L 5 RJ 378/01

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 12 RJ 763/00
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 5 RJ 378/01
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 16. Januar 2001 aufgehoben und die Klage gegen den Bescheid vom 6. März 1997 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 1. Dezember 1997 abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist Rente wegen Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit streitig.

Die am 1943 geborene Klägerin, italienische Staatsangehörige, war ausschließlich in Deutschland von 1966 bis Ende 1993 versicherungspflichtig beschäftigt. Einen Beruf hat sie nicht erlernt. Seit dem Konkurs der Fa. E. , bei der sie als Kettlerin tätig war, ist sie arbeitslos.

Nach Entlassung aus einer stationären medizinischen Rehabilitationsmaßnahme in S. bei vollschichtigem Leistungsvermögen für leichte Tätigkeiten (Diagnosen: pseudoradikuläres Lumbalsyndrom, Gonarthrose, Impingementsyndrom sowie Refluxösophagitis und Antrumgastritis) stellte die Klägerin am 29.11.1996 Antrag auf Rente, den die Beklagte mit Bescheid vom 06.03.1997 entsprechend einem Gutachten des Facharztes für innere Medizin Dr. R. ablehnte. Danach könne sie auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch leichtere bis mittelschwere Arbeiten ohne häufiges Heben, Tragen oder Bewegen von Lasten, ohne überwiegend einseitige Körperhaltung, ohne Arbeiten in Überkopfhöhe und ohne Gefährdung durch Kälte, starke Temperaturschwankungen, Zugluft und bei wechselnden Arbeitspositionen vollschichtig verrichten.

Nach Beiziehung von Befundunterlagen des Facharztes für Orthopädie Dr. F. und des Arztes für Allgemeinmedizin K. G. wies die Beklagte am 01.12.1997 auch den Widerspruch der Klägerin zurück.

Dagegen hat diese Klage zum Sozialgericht Augsburg (SG) erhoben.

Das SG hat erneut Befundberichte (Dres. F. , G. sowie C.) beigezogen und anschließend Gutachten auf orthopädischem Gebiet bei Dres. G. , S. und S. sowie auf neurologischem Gebiet bei Dr. P. eingeholt.

Dr. G. (Gutachten vom 20.08.1998) ist zu dem Ergebnis gekommen, die Klägerin könne leichte Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vollschichtig verrichten. Sie sollte jedoch alle zwei Stunden eine Pause von 20 bis 30 Minuten einlegen. Dr. S. vertritt in seinem Gutachten vom 29.07.1999 die Ansicht, dass die Klägerin in der Lage sei, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt acht Stunden arbeiten zu können, soweit es sich um leichte Tätigkeiten handle. Zusätzliche Arbeitspausen seien nicht erforderlich. Die Klägerin besitze die notwendige Umstellungs- und Anpassungsfähigkeit. Hingegen hat der Sachverständige Dr. S. in seinem Gutachten vom 22.11.1999 festgestellt, dass die Klägerin wegen eines Fibromyalgiesyndroms (FMS) nur zwei bis unter vier Stunden auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt leichte Tätigkeiten verrichten könne. Des Weiteren halte er eine psychiatrische Begutachtung für notwendig. Dr. P. meint in dem daraufhin am 28.02.2000 eingeholten neurologisch-psychiatrischen Gutachten, dass aus seiner Sicht keine Hinweise auf eine Erkrankung bei der Klägerin vorlägen; leichte Arbeiten seien acht Stunden täglich zumutbar.

Durch Urteil vom 16.01.2001 hat das SG die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 06.03.1997 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.12.1997 verurteilt, der Klägerin vom 01.06.2000 bis 31.05.2003 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren. Es ist damit der Einschätzung des orthopädischen Sachverständigen Dr. S. gefolgt, dass die Klägerin nur zwei bis vier Stunden leichte Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verrichten könne. Am Vorliegen eines FMS bestehe kein Zweifel und auch Dr. P. habe ein grenzwertig zur Teilzeit tendierendes Leistungsvermögen festgestellt.

Die Beklagte hat hiergegen Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht (LSG) eingelegt und eine fehlerhafte Beweiswürdigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens, insbesondere eine widersprüchliche eklestizistische Übernahme von Beweisergebnissen aus dem Gutachten von Dr. S. gerügt.

Der Senat hat am 10.10.2001 ein Gutachten auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet durch den Sachverständigen Dr. H. eingeholt, der die Ansicht vertritt, dass aus neurologischer und psychiatrischer Sicht keine Hinweise auf eine Erkrankung bei der Klägerin vorlägen. Leichte Arbeiten seien ihr acht Stunden täglich zumutbar. Auch er sei - wie Dr. P. - der Meinung, dass bei der Klägerin keine gravierende Minderung der Leistungsfähigkeit bestehe und es sich um ein psychiatrisches Erkrankungsbild handele.

Auf Antrag der Klägerin hat der Orthopäde Dr. L. am 26.04. 2002 ein Gutachten erstellt. Es zeige sich - nach Ansicht des Sachverständigen - eindrücklich, wie zu Unrecht eine Zuordnung des FMS in den Bereich der Psychiatrie erfolge. Dieses Krankheitsbild verdiene in epidemiologischer, sozialmedizinischer und ökonomischer Hinsicht eine intensivere wissenschaftliche Bearbeitung. Bei der Untersuchung der Klägerin finde sich an den oberen Gliedmaßen ein ausreichend guter Funktionsbefund, der zunächst den Eindruck vermittele, als wenn hier eine Funktionsstörung vorliege. Muskuläre Dysfunktionen führten aber dazu, dass die am Hinterkopf ansetzenden Muskelgruppen einen chronischen Schmerz erzeugten, der als Spannungskopfschmerz und schließlich als migräneartige Beschwerden empfunden werde. Durch den regelmäßig empfundenen Schmerz reagiere die Skelettmuskulatur reflektorisch mit einer erhöhten Muskelspannung, was den Teufelskreis zwischen Verspannung und Schmerzauslösung ankurbele und letztlich in eine Eskalationsspirale hineinmanövriere. Ein zweites Phänomen beziehe sich auf die chronische Schlafstörung und die sich daraus ergebende Leistungsminderung. Diese Leistungseinbuße sei mit üblichen Meßmethoden nicht verifizierbar und entzieht sich daher einer exakten Objektivierbarkeit. Schließlich erzeugten die konstanten, durch das Funktionsdefizit entstandenen Schmerzen bei nahezu allen Betroffenen eine reaktive Depressivität, die sich allein aus dem Schmerzgeschehen erklären lasse. Es handele sich in solchen Fällen weniger um ein psychosomatisches, sondern vielmehr um ein somato-psychisches Problem. Das alles treffe auf die Klägerin zu. Den Aussagen des Neurologen Dr. H. in seinem Gutachten könne er nicht folgen, weil dieser a priori die Existenz eines FMS bei der Klägerin aberkenne und dessen Kriterien nicht finde, wenngleich er (Dr. L.) und der Vorgutachter entsprechende, eindrucksvolle Palpationskriterien festgestellt hätten.

Dazu hat der Senat am 27.05.2002 eine Stellungnahme von Dr. H. eingeholt. Danach verschweige Dr. L. , dass es ausgedehnte psychosomatische Erwägungen und auch sehr profunde psychodynamische Erklärungsmodelle für das "Krankheitsbild" der FMS gebe, wobei ein auffällig hoher Anteil von Patientinnen (es seien überwiegend Frauen) die Beschwerden zum Zeitpunkt kritischer Lebensereignisse, sog. Schwellensituationen, wahrnehme. Der Begriff FMS werde in den letzten Jahren nahezu inflationär angewandt und zwar immer dann, wenn Betroffene über "Ganzkörperschmerzen" klagten, die sich als solche einem organischen Korrelat nicht zuordnen ließen. Es werde dann der Versuch gemacht, Hypothesen aufzustellen, dass auf dem Boden "vermutlicher muskulärer Dysbalance" eine Schmerzchronifizierung auftrete, die durch fehlerhafte Nozizeptorenmuster entstehe. Dies alles seien Hypothesen, die keinen allgemeinen Konsens gefunden hätten und auch sehr nebulös blieben. Objektivierbare harte Diagnosekriterien existierten nicht, was auch Dr. L. in seinem Gutachten bestätige. Anderen Orthopäden wie dem Sachverständigen Dr. S. seien die Zusammenhänge durchaus bekannt. Dr. S. betone, dass die FMS ein Krankheitsbild sei, welches "eigentlich im Prinzip hauptsächlich von Psychiatern begutachtet wird". Daher erscheine eine psychiatrische Begutachtung als notwendig. In der allgemein anerkannten Gutachtensliteratur gelte die FMS grundsätzlich nicht als zeitlich leistungsmindernde Erkrankung. In der Regel sei eine vollschichtige Leistungsfähigkeit für leicht bis mittelschwere Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erhalten. Entscheidend bleibe für die sozialmedizinische Beurteilung eine relevante körperliche oder seelische Erkrankung, die das Schmerzsyndrom erklären könne. Davon hänge es ab, inwieweit eine qualitative oder quantitative Leistungsminderung begründet werden könne. Im vorliegenden Falle fänden sich keine Hinweise auf eine schwerwiegende organische Erkrankung und auch nicht auf einen psychopathologischen Befund von eigenständigem Krankheitswert. Es fänden sich weder eine tiefergehende depressive Verstimmung noch eine Psychose oder ein hirnorganisches Psychosyndrom. Das vielfältige körperliche Beschwerdebild ohne adäquates organisches Korrelat sei i. S. einer "undifferenzierten Somatisierungsstörung" (F 45. 1) zu werten, wobei zahlreiche unterschiedliche körperliche Beschwerden vorgebracht würden, denen kein adäquates organisches Korrelat zukommte. Ein wesentliches Kriterium stelle auch die tatsächlich durchgeführte Therapie dar, zeige sie doch, inwieweit ein Leidensdruck bestehe. Hinweise auf eine Beeinträchtigung im sozialen Bereich fänden sich nicht. Weshalb Dr. L. im Falle der Klägerin eine Ausnahme vom vollschichtigen Leistungsvermögen mache, sei nicht nachvollziehbar. Es gebe überhaupt keinen Untersuchungsbefund, der eine Leistungsminderung begründen könne. Er stütze sich ausschließlich auf die subjektiven Angaben von Schmerzen, die in keiner Weise überprüfbar und nachvollziehbar seien und die auch nicht behandelt würden.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 16.01.2001 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 06.03.1997 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 01.12.1997 abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 16.01.2001 zurückzuweisen.

Auf den Inhalt der Akten beider Instanzen sowie der Beklagten wird zur Ergänzung des Sachverhalts Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die ohne Zulassung (§ 144 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt (§§ 143, 151, 153 Abs. 1, 87 Abs. 1 Satz 2 SGG).

In der Sache hat das Rechtsmittel Erfolg.

Die Beklagte ist nicht verpflichtet, der Klägerin Rente wegen Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit zu gewähren. Die Klägerin ist weder berufsunfähig im Sinne des § 43 Abs.2 SGB VI in der bis zum 31.12.2000 geltenden Fassung (anzuwenden gem. § 300 Abs.1, 2 SGB VI, Art 24 Abs. 1 EM-ReformG vom 20.12. 2000), noch erwerbsunfähig nach den Rechtsvorschriften vor und nach dem EM-ReformG (§§ 44 bzw. 43 SGB VI).

Nach § 43 Abs.2 SGB VI a.F. ist nur der Versicherte berufsunfähig bzw. nach § 240 EM-ReformG vom 20.12.2000 wegen Berufsunfähigkeit teilerwerbsgemindert, dessen Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder wegen Behinderung auf weniger als die Hälfte (bzw. unter sechs Stunden) derjenigen von körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfasst alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs oder der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können.

Die Klägerin war als Kettlerin bei der Firma E. beschäftigt (bisheriger Beruf). Dabei handelt es sich - entsprechend dem vom SG beigezogenen Lohngruppenverzeichnis wie auch nach der in der vorgelegten Gehaltsabrechnung für Oktober 1993 enthaltenen Schlüsselziffer - iSv § 28 a Abs. 3 Nr. 5 SGB IV um eine einfach angelernte Tätigkeit mit einer Anlernzeit von unter 3 Monaten. Die Bezeichnung nach dem Schlüsselverzeichnis der Bundesanstalt für Arbeit vermerkt "344 11", was gegen eine Ausbildung und Beschäftigung als Facharbeiterin spricht; das wäre "344 22". Weder der von der Klägerin vorgelegte Arbeitsvertrag noch ihre sonst gemachten Angaben, z.B. in ihrem Rentenantrag, enthalten Hinweise für eine Tätigkeit, die über der einer einfach Angelernten hinausginge. Dagegen spricht gerade auch die vom SG vorgenommene Analyse des Tarifvertrages; insoweit wird gem. § 153 Abs.2 SGG voll auf das Urteil vom 16.01.2001 (Seiten 9 und 10) Bezug genommen. Im Übrigen geht der Nachweismangel, bedingt durch den Konkurs der Fa. E. , nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast zu Lasten der Klägerin, da sie sich des Rentenanspruchs berühmt.

Damit genießt die Klägerin keinen qualifizierten Berufsschutz; insbesondere ist sie nicht der Gruppe der Oberangelernten zuzuordnen, bei denen Anlernzeiten von 3 Monaten bzw. eine Regelausbildung bis zu zwei Jahren erforderlich und Verweisungstätigkeiten konkret zu benennen wären (vgl. BSG SozR 2200 § 1246 Nr 143 S 473 mwN). Nur bei diesen relativ hoch angesiedelten Angelernten müssen sich zumutbare Verweisungstätigkeiten durch Qualitätsmerkmale, etwa das Erfordernis einer Einweisung und Einarbeitung oder die Notwendigkeit beruflicher oder betrieblicher Vorkenntnisse, auszeichnen. Angelernte Arbeiter - wie die Klägerin - sind auf Tätigkeiten ihrer Gruppe und der der Ungelernten verweisbar. Nur auf Tätigkeiten mit ganz geringem qualitativen Wert (zB Reiniger, Platzarbeiter, Parkplatzwächter) darf nicht verwiesen werden (BSGE 43, 243, 247 = SozR 2200 § 1246 Nr 16).

Damit bestimmt sich die subjektive Zumutbarkeit des Einsatzes des Restleistungsvermögens der Klägerin nach dem allgemeinen Arbeitsmarkt (vgl. § 44 Abs 2 Satz 1, 2. Alt. RRG 92, § 43 Abs. 1 Satz 2 EM-ReformG). Dort ist das Erwerbsvermögen der Klägerin aber weder unter vier (§ 43 SGB VI RRG 92) noch unter sechs Stunden (§ 240 EM-ReformG) herabgesunken.

Die Klägerin ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme noch in der Lage, vollschichtig leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auszuüben. Aus orthopädischer Sicht liegt bei ihr zwar aufgrund der Gutachten von Dr. G. , Dr. S. und Dr. S. , auch Dr. L. , eine Beeinträchtigung ihrer Erwerbsfähigkeit durch eine ausgeprägte statisch dynamische Insuffizienz der Wirbelsäule bei Adipositas permagna, ein HWS-Syndrom, ein weichteilrheumatisches Schmerzsyndrom (FMS) und eine initiale mediale Gonarthrose beidseits vor. Dennoch besteht bei den orthopädischen Sachverständigen - mit Ausnahme von Dres. S. und L.- Einigkeit darüber, dass der Klägerin für leichte Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eine Resterwerbsfähigkeit verblieben ist. Auch aus den Befundberichten der behandelnden Ärzte Dr. F. , K. G. und Dr. C. ergibt sich insoweit nichts anderes. Streit besteht zwischen den orthopädischen Sachverständigen lediglich hinsichtlich des zeitlichen Leistungsvermögens und der Notwendigkeit von Pausen (Verteilung der Arbeitszeit). So geht Dr. G. in seinem Gutachten zwar von einem vollschichtigen Leistungsvermögen aus. Die Klägerin sollte jedoch alle zwei Stunden eine Pause von 20 bis 30 Minuten einlegen. Dr. S. hält zusätzliche Pausen nicht für notwendig. Dagegen vertritt Dr. S. die Ansicht, die Klägerin könne nur zwei bis vier Stunden leichte Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verrichten. Grund hierfür sei das bei der Klägerin festgestellte FMS, nicht die orthopädischen Krankheitsbefunde. Das FMS äußere sich bei der Klägerin in einer deutlichen Schlafstörung und gesteigerte Schmerzempfindlichkeit. Dr. S. erklärt aber auch, dass es sich bei der FMS um ein Krankheitsbild handle, das im Prinzip vom Psychiater begutachtet wird. Damit weist er eindeutig darauf hin, wie auch der Sachverständige Dr. H. (vgl. auch MedSach 2000, 132ff. Begutachtung der FMS ) in seinem schlüssigen Gutachten zu Recht schreibt, dass das FMS als seelische Störung aufzufassen und auch von Psychiatern zu bewerten ist. Schon von daher kann der Senat der Beurteilung des Dr. S. nicht folgen, was sich durch die daraufhin erfolgte nervenärztliche Begutachtung durch Dr. P. für das Sozialgericht Augsburg erhärtet hat. Dieser fand keinen pathologischen Befund auf neurologischem oder psychiatrischem Fachgebiet.

Darüber hinaus konnte insbesondere der Sachverständigen Dr. H. überzeugend darlegen, dass eine psychische Störung von Krankheitswert bei der Klägerin nicht vorliegt. Beide - Dr. S. wie Dr. H. - beurteilen das Leistungsvermögen der Klägerin aufgrund ihrer eingehenden Untersuchungen - auch unter Einschluss orthopädischer Befunde - so, dass die Klägerin durchaus in der Lage sei, ohne Gefährdung ihrer Gesundheit, regelmäßig acht Stunden arbeitstäglich Arbeiten zu verrichten. Dr. H. stellte zusammenfassend auch vom klinischen Befund her fest, dass kein Hinweis auf eine schwerwiegende organische Erkrankung besteht. Die Wirbelsäule zeigte keine Funktionseinschränkung und vor allem keine Hinweise auf eine Nervenwurzelirritation. Die Gelenke waren frei beweglich, auch der übrige Organbefund war unauffällig. Es ergab sich aber auch kein Hinweis auf einen psycho-pathologischen Befund von eigenständigem Krankheitswert. Es fand sich weder das Vorliegen einer tiefergehenden depressiven Verstimmung noch einer Psychose oder eines hirnorganischen Psychosyndroms. Dieses vielfältige körperliche Beschwerdebild ohne adäquates organisches Korrelat ist eine "undifferenzierte Somatisierungsstörung" (F 45.1) Eindeutige Hinweise auf eine psychologische Verursachung dieser Beschwerden fanden sich anamnestisch nicht; dies lässt sich mit der angeführten Diagnose in Übereinstimmung bringen. Es entstand bei der Untersuchung - nach Dr. H. der Eindruck bewusstseinsnaher bis bewusster Verdeutlichungstendenzen mit finaler Ausrichtung. Auch die tatsächlich durchgeführte Therapie, ein wesentliches Kriterium der Beurteilung, zeigt keinen relevanten Leidensdruck. Es wird ausschließlich hausärztlich mit "Tropfen für den Magen und Tabletten für die Menopause" behandelt. Weitere Therapiemaßnahmen werden nicht durchgeführt. Ganz offensichtlich werden weder Schmerzmittel noch Psychopharmaka benötigt, auch keine nervenärztliche Behandlung und keine Psychotherapie. Im übrigen ist die Klägerin sozial gut integriert, versorgt ihren Haushalt, geht spazieren und hat ausreichende soziale Kontakte. Hinweise auf eine Beeinträchtigung im sozialen Bereich fanden sich nicht. Durch diese Begründung stellt Dr. H. unter Beweis, dass er den allgemeinen Regeln der Begutachtung entspricht, wie sie die neuere psychiatrische Literatur zur Einschätzung der Erwerbsbeeinträchtigung durch somatoforme (Schmerz-)störungen kennt (z.B. B. Widder und J.C. Aschoff, somatoforme Störung und Rentenantrag: Erstellen einer Indizienliste zur quantitativen Beurteilung des beruflichen Leistungsvermögens, MEDSACH 95, 14ff., Foerster, a.a.O. FN 9; Konrad, a.a.O. FN 18, Hausotter in Suchenwirth, Kunze und Krasney, Neurologische Begutachtung, 3. Aufl., 2000, Kap 37; Hausotter MEDSACH 1997, 184, Foerster Sozialmedizinische Begutachtung in der gesetzlichen Rentenversicherung, 5. Aufl., 1995, Kap 25, S.509 ff., Sonderheft des VDR 2001; neuesten "Empfehlungen zur Schmerzbegutachtung" von Widder B., Hausotter W., Marx P., Puhlmann H. U., Wallesch C. W. Med. Sach. 98 (2002) 27-29). Die dort angeführten Kriterien oder Indizienlisten bzw. eine begründete Gesamtschau bei kritischer Würdigung der geklagten Beschwerden werden in dem Gutachten von Dr. H. abgehandelt. Schließlich hat die Klägerin bis heute keine beständige fachpsychiatrische Behandlung mit Psychotherapie wahrgenommen, womit Dr. H. zurecht auf einen fehlenden Leidensdruck durch die somatoforme Störung hinweist (Merkmal der durchgeführten und fortgesetzten Therapie, vgl. Hausotter, MEDSACH 1995, 12). Dem kann auch Dr. L. nichts wissenschaftlich Fundiertes gegenübersetzen. Dr. H. hat ihn in der Stellungnahme vom 27.05.2002 voll widerlegt. Es besteht auch keine Veranlassung, nochmals eine Äußerung von Dr. L. herbeizuführen. Dieser hatte Gelegenheit, und hat sie auch genutzt, zum Gutachten von Dr. H. Stellung zu nehmen.

Mit den vorausgehenden Vorgutachten besteht im Gutachten von Dr. H. hinsichtlich des Leistungsvermögens bis auf das orthopädische Gutachten Dr. S. vom 22.11.99 volle Übereinstimmung. Dieses ist widersprüchlich. Einerseits konnte Dr. S. - wie schon oben dargelegt - auf organischem Gebiet keine neuen Aspekte aufzeigen und bestätigte die bisherigen Diagnosen, andererseits stellte er die Krankheitsbezeichnung "FMS" in den Raum, die objektiv nicht nachprüfbar ist und im Grunde nur die subjektiven Beschwerden i.S. von "Sehnen -Muskel- Schmerz" fremdsprachlich übersetzt. Allein deshalb sah er das Leistungsvermögen auf 2 bis unter 4 Stunden täglich abgesunken, schränkte aber gleichzeitig ein, daß gerade dieses Krankheitsbild der "FMS " eigentlich im Prinzip von Psychiatern hauptsächlich begutachtet werde und empfahl eine solche Begutachtung. Diese ergab dann ein vollschichtiges Leistungsvermögen. Das vorliegende neurologisch-psychiatrische Gutachten Dr. P. vom 28.02.00 für das Sozialgericht Augsburg ist in vollem Umfang zutreffend, und die dortigen Befunde entsprechen auch dem von Dr. H. erhobenen Befund.

Das Gutachten von Dr. L. ist nach Dr. H. und zur Überzeugung des Senats ebenfalls in sich widersprüchlich. Denn danach sei bei der Einschätzung der Leistungsfähigkeit von chronischen FMS - Erkrankten beim heutigen Kenntnisstand festzustellen, dass von den etwa 2 Mio. in Deutschland (Raspe) nur wenige Prozent so schwer funktionsgestört sind, dass sie keinerlei beruflichen Tätigkeit mehr nachgehen können. Der überwiegende Teil sei trotz der chronischen Schmerzen in der Lage, unter Aufbietung von zumutbarer Energie einer beruflichen Tätigkeit nachzukommen, auch wenn in vielen Fällen qualitative Einschränkungen beachtet werden müssen. Damit stimmt er auch mit Dr. H. überein, der ausführt, in der allgemein anerkannten Gutachtensliteratur gelte die FMS grundsätzlich nicht als zeitlich leistungsmindernde Erkrankung. In der Regel sei eine vollschichtige Leistungsfähigkeit für leicht bis mittelschwere Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erhalten. Entscheidend bleibe für die sozialmedizinische Beurteilung eine relevante körperliche oder seelische Erkrankung, die das Schmerzsyndrom erklären könne. Davon hänge es ab, inwieweit eine qualitative oder quantitative Leistungsminderung begründet werden könne. Letztlich genügt damit nach Ansicht des Senats nicht die bloße Diagnose eines FMS, um Erwerbsunfähigkeit zu bejahen, sondern es müssen besondere Umstände vom Sachverständigen dargelegt werden, weswegen gerade der betreffende Erkrankte - entgegen der überwiegenden Mehrheit - in relevantem Ausmaß erwerbsgemindert sei. Dies konnte Dr. L. nicht in einer für den Senat überzeugender Weise darlegen, dass gerade im Falle der Klägerin eine solche schwerwiegende schmerzhafte Funktionsstörung gegeben ist, die die Leistungsfähigkeit derart limitiert. Dafür fehlt es an einer konkreten Begründung. Dr. L. hat zwar eindrucksvoll allgemeine Begutachtungsprobleme des generalisierten FMS aufgeführt, wie z.B. die Zuordnung des Patienten in den Bereich der Psychiatrie bzw. Psychologie bzw. die Erforderlichkeit einer intensiveren wissenschaftlichen Bearbeitung in epidemiologischer, sozialmedizinischer und ökonomischer Hinsicht. Seine Schlussfolgerungen im vorliegenden Falle sind aber deswegen weder allgemein - gegenüber den Ausführungen von Dr. H. - nachvollziehbar; noch insbesondere konkret, weswegen gerade die Klägerin keinerlei beruflichen Tätigkeit mehr nachgehen könne.

Da die Klägerin einer vollschichtigen Tätigkeit nachgehen kann, liegt bei ihr auch keine Erwerbsunfähigkeit gemäß § 44 SGB VI in der bis 01.01.2001 geltenden Fassung vor, ebenso wenig Erwerbsunfähigkeit gemäß § 43 SGB VI in der ab 01.01.2001 geltenden - noch strengeren - Fassung (sechsstündiges Erwerbsvermögen). Denn erwerbsunfähig sind nach § 44 Abs 2 SGB VI (RRG 92 nach 1996 und vor 2001) Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen zu erzielen, das 1/7 der monatlichen Bezugsgröße bzw. ab 01.04.1999 einen Betrag von 630 DM übersteigt. Nach dem EM-ReformG ist voll erwerbsgemindert, wer wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

Der Begriff des allgemeinen Arbeitsmarkts (vgl. § 44 Abs 2 Satz 1, 2. Alt. RRG 92, § 43 Abs. 1 Satz 2 EM-ReformG) hat durch das EM-ReformG keine Änderung erfahren, auch wenn § 43 Abs. 1 Satz 2 EM-ReformG von den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts spricht (vgl. Majerski-Pahlen, NZS 02, 475; 477). Das von den den Senat überzeugenden Sachverständigen festgestellte negative Leistungsbild erlaubt der Klägerin noch eine vollschichtige Tätigkeit und ist darüber hinaus auch nicht geeignet, ein auf dem Arbeitsmarkt unübliches Leistungsvermögen unter Beweis zu stellen. Der Klägerin sind mittelschwere bis schwere körperliche Tätigkeiten nicht mehr möglich. Der Senat ist entsprechend auch der Einschätzung durch die Sachverständigen der Überzeugung, dass die Klägerin mit diesem Restleistungsvermögen in gewissen körperlichen Verrichtungen, die in ungelernten Tätigkeiten gefordert zu werden pflegen, behindert, damit aber noch nicht wegen einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung (vgl. BSG vom 30.10.1997 - 13 RJ 49/97 m.w.N.) - gemessen an den tatsächlichen Anforderungen der Arbeitswelt (konkrete Betrachtungsweise im Ausnahmefall) - gehindert ist, erwerbstätig zu sein. Sie könnte noch Tätigkeiten wie z.B. Zureichen, Abnehmen, Reinigen, Bedienen von Maschinen, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen usw. verrichten.

Bei dem vorhandenen negativen Leistungsbild liegt auch - trotz vorhandenen vollschichtigen Leistungsvermögens - keine Verschlossenheit des Arbeitsmarktes aufgrund eines sog. Katalogfalles (vgl. SozR 2200 § 1246 Nrn. 30, 75, 81, 90, 104, 109, 117; SozR 3-2200 § 1247 Nr. 8, § 1246 Nr. 41; jetzt nach § 43 Abs. 3 EM-ReformG "übliche" Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes) vor. Denn weder hat die Klägerin besondere Schwierigkeiten hinsichtlich der Gewöhnung und Anpassung an einen neuen Arbeitsplatz (BSG SozR 2200 § 1246 Nrn. 104, 117), noch weist sie Leistungseinschränkungen auf, die sich in Verbindung mit anderen Einschränkungen besonders erschwerend bei einer Arbeitsplatzsuche auswirkten, wie z.B. die von der Rspr. erwähnten Fälle der Erforderlichkeit zusätzlicher Arbeitspausen (BSG SozR 2200 § 1246 Nr. 136), Einschränkungen bei Arm- und Handbewegungen, jederzeit selbstbestimmtem Wechsel vom Sitzen zum Gehen (BSG SozR 3-2200 § 1247 Nr. 8), Einarmigkeit und Einäugigkeit (BSG SozR 2200 § 1246 Nr. 30).

Ob die Versicherte tatsächlich in einen solchen Arbeitsmarkt vermittelt werden kann, ist rechtlich unerheblich, da bei vollschichtig einsatzfähig Versicherten - unter Außerachtlassung oben erwähnter Sonderfälle - der Arbeitsmarkt offen ist und das Risiko der Vermittlung nicht von der gesetzlichen Renten-, sondern von der Arbeitslosenversicherung zu tragen ist (vgl. BSG SozR 2200 § 1246 RVO Nr.19).

Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 06.03.1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.12.1997 war daher nach allem nicht zu beanstanden und der Berufung stattzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich (§ 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
Saved