L 4 SB 9/10

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
4
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 29 SB 233/07
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 4 SB 9/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 19. November 2009 aufgehoben und die Klage abgewiesen. 2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. 3. Die Revision wird nicht zugelassen. &8195;

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist das Vorliegen der Voraussetzungen für das Merkzeichen "Bl" (Blindheit) streitig.

Bei der am XXXXX 1951 geborenen Klägerin hatte erstmals das Versorgungsamt D1 mit Bescheid vom 18. Januar 1990 neben weiteren Funktionsbeeinträchtigungen eine beiderseitige Sehschwäche mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 25 festgestellt. Im November 1991 machte die Klägerin unter anderem eine Verschlechterung des Sehvermögens insbesondere des rechten Auges geltend. Obwohl nach den beigezogenen Unterlagen sowohl der Augenklinik als auch der Neurologischen Klinik der E. Krankenanstalten D1-Nord eine ätiologische Zuordnung der Verschlechterung des Sehvermögens nicht möglich war, stellte das Versorgungsamt D1 mit Bescheid vom 4. März 1992 eine beiderseitige Sehschwäche und eine Einschränkung der Gesichtsfeldaußengrenze rechts mit einem Einzel-GdB von 40 sowie unter Berücksichtigung weiterer Funktionsbeeinträchtigungen einen Gesamt-GdB von 60 fest. Nach ihrem Umzug nach H. beantragte die Klägerin am 14. September 1995 bei der Beklagten die Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" (erhebliche Gehbehinderung). In ihrem Befundbericht vom 2. Oktober 1995 bestätigte die Augenärztin Dr. H1 eine auf 0,05 herabgesetzte Sehstärke links und bezeichnete die rechts festgestellte Sehstärke von 0,4 als Sehschwäche unklarer Genese. Nach Ablehnung des Merkzeichens "G" durch Bescheid vom 1. Dezember 1995 wurde das Merkzeichen während des nachfolgenden Widerspruchsverfahrens durch Abhilfebescheid vom 20. Februar 1996 zusammen mit einem GdB von 80 dann zuerkannt. Im Oktober 1997 beantragte die Klägerin bei der Beklagten unter Hinweis auf ihre Sehschwäche die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF" (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht). Die Augenärztin Dr. H1 wies in ihrem Befundbericht vom 19. Dezember 1997 darauf hin, dass trotz eingehender auch elektrophysiologischer Untersuchungen sich kein Hinweis auf die Ursache der rechtsseitigen Visuseinschränkung gefunden habe. In dem versorgungsärztlichen Gutachten vom 24. Februar 1998 wies der Augenarzt Dr. W darauf hin, dass hinsichtlich des rechten Auges die subjektiven Angaben der Klägerin nicht mit den objektiv zu erhebenden Befunden übereinstimmten und empfahl eine weitere Begutachtung, die in der Universitäts-Augenklinik durch den Augenarzt Prof. Dr. R1 durchgeführt wurde. Dieser gelangte in dem Gutachten vom 23. Juli 1998 nach zweimaliger Untersuchung der Klägerin zu dem Ergebnis, dass nach der objektiven Visusprüfung bei der Klägerin eine Sehschärfe von 0,7 rechts und 0,2 links bestehe, woraus ein GdB auf augenfachärztlichem Gebiet von 20 abzuleiten sei. Im Rahmen einer Anhörung zum Zweck der Herabsetzung des GdB machte die Klägerin unter anderem eine bestehende Schwerhörigkeit links geltend. Der HNO-Arzt Dr. B. gelangte nach Untersuchung der Klägerin in seinem Gutachten vom 8. Dezember 1999 zu dem Ergebnis, dass die subjektiven Angaben der Klägerin, nach denen im Sprachaudiogramm eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit rechts und eine praktische Taubheit links vorliegen, nicht mit den Ergebnissen der objektiven Audiometrie, nach welchen ein annähernd normales Hörvermögen beiderseits besteht, übereinstimmen. Ein GdB auf HNO-ärztlichem Fachgebiet ergebe sich nicht. Der Augenarzt Dr. B1 untersuchte die Klägerin am 18. Juli 2001 und gelangte in seinem Gutachten vom 24. Juli 2001 zu dem Ergebnis, dass der Visus auf dem rechten Auge lediglich 0,16 betrage und ein Ausfall im Bereich der temporalen Gesichtsfelder des rechten Auges bestehe, was für einen Schaden am Sehnerv des rechten Auges spreche. Die Funktionsbeeinträchtigungen der Augen bedingten einen GdB von 80. Nachdem der Nervenarzt Dr. H2 in seinem Gutachten vom 15. Oktober 2001 eine psychische Störung diagnostiziert und mit einem GdB von 40 bewertet hatte, stellte die Beklagte mit Bescheid vom 14. Dezember 2001 einen Gesamt-GdB von 100 und das Vorliegen der Voraussetzungen für die Merkzeichen "G", "B" (Notwendigkeit ständiger Begleitung) und "RF" fest. Im Rahmen einer Nachprüfung von Amts wegen machte die Klägerin mit Schreiben vom 28. Dezember 2004 eine weitere Verschlechterung ihrer gesundheitlichen Verhältnisse geltend. Die Augenärztin Dr. H1 gab in ihrem Befundbericht vom 25. Januar 2005 an, die Funktionseinschränkung am rechten Auge habe gegenüber der zuletzt vor 2,5 Jahren durchgeführten Untersuchung weiter zugenommen. Die Sehstärke betrage nur noch 0,02. In ihren versorgungsärztlichen Stellungnahmen gelangten Dr. V. am 8. Februar 2005 und Dr. K. am 19. Februar 2005 zum dem Ergebnis, es lägen jetzt Blindheit mit einem Einzel-GdB von 100 sowie die Voraussetzungen für die Merkzeichen "Bl" (Blindheit) und "H" (Hilflosigkeit) vor. Nach Einholung eines Berichts der Augenklinik des Universitätsklinikums H. vom 1. Februar 2005 wies der Augenarzt Dr. W in seiner Stellungnahme vom 29. April 2005 darauf hin, dass weiterhin die schlechte subjektive Sehschärfe nicht mit dem objektiven Augenbefund in Einklang zu bringen sei. Trotzdem stellte die Beklagte mit Bescheid vom 7. Juni 2005 ein GdB von 100 und das Vorliegen der Voraussetzungen für die Merkzeichen "G", "B", "RF" und "H" fest wegen einer "Hochgradigen Sehbehinderung" (Einzel-GdB 100) und weiterer Funktionsbeeinträchtigungen.

Am 23. November 2006 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen für das Merkzeichen "Bl". Nach Beiziehung eines Befundberichts der Augenärztin Dr. H1 vom 5. Dezember 2006, in welchem eine zunehmende Visuseinschränkung unklarer Genese bestätigt wird, wies Dr. W in seiner Stellungnahme vom 5. Januar 2007 darauf hin, dass bereits in der Vergangenheit sich die subjektiven Angaben nur in sehr begrenztem Umfang mit dem objektiven Befund in Einklang bringen ließen und auch der letzte Befund von Frau Dr. H1-Reker von ärztlicher Ratlosigkeit zeuge. Mit Bescheid vom 19. Januar 2007 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin ab. Während des nachfolgenden Widerspruchsverfahrens ließ sie die Klägerin durch den Augenarzt Dr. S. begutachten, der in dem Gutachten vom 29. März 2007 nach Untersuchung der Klägerin zu dem Ergebnis gelangte, dass die angegebene Funktionsminderung nicht der Wahrheit entspreche. Bei der Klägerin liege eine Konversionsneurose vor, die einer psychotherapeutischen Behandlung bedürfe. Die Voraussetzungen für das Merkzeichen "Bl" seien aber durch diese Persönlichkeitsstörung nicht erfüllt. Mit Widerspruchsbescheid vom 12. April 2007 wurde daraufhin der Widerspruch zurückgewiesen.

Während des nachfolgenden Klageverfahrens hat das Sozialgericht Befundberichte der Augenärztin Dr. H1 und des Nervenarztes Dr. D2 (29. März 2008) beigezogen, der eine psychogene Blindheit diagnostiziert. Darüber hinaus wurde beigezogen der Bericht der Augenklinik C. über die dort am 10. April 2007 erfolgte Untersuchung, bei der objektive Befunde für die Sehminderung nicht erhoben werden konnten und eine so genannte funktionelle Sehstörung für am wahrscheinlichsten gehalten wurde. Der Nervenarzt Dr. von E1 hat in seinem allein nach den Unterlagen seines Praxisvorgängers erstellten Befundbericht vom 16. Mai 2008 unter anderem wörtlich ausgeführt: "Die Patientin trägt ständig eine dunkle Brille trotz nur leichter Sehminderung li. Visus bei schlechter Mitarbeit nicht genau zu überprüfen, angeblich wird die Hand vor Augen kaum erkannt. Gang jedoch trotz der dunklen Brille sehr sicher, ohne Sehbeeinträchtigung. Sonstiger Neurostatus regelrecht, insbesondere keine radikulären Ausfälle. Auffallend ist eine Versteifung der LWS mit einem sekundären Schongang. Verdacht auf neurotische Beschwerdefixierung."

Im Einvernehmen mit den Beteiligten hat das Sozialgericht erneut Dr. S. mit der Begutachtung der Klägerin beauftragt. Dieser hat in dem schriftlichen Gutachten vom 25. Juni 2008 nach Untersuchung der Klägerin unter anderem ausgeführt: "Frau G. verhält sich weitgehend wie eine erheblich sehbehinderte bzw. blinde Patientin. Man hat dabei nicht den Eindruck, dass sie bewusst simuliert oder aggraviert. Sie ist bemüht und zur Kooperation bereit. Wie schon bei den früheren Untersuchungen findet sich jedoch für die vermeintliche Blindheit kein morphologisches Korrelat. Links besteht aufgrund der Anisometropie eine bekannte Schwachsichtigkeit, rechts dürfte die Sehkraft kaum beeinträchtigt sein. Da auch eine Störung der höheren Sehbahn bisher nicht nachgewiesen werden konnte, muss daher weiterhin von einer neurologischen Erkrankung, zum Beispiel im Sinne einer Konversionsneurose ausgegangen werden, die aber das Merkzeichen "Bl" nach Nr. 23 der Anhaltspunkte nicht rechtfertigt."

Anlässlich seiner Anhörung im Termin am 19. November 2009 hat der Sachverständige ergänzend darauf hingewiesen, dass nach seinen Untersuchungen das Sehorgan selbst und die Weiterleitung zum Gehirn nicht wesentlich gestört sind. Trotz der Angabe der Klägerin, nur noch bewegtes Licht erkennen zu können, zeige die unauffällige Pupillenreaktion auf Licht, dass eine Lichtscheinwahrnehmung vorhanden sein muss. Es könne sich also nur um eine gnostische Störung handeln, d.h. nicht das Erkennen, sondern das Benennen ist gestört.

Durch Urteil vom 19. November 2009 hat das Sozialgericht die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte verurteilt, das Merkzeichen "Bl" anzuerkennen. Die Klägerin leide an einer anderen Störung des Sehvermögens mit einem solchen Schweregrad, dass sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe auf 1/50 gem. § 72 Abs. 5 Alt. 2 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialhilfe – (SGB XII) gleichzusetzen sei. Teil A Nr. 6c der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10. Dezember 2008, nach welchem ein Mensch mit visueller Agnosie oder anderen gnostischen Störungen nicht blind sei, könne keine Anwendung finden, weil er nicht von der Ermächtigungsnorm des § 30 Abs. 17 Bundesversorgungsgesetz (BVG) gedeckt sei.

Gegen das ihr am 19. Februar 2010 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 18. März 2010 Berufung eingelegt. Sie macht geltend, entgegen der Auffassung des Sozialgerichts fänden die Ausführungen zum Merkzeichen "Bl" in Teil A Nr. 6c der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung sehr wohl Anwendung. Gem. § 69 Abs. 4 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen – (SGB IX) seien die Merkzeichen im Verfahren nach Abs. 1 festzustellen. In § 69 Abs. 1 S. 5 SGB IX werde aber ausdrücklich auf die auf Grund des § 30 Abs. 17 BVG erlassenen Rechtsverordnung Bezug genommen. In § 30 Abs. 17 BVG werde der Verordnungsgeber ermächtigt, eine Verordnung für die maßgebenden Grundsätze und Kriterien der Hilflosigkeit und der Stufen der Pflegezulage aufzustellen. Blindheit sei aber ein spezieller Unterfall der Hilflosigkeit. Dies ergebe sich aus der Systematik der Versorgungsmedizinischen Grundsätze. Im Übrigen habe das Bundessozialgericht (BSG) in seiner Entscheidung vom 20. Juli 2005 klargestellt, dass eine Beeinträchtigung des Sehvermögens in der Art, dass nicht das Erkennen, sondern durch eine seelisch-geistige Behinderung das Benennen gestört ist, nicht die Voraussetzungen faktischer Blindheit und damit nicht die für das Merkzeichen "Bl" erfüllt. Bei der Klägerin liege keine signifikante Augenschädigung vor; bei vorhandener Sehfunktion könne sie die erkannten Signale nur nicht richtig identifizieren. Es fehle somit am Benennen-Können. Eine solche Störung sei aber nicht der Blindheit im rechtlichen Sinne zuzuordnen.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 19. November 2011 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, das Sozialgericht habe der Klage zu Recht und mit zutreffender Begründung stattgegeben. Nach den Ausführungen von Dau in "juris PR-SozR 24/09" habe der im Zusammenhang mit der Bewilligung von Blindenhilfe in § 72 Abs. 5 SGB XII enthaltene Grundsatz auch im Schwerbehindertenrecht für das Merkmal Blindheit zu gelten. In dieser Vorschrift werde entweder auf ein Mindestmaß der Gesamtsehschärfe oder auf "gleichzusetzende Störungen des Sehvermögens" abgestellt. Hierbei werde nicht danach unterschieden, ob im Einzelfall die Fähigkeit des "Erkennen-Könnens" oder des "Benennen-Könnens" betroffen sei. Nach dem Ergebnis der Begutachtungen liege bei ihr – der Klägerin – eine psychogene Blindheit vor. Dabei könne es nicht darauf ankommen, ob die visuelle Unfähigkeit auf einer so genannten Konversionsneurose oder auf einer physischen bzw. cerebralen Störung beruhe. Diese Frage könne im vorliegenden Fall gerade nicht vollständig geklärt werden. Da sie in ihrem Lebensalltag ohne jede visuelle Wahrnehmung zu Recht kommen müsse und auf entsprechende Hilfen angewiesen sei, sei sie als blind im Sinne des Schwerbehindertenrechts anzuerkennen.

Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts im Übrigen wird Bezug genommen auf den Inhalt der in der Sitzungsniederschrift vom 1. November 2011 aufgeführten Akten und Unterlagen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und auch im Übrigen zulässige Berufung (§§ 143, 144, 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) der Beklagten ist begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht der Klage auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen für das Merkzeichen "Bl" stattgegeben. Der Bescheid vom 19. Januar 2007 und der Widerspruchsbescheid vom 12. April 2007, mit denen die Beklagte den Erlass des von der Klägerin begehrten feststellenden Verwaltungsaktes abgelehnt hat, sind rechtmäßig, weil sie keinen Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens "Bl" hat. Anspruchsgrundlage für die begehrte Feststellung ist § 69 Abs. 4 SGB IX. Hiernach stellen die zuständigen Behörden neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind. Nach § 3 Abs. 1 Nr. 3 der Schwerbehindertenausweisverordnung ist auf dem Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen "Bl" einzutragen, wenn der schwerbehinderte Mensch blind im Sinne des § 72 Abs. 5 SGB XII oder entsprechender Vorschriften ist. Nach § 72 Abs. 5 SGB XII ist ein behinderter Mensch blind, dem das Augenlicht vollständig fehlt. Als blind ist weiter derjenige anzusehen, bei dem die beidäugige Gesamtsehschärfe nicht mehr als 1/50 beträgt oder bei dem nicht nur vorübergehende Störungen des Sehvermögens vorliegen, die dem Schweregrad dieser Sehschärfe gleich zu setzen sind. Gleich zu achtende Störungen des Sehvermögens in diesem Sinne sind nach den Richtlinien der D. Ophthamologischen Gesellschaft im Wesentlichen mit einer Minderung der Sehschärfe einhergehende Gesichtsfeldausfälle. Blind ist auch ein behinderter Mensch mit einem nachgewiesenen vollständigen Ausfall der Sehrinde. Insoweit stimmt der Blindheitsbegriff in § 72 Abs. 5 SGB XII mit demjenigen nach Teil A Nr. 6 der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung überein. Jedoch enthält letztere insoweit eine zusätzliche Einschränkung, als nach Nr. 6c Menschen mit einer visuellen Agnosie oder anderen gnostischen Störungen nicht blind sind. Allerdings hat das BSG in seiner Entscheidung vom 20. Juli 2005 (B 9a BL 1/05 R) zu den insoweit wortgleichen Regelungen in den früher geltenden "Anhaltspunkten" klargestellt, dass es nur einen bundeseinheitlich geltenden Begriff der Blindheit gibt und für eine faktische Blindheit nicht nur die Beeinträchtigungen der Sehschärfe und die Einschränkung des Gesichtsfeldes, sondern vielmehr alle Störungen des Sehvermögens zu berücksichtigen sind, soweit sie in ihrem Schweregrad einer Beeinträchtigung auf 1/50 oder weniger gleich zu achten sind. Danach ist es nicht maßgeblich, auf welchen Ursachen die Störung des Sehvermögens beruht und ob das Sehorgan (Auge, Sehbahn) selbst geschädigt ist. Auch cerebrale Schäden, die zu einer spezifischen, über sonstige gegebenenfalls ebenfalls eingeschränkte Gehirnfunktionen hinausgehende Störung des Sehvermögens führen, sind insoweit beachtlich. Klargestellt hat das BSG mit dieser Entscheidung allerdings auch, dass bei Störungen aus dem Bereich der seelisch-geistigen Behinderung, bei denen nicht das Sehvermögen gestört ist, sondern bei vorhandener Sehfunktion (nur) eine zentrale Verarbeitungsstörung vorliegt, bei der das Gesehene nicht identifiziert bzw. mit früheren visuellen Erinnerungen verglichen werden kann, die also nicht schon das Erkennen, sondern erst das Benennen betreffen, nicht die Voraussetzungen faktischer Blindheit erfüllt sind. Daraus lässt sich ableiten, dass alle sich auf die visuelle Wahrnehmung auswirkenden organischen Störungen (entweder der Augen, der Nerven oder des Gehirns) zur Blindheit führen können, entgegen der Auffassung der Klägerin aber nicht eine die visuelle Wahrnehmung beeinträchtigende seelisch-geistige Störung. Dies erscheint bereits deshalb nachvollziehbar, weil es sich bei derartigen seelisch-geistigen Störungen gerade nicht um Störungen des Sehvermögens im Sinne des § 72 Abs. 5 SGB XII oder Teil A Nr. 6 der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung handelt, sondern um Störungen des Benennens des tatsächlich Gesehenen. Bei einer derartigen, hier vorliegenden Konstellation kann dahingestellt bleiben, ob die Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung hinsichtlich des Merkzeichens "Bl" Anwendung findet oder es insoweit tatsächlich an der Ermächtigungsgrundlage fehlt.

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe liegen bei der Klägerin die Voraussetzungen für das Merkzeichen "Bl" nicht vor. Nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Dr. S. kann bei ihr zwar eine wie auch immer geartete Störung des Sehvermögens des linken, nicht aber des rechten Auges festgestellt werden. Nach den objektiven Untersuchungsmethoden, wie sie bereits Prof. Dr. R1 seinem Gutachten vom 23. Juli 1998 zugrunde gelegt hatte, betrug das Mindest-Sehvermögen der Klägerin rechts 7/10 und links 1/5, war also bei weitem nicht in dem für das Merkzeichen "Bl" erforderlichem Umfang eingeschränkt. Auch andere organische Störungen der Augen, Nervenbahnen oder des Gehirns konnten weder bei den Untersuchungen in der Augenklinik und Neurologischen Klinik des Universitätskrankenhauses H. noch von dem Neuroophthalmologen Prof. Dr. R. in der Augenklinik der C. im Juni 2007 festgestellt werden. Unter Berücksichtigung dieser Tatsache gehen alle behandelnden Ärzte von einer psychogenen Blindheit aus, was nichts anderes als eine Störung des Benennens bedeutet. Dies ist von dem vom Sozialgericht gehörten Sachverständigen Dr. S. auch ausdrücklich in dieser Form bestätigt und von dem Bevollmächtigten der Klägerin in seinem Schriftsatz vom 23. November 2010 als richtig unterstellt worden. Ein derartiges Ergebnis stimmt ebenfalls überein mit den Ausführungen des Nervenarztes Dr. von E1 in seinem Befundbericht vom 16. Mai 2008, nach welchen jedenfalls eine tatsächliche Einschränkung des Sehvermögens gerade nicht vorliegt.

Ob das von Dr. von E1 anschaulich beschriebene Verhalten der Klägerin bezüglich ihres Sehvermögens auch unter Berücksichtigung des HNO-ärztlichen Gutachtens des Dr. B. vom 8. Dezember 1999, nach welchem sie bezüglich des Hörvermögens Angaben gemacht hat, die nicht mit den objektiven Befunden in Einklang zu bringen sind, tatsächlich nicht bewusstseinsnah erfolgt, wie von dem Sachverständigen Dr. S. dargestellt, kann letztlich dahingestellt bleiben. Jedenfalls liegt nach allem keine für die Zuerkennung des Merkzeichens "Bl" erforderliche objektive Störung des Sehvermögens im Sinne des § 72 Abs. 5 SGB XII und damit im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 3 Schwerbehindertenausweisverordnung vor.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Der Senat hat die Revision gegen dieses Urteil nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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