich neuen Gesichtspunkte gegenüber den Vorgutachten aufzeigen. Auch in der Beurteilung des Leistungsvermögens der Klägerin stimmt er weitgehend mit Frau Dr.O. und Dr.G. überein, die selbst bei Beachtung einer Vielzahl qualitativer Einsatzbeschränkungen in der hier streitigen Zeit ab September 1994 eine vollschichtige Erwerbstätigkeit unter keinen Umständen als möglich oder zumutbar ansahen. Die von Dr.F. erhobenen psychischen Befunde haben im Zusammenhang mit der umfassend geklärten Vorgeschichte die in der Klinik Buching und auch von Dr.G. gestellten Diagnosen bestätigt. Für den hohen Schweregrad des Krankheitsbildes einer "emotional instabilen Persönlichkeit" und der daraus abzuleitenden Leistungseinbuße im allgemeinen Erwerbsleben sprechen die insoweit auffällige Familienanamnese, schwere jahrelange Traumatisierungen in der Kindheit und frühen Jugend der Klägerin sowie ein inzwischen etwa zwölfjähriger Krankheitsverlauf ohne längere Phasen mit nachweisbarer gesundheitlicher Stabilisierung. Bei der Beurteilung der Persönlichkeitsstörung und der damit zusammenhängenden somatoformen Störung der Klägerin bestand für den ärztlichen Sachverständigen kein Zweifel, dass die offenkundigen Affektdurchbrüche, die oft infantil wirkende Impulsivität der Klägerin und ihre mangelnde Fähigkeit, bei der Sache zu bleiben, gravierende sozialmedizinische Auswirkungen haben. Die in ihrer Steuerungsfähigkeit erheblich beeinträchtigte, ihren Impuls- und Affektdurchbrüchen zu weiten Teilen ausgelieferte Klägerin ist danach schon seit 1994 (und früher) nicht mehr in der Lage, einer regelmäßigen Erwerbstätigkeit nachzugehen. Diese von Dr.F. aus der Vorgeschichte und nach eigener Befunderhebung abgeleitete Leistungsbeurteilung ist auch für den Senat überzeugend. Der Senat stimmt mit Dr.F. auch darin überein, dass - im Gegensatz zur Annahme von Frau Dr.F. - weitere rehabilitative Maßnahmen zurzeit nicht aussichtsreich erscheinen. Der überduchschnittliche Schweregrad der bei der Klägerin vorliegenden psychischen Störung und der völlig unzureichende Effekt einer jahrelangen nervenärztlichen Behandlung, einer mehrjährigen ambulanten Psychotherapie sowie von drei stationären psychiatrisch-psychosomatisch ausgerichteten Heilverfahren in Wirsberg, Bad Neustadt und zuletzt Buching lassen für weitere diesbezügliche Bemühungen derzeit keinen Erfolg erwarten. Eine Erwerbstätigkeit setzt auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eine gewisse Konstanz des Leistungsvermögens und vor allem auch eine Belastungsstabilität voraus, über welche die Klägerin nach Auffassung Dr.F. nicht verfügt. Der Senat schließt sich in vollem Umfang der Leistungsbeurteilung durch Dr.F. an, wonach die Klägerin keiner regelmäßigen Erwerbstätigkeit mehr nachgehen kann und selbst in den für sie überhaupt in Betracht kommenden Berufstätigkeiten nur noch stundenweise belastbar ist. Die Klägerin ist deshalb über August 1994 hinaus erwerbsunfähig auf unbestimmte Zeit im Sinne des § 44 SGB VI (in der bis 31.12.2000 geltenden Fassung).
Die Berufung der Beklagten war deshalb zurückzuweisen mit der Folge, dass die Beklagte der Klägerin auch die Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten hat.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs 2 SGG liegen nicht vor.
II. Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) über den 31. August 1994 hinaus. Die am 1967 geborene Klägerin hat nach ihren Angaben keinen Beruf erlernt. Sie arbeitete von 1984 bis 1985 als Zimmermädchen und von 1985 bis 1988 mit Unterbrechungen als Sortiererin, Versandarbeiterin und Stanzerin. Am 14.06.1989 erlitt sie einen privaten Unfall (Sturz aus dem Fenster der Wohnung), bei dem sie sich ua eine Trümmerfraktur des Lendwirbelkörpers I, eine Beckenringfraktur und eine Steißbeinfraktur zuzog. Die Beklagte bejahte bei der Klägerin die Voraussetzungen der vorzeitigen Wartezeiterfüllung gemäß § 245 SGB VI und bewilligte ihr aufgrund des am 25.01.1993 gestellten Reha-Antrags mit Bescheid vom 19.10.1994 Rente wegen EU auf Zeit vom 01.01.1993 bis zum 31.08.1994. Der Eintritt des Versicherungsfalles wurde mit dem Unfalltag 14.06.1989 angenommen. Am 06.12.1994 beantragte die Klägerin die Weitergewährung der Rente über den Monat August 1994 hinaus und legte dazu ein Attest ihres behandelnden Arztes Dr.E. vom 07.12.1994 vor, der für (voraussichtlich) weitere zwei Jahre die Fortdauer des bestehenden Zustandes der EU annahm. Die Beklagte ließ die Klägerin durch den Chirurgen Dr.v.G. und den Internisten Dr.M. untersuchen. Von Seiten des chirurgischen Fachgebiets wurde die Klägerin nach Ablauf der Zeitrente wieder für fähig erachtet, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt leichte Tätigkeiten im Wechselrhythmus vollschichtig zu verrichten; internistischerseits waren keine Einschränkungen der Leistungsfähigkeit festzustellen. Als Versandarbeiterin (wie zuletzt bei der Fa. Q.) könne die Klägerin aber nicht mehr eingesetzt werden. Nach prüfärztlicher Auswertung der ergänzend von der W.Klinik in B. beigezogenen Krankengeschichte lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 20.02.1995 die Weitergewährung der Rente wegen EU ab. Dagegen erhob die Klägerin am 02.03.1995 Widerspruch. Während des Vorverfahrens unterzog sie sich vom 25.05. bis 22.06.1995 einer medizinischen Reha-Maßnahme in der Rheumaklinik II in Wiesbaden. Die Entlassung erfolgte als arbeitsunfähig für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit; im Übrigen sollten ihr leichte Arbeiten im Wechselrhythmus im Umfang von halb- bis untervollschichtig möglich sein. Der Sozialmedizinische Dienst der Beklagten (Dr.A.) hielt dagegen ab 01.09.1994 eine ganztägige Arbeitsbelastung für zumutbar. Daraufhin wies die Beklagte den Widerspruch mit Bescheid vom 30.10.1995 als unbegründet zurück.
Auf die am 07.11.1995 Klage erhobene Klage hat das Sozialgericht Nürnberg (SG) Befundberichte des Nervenarztes Dr.H. , des Orthopäden Dr.E. und der Allgemeinärztin P. sowie einen Entlassungsbericht der W.Klinik vom 16.10.1995 (über eine ambulante Vorstellung der Klägerin am 13.10.1995) beigezogen. Zur weiteren Sachaufklärung hat das SG Gutachten des Orthopäden Dr.M. vom 25.11.1996 und der Nervenärztin Dr.O. vom 12.05.1996 eingeholt und ein orthopädisches Gutachten des Dr.S. vom 06.04.1996 zum Verfahren beigenommen, das dieser in der Schwerbehinderten-Streitsache der Klägerin erstellt hatte. Dr.M. führte ua aus, klinisch sei eine Fehlhaltung der Wirbelsäule (Hohl-Rund-Rücken; Skoliose) aufgefallen, was trotz eines optimalen Behandlungsergebnisses nach Entfernung des 1.Lendenwirbelkörpers und Spondylodese die von der Klägerin angegebenen wiederkehrenden Belastungsbeschwerden im Bereich der LWS erkläre. Daraus ergäben sich zwar qualitative Einsatzbeschränkungen; aus rein orthopädischer Sicht sei die körperliche Leistungsfähigkeit der Klägerin für leichte Arbeiten aber sicherlich noch nicht bzw nicht mehr in den untervollschichtigen Bereich abgesunken.
Frau Dr.O. habe jedoch bei der Klägerin eine konversionsneurotische Störung auf dem Boden traumatisierender Kindheitserlebnisse festgestellt und daraus auf eine erheblich eingeschränkte psychophysische Leistungsfähigkeit geschlossen. Die auf psychiatrischen Fachgebiet bestehenden Gesundheitsstörungen seien so weitreichend, dass sie allein nurmehr geringfügige Tätigkeiten von weniger als zwei Stunden täglich zuließen.
Dieser Leistungsbeurteilung hat sich das SG angeschlossen und die Beklagte mit Urteil vom 10.04.1997 verpflichtet, der Klägerin über den 31.08.1994 hinaus die gesetzlichen Leistungen wegen EU auf Dauer (Rente bzw Übergangsgeld) zu gewähren. Eine vollschichtige Erwerbstätigkeit könne der Klägerin nicht mehr abverlangt werden. Ihre psychische Belastbarkeit (für den Erwerb neuer Lerninhalte) sei weitgehend aufgehoben. Ansatzmöglichkeiten für berufsfindende Maßnahmen seien praktisch nicht mehr gegeben. Es liege eine deutliche Beeinträchtigung der freien Willensäußerung und der Verhaltenssteuerung auf dem Boden traumatisierender Kindheitserlebnisse bei mangelhaftem Kompensationsvermögen infolge grenzwertiger intellektueller Begabung vor. Daran könne die Durchführung eines (weiteren) Heilverfahrens entgegen der Auffassung der Beklagten nichts ändern.
Gegen dieses Urteil richtet sich die am 15.07.1997 beim Bayer. Landessozialgericht eingegangene Berufung der Beklagten: Es sei objektiv nicht nachgewiesen, dass die Klägerin die bei ihr vorliegenden psychischen Störungen nicht aus eigener Willensanstrengung überwinden könne. Zur Besserung und weiteren Abklärung der Beschwerden sei die Durchführung eines psychosomatischen Heilverfahrens vordringlich. Die Klägerin legte ein Attest des Nervenarztes Dr.H. vom 11.02.1998 vor, der wegen akuter Überlastung (Geburt des zweiten Kindes am 28.04.1997, Schlafstörungen, bevorstehende Unterleibsoperation) die Bewilligung einer Haushaltshilfe empfahl. Vom 08.09. bis 20.10.1998 unterzog sich die Klägerin der von der Beklagten bewilligten stationären Rehamaßnahme in der psychosomatischen Klinik B ... Nach dem Entlassungsbericht vom 18.11.1998 wurden dort folgende Diagnosen gestellt: Anhaltende somatoforme Schmerzstörung mit medizinischem Krankheitsfaktor aus dem orthopädischen Fachgebiet; emotional instabile Persönlichkeit, impulsiver Typ. Leichte Arbeiten in Tagschicht könne die Klägerin noch vollschichtig leisten; dagegen sei ihr die Tätigkeit einer Warenaufmacherin oder Versandfertigmacherin nicht mehr (weniger als zwei Stunden täglich) zumutbar.
Auf Antrag der Klägerin hat der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr.G. nach ambulanter Untersuchung das Gutachten vom 24.09.1999 erstellt und darin folgende Diagnosen genannt: Anhaltende somatoforme Schmerzstörung auf dem Boden einer emotional instabilen Persönlickeit vom impulsiven Typ mit der Folge vielfältiger Körperbeschwerden, vor allem Schmerzen des Bewegungsapparates sowie auch Affekt- und Antriebsstörungen; zusätzlich bestehe beidseits ein Karpaltunnel-Syndrom mit Missempfindungen und Schmerzen in den Händen. Im Hinblick auf die Folgen der Unfallverletzung von 1989 bestehe eine deutliche Einschränkung der körperlichen Leistunsfähigkeit, die letztlich orthopädisch zu beurteilen sei. Die Klägerin könne nur für leichte körperliche Tätigkeiten, abwechselnd im Gehen, Sitzen und Stehen und nicht in einseitig belastender Körperhaltung eingesetzt werden. Darüber hinaus bestünden Beschränkungen hinsichtlich der Leistungsmotivation, der Merk- und Konzentrationsfähigkeit, des Reaktionsvermögens und der Umstellungsfähigkeit sowie der praktischen Anstelligkeit und Findigkeit, vor allem der Ausdauer und Anpassungsfähigkeit an den technischen Wandel. Hinsichtlich des zeitlichen Umfanges der Arbeiten sei die Klägerin nach seinem Dafürhalten nur noch halb- bis untervollschichtig einsetzbar; zusätzlich bestehe die Notwendigkeit zur Einhaltung vermehrter Pausen von mehr als zehn Minuten pro Stunde. Dies gelte auch für Arbeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes. Die Einschränkung der Leistungsfähigkeit bestehe durchgehend seit 1994. Verlässliche Aussagen für die künftige Entwicklung der Klägerin seien aus psychiatrisch-psychotherapeutischer Sicht derzeit nicht möglich, auch wenn im weiteren Verlauf grundsätzlich eine Besserung durch Fortsetzung der ambulanten nervenärztlichen und psychotherapeutischen Behandlung erwartet werden könne; eine Nachuntersuchung werde für Ende des Jahres 2001 empfohlen. Die Beklagte hat zu dem Gutachten durch ihre beratende Ärztin Dr.F. Stellung genommen: Von einer durchgängig chronischen Entwicklung der psychiatrischen Störungen der Klägerin könne nicht ausgegangen werden; nach wie vor bestehe für leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes ein vollschichtiges Leistungsvermögen. In der mündlichen Verhandlung am 29.03.2000 wurde das Verfahren vertagt. Zur weiteren Sachaufklärung hat der Senat eine Bescheinigung über Mitglieds- und Krankheitszeiten der Klägerin bei der AOK-Direktion Mittelfranken, eine Auskunft der Fa.Q. und einen Befundbericht des Gynäkologen Dr.S. eingeholt. Ferner wurde der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr.F. , Lt.Arzt der R.-Klinik in B. , zum gerichtlichen Sachverständigen ernannt. In seinem Gutachten vom 05.02.2001 hat er nach ambulanter Untersuchung der Klägerin für die Zeit ab August 1994 folgende Gesundheitsstörungen festgestellt: Emotional instabile Persönlichkeit; somatoforme Störung; verheilte Frakturen des Fersenbeins links, des vorderen Beckenrings rechts, des Steißbeines rechts und des 1. Lenden- wirbelkörpers; Zustand nach lumbaler Spondylodese ohne neurologische Ausfallserscheinungen. Die Klägerin könne bei durchschnittlicher Belastung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nur noch stundenweise und unregelmäßig tätig sein. Es bestehe auch keine begründete Aussicht, dass die bestehenden Leistungseinschränkungen in absehbarer Zeit durch geeignete Maßnahmen behoben werden könnten. Die Beklagte hat auch zu diesem Gutachten eine Stellungnahme der Ärztin für Psychiatrie Dr. F. (vom 22.03.2001) vorgelegt. Danach wird die Klägerin weiterhin für fähig erachtet, leichte Tätigkeiten unter Beachtung qualitativer Einsatzbeschränkungen vollschichtig zu leisten.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des SG Nürnberg vom 10.04.1997 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 20.02.1995 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 30.10.1995 abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Dem Senat haben die Verwaltungsakten der Beklagten, die Prozessakte des SG Nürnberg (sowohl das Rentenverfahren als auch das Verfahren nach dem Schwerbehindertengesetz betreffend) und die Schwerbehindertenakte des AVF Nürnberg vorgelegen. Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den gesamten Akteninhalt Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Beklagten ist form- und fristgerecht eingelegt (§§ 143, 151 SGG) und auch im Übrigen zulässig. Das Rechtsmittel der Beklagten erweist sich als nicht begründet. Das SG hat zutreffend entschieden, dass der Klägerin Rente wegen EU über den Monat August 1994 hinaus zusteht, und zwar als Rente auf unbestimmte Zeit. Dieses Ergebnis ist durch ausführliche Untersuchungen und Begutachtungen der Klägerin im Berufungsverfahren bestätigt worden. Die Klägerin ist seit 1994 bis derzeit und weiterhin für erwerbsbringende Tätigkeiten nicht mehr in nennenswertem Umfang einsetzbar. Dies hat insbesondere Dr.F. im Gutachten vom 05.02.2001 in überzeugender Weise herausgestellt. In der diagnostischen Einordnung der bei der Klägerin bestehenden Gesundheitsstörungen konnte er keine wesentlich neuen Gesichtspunkte gegenüber den Vorgutachten aufzeigen. Auch in der Beurteilung des Leistungsvermögens der Klägerin stimmt er weitgehend mit Frau Dr.O. und Dr.G. überein, die selbst bei Beachtung einer Vielzahl qualitativer Einsatzbeschränkungen in der hier streitigen Zeit ab September 1994 eine vollschichtige Erwerbstätigkeit unter keinen Umständen als möglich oder zumutbar ansahen. Die von Dr.F. erhobenen psychischen Befunde haben im Zusammenhang mit der umfassend geklärten Vorgeschichte die in der Klinik Buching und auch von Dr.G. gestellten Diagnosen bestätigt. Für den hohen Schweregrad des Krankheitsbildes einer "emotional instabilen Persönlichkeit" und der daraus abzuleitenden Leistungseinbuße im allgemeinen Erwerbsleben sprechen die insoweit auffällige Familienanamnese, schwere jahrelange Traumatisierungen in der Kindheit und frühen Jugend der Klägerin sowie ein inzwischen etwa zwölfjähriger Krankheitsverlauf ohne längere Phasen mit nachweisbarer gesundheitlicher Stabilisierung. Bei der Beurteilung der Persönlichkeitsstörung und der damit zusammenhängenden somatoformen Störung der Klägerin bestand für den ärztlichen Sachverständigen kein Zweifel, dass die offenkundigen Affektdurchbrüche, die oft infantil wirkende Impulsivität der Klägerin und ihre mangelnde Fähigkeit, bei der Sache zu bleiben, gravierende sozialmedizinische Auswirkungen haben. Die in ihrer Steuerungsfähigkeit erheblich beeinträchtigte, ihren Impuls- und Affektdurchbrüchen zu weiten Teilen ausgelieferte Klägerin ist danach schon seit 1994 (und früher) nicht mehr in der Lage, einer regelmäßigen Erwerbstätigkeit nachzugehen. Diese von Dr.F. aus der Vorgeschichte und nach eigener Befunderhebung abgeleitete Leistungsbeurteilung ist auch für den Senat überzeugend. Der Senat stimmt mit Dr.F. auch darin überein, dass - im Gegensatz zur Annahme von Frau Dr.F. - weitere rehabilitative Maßnahmen zurzeit nicht aussichtsreich erscheinen. Der überduchschnittliche Schweregrad der bei der Klägerin vorliegenden psychischen Störung und der völlig unzureichende Effekt einer jahrelangen nervenärztlichen Behandlung, einer mehrjährigen ambulanten Psychotherapie sowie von drei stationären psychiatrisch-psychosomatisch ausgerichteten Heilverfahren in Wirsberg, Bad Neustadt und zuletzt Buching lassen für weitere diesbezügliche Bemühungen derzeit keinen Erfolg erwarten. Eine Erwerbstätigkeit setzt auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eine gewisse Konstanz des Leistungsvermögens und vor allem auch eine Belastungsstabilität voraus, über welche die Klägerin nach Auffassung Dr.F. nicht verfügt. Der Senat schließt sich in vollem Umfang der Leistungsbeurteilung durch Dr.F. an, wonach die Klägerin keiner regelmäßigen Erwerbstätigkeit mehr nachgehen kann und selbst in den für sie überhaupt in Betracht kommenden Berufstätigkeiten nur noch stundenweise belastbar ist. Die Klägerin ist deshalb über August 1994 hinaus erwerbsunfähig auf unbestimmte Zeit im Sinne des § 44 SGB VI (in der bis 31.12.2000 geltenden Fassung).
Die Berufung der Beklagten war deshalb zurückzuweisen mit der Folge, dass die Beklagte der Klägerin auch die Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten hat.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
Login
NRW
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