Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
19
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 10 RJ 407/96
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 19 RJ 436/99
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 08.06.1999 aufgehoben. Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 30.06.1995 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 30.04.1996 verurteilt, der Klägerin auf der Grundlage eines am 10.06.1997 eingetretenen Leistungsfalles die gesetzlichen Leistungen wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit bis längstens 31.12.2001 anstelle der Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren.
II. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
III. Die Beklagte hat der Klägerin 3/4 der außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten sind Leistungen wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) anstelle der bereits bewilligten Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU) streitig.
Die am 1942 geborene Klägerin bezieht seit 01.12.1984 Rente wegen BU als Friseurin. Maßgebend für die Zuerkennung der Rente waren die während des Berufungsverfahrens vor dem Bayer. Landessozialgericht (L 14 Ar 617/86) eingeholten Gutachten des Internisten Dr.S. vom 19.05.1987 und des Chirurgen Dr.E. vom 14.12.1987, nach denen die Klägerin bereits seit Februar 1984 den Beruf der Friseurin nicht mehr in voller Schicht ausüben konnte.
Am 22.03.1995 beantragte die Klägerin wegen der Gesundheitsstörungen "HWS-Syndrom und Herzrhythmusstörung" Rente wegen EU. Im Gutachten vom 02.06.1995 vertrat der Sozialmediziner Dr.H. die Auffassung, die Klägerin könne auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch leichte Arbeiten im Wechselrhythmus mit Einschränkungen vollschichtig verrichten. Im Anschluss an dieses Gutachten lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 30.06.1995 die Gewährung von Rentenleistungen wegen EU ab. Im Widerspruchsverfahren ließ die Beklagte die Klägerin neurologisch-psychiatrisch durch Frau Dr.B. (Gutachten vom 12.03.1996), chirurgisch durch Dr.L. (Gutachten vom 13.03.1996) und internistisch durch Dr.B. (Gutachten vom 11.03.1996) untersuchen. Diese ärztlichen Sachverständigen gelangten übereinstimmend zu dem Ergebnis, die Klägerin könne in Vollschicht noch leichte, gelegentlich auch mittelschwere Arbeiten verrichten. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 30.04.1996 als unbegründet zurück.
Dagegen hat die Klägerim am 03.06.1996 Klage beim Sozialgericht (SG) Nürnberg erhoben. Nach Beinahme verschiedener Befundberichte ist der Orthopäde Dr.M. im Gutachten vom 17.12.1996 zu der Beurteilung gelangt, der Klägerin seien noch leichte Berufstätigkeiten vollschichtig zumutbar, so zB als Telefonistin und Gemüseputzerin.
Im Juni 1997 wurde bei der Klägerin wegen eines bösartigen Mammatumors eine sogenannte Segmentektomie der linken Brust vorgenommen, zudem das axilläre Lymphknotenfettgewebe entfernt. Auf Antrag der Klägerin hat das SG den Internisten Prof. Dr.H. gehört, der in dem nach Aktenlage erstellten Gutachten vom 11.09.1997 die Auffassung vertrat, die Klägerin sei nach der Krebsoperation auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht mehr vermittelbar. Die Beklagte bewilligte der Klägerin ein stationäres Heilverfahren, das vom 23.09. bis 14.10.1997 durchgeführt wurde; nach dem Entlassungsbericht der Kurklinik B. waren der Klägerin zur damaligen Zeit keine Tätigkeiten von wirtschaftlichem Wert möglich. Aus dem weiter von der Beklagten bewilligten Heilverfahren (19.03. bis 09.04.1998 in B.) wurde die Klägerin als zunächst arbeitsunfähig entlassen; sie könne jedoch leichte Tätigkeiten im Wechselrhythmus vollschichtig ausüben.
Nach Beinahme eines Befundberichtes des Frauenarztes Dr.B. und der Berichte über die durchgeführte Strahlentherapie hat das SG anlässlich der Verhandlung vom 08.12.1998 den Sachverständigen Dr.G. gehört, der leichte Tätigkeiten in Vollschicht für zumutbar hielt. Auf erneuten Antrag der Klägerin erstattete Prof. Dr.H. das Gutachten vom 01.03.1999 (nach ambulanter Untersuchung). Er vertrat weiterhin die Auffassung, dass die Klägerin seit Behandlung des Brustkrebses (Juni 1997) eu sei.
Mit Urteil vom 08.06.1999 hat das SG die Klage abgewiesen. Es hat sich im Wesentlichen der Beurteilung des Sachverständigen Dr.G. angeschlossen und ausgeführt, die Klägerin könne noch leichte Arbeiten in wechselnder Stellung und in geschlossenen Räumen in Vollschicht verrichten. Der Arbeitsmarkt sei für sie nicht iS der Katalog- bzw Seltenheitsfälle nach der Rechtsprechung des BSG verschlossen.
Dagegen richtet sich die Berufung der Klägerin, die sie ua damit begründet, das SG habe das Vorliegen einer reaktiven Depression in Folge der Brusterkrankung zu Unrecht verneint. Demgegenüber habe Prof. Dr.H. zweifelsfrei festgestellt, dass sie schwer depressiv erkrankt sei. Dessen Gutachten sei überzeugend, da auch die Ärzte der Kurklinik B. im Bericht vom 21.10.1997 zu dem Ergebnis gelangt seien, dass sie aufgrund ihrer Erkrankungen außer Stande sei, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben.
Der Senat hat Befundberichte des Internisten Dr.H. und des Frauenarztes Dr.B. beigezogen und den Neurologen und Psychiater Dr.W. zum ärztlichen Sachverständigen ernannt. Dieser gelangte im Gutachten vom 17.03.2000 und in der ergänzenden Stellungnahme (eingegangen beim BayLSG am 10.10.2000) zu der Beurteilung, die Klägerin könne ab Juni 1997 (seit dem Eintreten der Brustkrebserkrankung) nur noch maximal halbschichtig tätig sein.
Unter Hinweis auf die Stellungnahme der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr.B. bot die Beklagte vergleichsweise an, bei der Klägerin für die Zeit vom 15.03.2000 bis längstens 30.09.2002 das Vorliegen von EU anzuerkennen. Die Klägerin hat dieses Vergleichsangebot nicht angenommen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des SG Nürnberg vom 08.06.1999 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 30.06.1995 idF des Widerspruchsbescheides vom 30.04.1996 zu verurteilen, Rente wegen EU aufgrund eines im Juni 1997 eingetretenen Leistungsfalles zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
Sie geht in Übereinstimmung mit dem Erstgericht davon aus, dass die Klägerin noch in der Lage sei, leichte Tätigkeiten unter qualitativen Einschränkungen vollschichtig zu verrichten.
Beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren neben den Streitakten erster und zweiter Instanz die Unterlagen der Beklagten und die früheren Streitakten des SG Nürnberg.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Klägerin ist form- und fristgerecht eingelegt (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) und auch im Übrigen zulässig.
Das Rechtsmittel erweist sich auch zum überwiegenden Teil als begründet. Entgegen der Auffassung der Beklagten ist die Klägerin seit einem am 10.06.1997 eingetretenen Leistungsfall erwerbsunfähig iS des Gesetzes und hat Anspruch auf die gesetzlichen Leistungen wegen EU auf Zeit bis längstens 31.12.2001.
Erwerbsunfähig sind nach § 44 Abs 2 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) - in der bis 31.12.2000 geltenden Fassung - Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen zu erzielen, das ein Siebtel der monatlichen Bezugsgröße übersteigt. Darüber hinaus sind nach dem Beschluss des gemeinsamen Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 10.12.1976 (BSGE 43, 75 ff) Versicherte erwerbsunfähig, die im Haupt- oder Verweisungsberuf halbschichtig bis unter vollschichtig einsatzfähig sind und denen ein leistungsgerechter Teilzeitarbeitsplatz nicht angeboten wird. Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt.
Nach den Ermittlungen des Senats ist die Erwerbsfähigkeit der Klägerin im Wesentlichen durch folgende Gesundheitsstörungen eingeschränkt:
1. Cervikalsyndrom mit leichter abgeschlossener Wurzelläsion C 7 rechts.
2. Geringfügiges asymptomatisches Karpaltunnelsyndrom beidseits.
3. Neuralgie - Ischialgie rechtes Bein ohne weitere erkennbare lumbale Wurzelläsion.
4. Zustand nach Brustoperation und Bestrahlung. Rezidivierende
5. Migräne.
6. Anhaltende endoreaktive Depression.
Durch diese Gesundheitsstörungen ist die Erwerbsfähigkeit der Klägerin erheblich gemindert. Dabei ist zwischen den Beteiligten nicht mehr streitig, dass die Klägerin derzeit nicht in der Lage ist, vollschichtig erwerbstätig zu sein.
Streit besteht zwischen den Beteiligten noch darüber, wann die Leistungsminderung mit der rechtlichen Folge der EU eingetreten ist. Für den Senat sind in dieser Frage die begründeten und schlüssigen Ausführungen des Dr.W. in seinem Gutachten überzeugend, nach denen die Klägerin maximal halbschichtig einsetzbar ist. Bei der Anamneseerhebung anlässlich der Untersuchung durch Dr.W. hat die Klägerin vorgebracht, dass sie schon Jahre vor der Brustoperation einsetzende Depressionen empfunden habe, die aber weder beim Hausarzt noch durch entsprechende Konsultierung von Psychiatern behandelt wurden. Diese an sich glaubhaften Gesundheitsstörungen der Klägerin konnten dann nach dem Auftreten der Brusterkrankung nicht mehr ausreichend kompensiert werden und führten zu immer noch anhaltenden deutlichen Beschwerden. So besteht bei der Klägerin eine zusätzliche erhebliche Einschränkung der psychophysischen Dynamik, des Antriebs, des Durchhaltevermögens und der affektiven Stressbelastbarkeit. Dadurch hat sich weiter eine Minderung der Vitalität und der Durchhaltekraft bei der Arbeitsbewältigung im Alltag ergeben. In Verbindung mit diesen psychischen Störungen sind somatische Klagen ebenfalls stärker hervorgetreten bzw können - zumindest derzeit - nicht mehr ausreichend willentlich kompensiert werden. Diesem Ergebnis in der Beurteilung der Leistungsfähigkeit der Klägerin steht auch nicht die Auffassung des vom SG gehörten Sachverständigen Dr.G. entgegen. Denn dieser ist kein Psychiater und hat sich auch nicht näher mit dem psychischen Befinden der Klägerin auseinandergesetzt. Die Feststellung, dass sich kein Anhalt für eine neurotische oder psychotische Symptomatik von Krankheitswert gefunden habe, kann bei Konzentration des Gutachtens auf funktionelle Störungen im organischen Bereich und eine kurze Einlassung bzgl des psychischen Zustandes nicht ernsthaft als Beweis gegen das Vorliegen einer schweren psychischen Störung herangezogen werden. Psychische Auffälligkeiten bei der Klägerin waren - entgegen der Auffassung der Beklagten - bereits vor der Untersuchung durch Dr.W. (März 2000) aktenkundig. Der Internist Dr.H. hat im Befundbericht vom 08.02.2000 ua die Diagnose "reaktive Depression" aufgeführt, der Arzt für Neurologie und Psychiatrie L. hat bereits im Arztbrief vom 23.03.1993 eine "psychosomatische Syndrom-Generalisierung" erwähnt. Gegen die Annahme einer schwerwiegenden Depression spricht auch nicht der Umstand, dass die Klägerin zwischenzeitlich keine fachliche Hilfe in Anspruch genommen hat. Denn nach den Ausführungen von Dr.W. ist bei der objektiven und auch durch psychotherapeutische Maßnahmen und Psychopharmaka nicht korrigierbaren schlechten Grundlage für eine ausreichende Kompensierung dieser Schicksalswendung nicht davon auszugehen, dass die Klägerin unter Einsatz entsprechender Maßnahmen mit Wahrscheinlichkeit ihre vollschichtige Belastbarkeit hätte erhalten können.
Bei Gesamtwürdigung aller bei der Klägerin vorliegenden Gesundheitstörungen kann im Anschluss an die Ausführungen von Dr.W. als sicher gelten, dass die bis zur Brustoperation im Juni 1997 noch kompensierten psychischen Beeinträchtigungen, die aus einer insgesamt enttäuschenden Lebensentwicklung (Fehlgeburten mit nachfolgenden Bauchoperationen und einer damit einhergehenden Beeinträchtigung ihrer ehelichen Gemeinschaft) verständlich werden, ab diesem Zeitpunkt nicht mehr verarbeitet werden konnten und die Klägerin seither anhaltend schwer depressiv in ihrem Antrieb gestört ist. Sie kann ihre körperlichen Beschwerden schlechter kompensieren, dh sie klagt in verstärktem Maße darüber und ist insgesamt adynam, schleppend in ihrer Motorik geworden. Diese entscheidende Einschränkung in der Erwerbsfähigkeit der Klägerin ist auch zur Überzeugung des Senats im Zeitpunkt der Brustoperation im Juni 1997 eingetreten. Nach den auch insoweit überzeugenden Ausführungen von Dr.W. ist seitdem ein vollschichtiges Leistungsvermögen nicht mehr gegeben.
Ist ein Versicherter aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in der Lage, einer Ganztagstätigkeit nachzugehen und ist ihm lediglich ein Teilzeitarbeitsplatz zuzumuten, so kommt es für einen Rentenanspruch darauf an, ob es entsprechende Teilzeitarbeitsplätze in hinreichender Zahl gibt. Der Versicherte darf auf Tätigkeiten für Teilzeitarbeit nicht verwiesen werden, wenn ihm für diese Tätigkeiten der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen ist. Dem Versicherten ist der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen, wenn ihm innerhalb eines Jahres nach Stellung des Rentenantrags ein für ihn in Betracht kommender Arbeitsplatz nicht angeboten werden kann. Dies war bei der Klägerin der Fall. Sie ist somit nach der Rechtsprechung des BSG erwerbsunfähig und hat Anspruch auf eine befristete Rente nach § 102 Abs 2 Nr 2 SGB VI. Danach werden Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit auf Zeit gewährt, wenn der Anspruch auch von der jeweiligen Arbeitsmarktlage abhängig ist, es sei denn, die Versicherten vollenden innerhalb von zwei Jahren nach Rentenbeginn das 60. Lebensjahr.
Diese Voraussetzungen für die Gewährung einer befristeten Rente wegen EU sind vorliegend erfüllt. Der Rentenbeginn ergibt sich aus § 101 Abs 1 SGB VI. Da eine wesentliche Änderung der Arbeitsmarktlage und des Angebots an Teilzeitarbeitsplätzen in absehbarer Zeit nicht zu erwarten ist, hat der Senat die Rente bis zum Ablauf des Jahres 2001 befristet.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Dabei war zu berücksichtigen, dass die Klägerin unbefristete Leistungen wegen EU ab Rentenantragstellung (22.03.1995) beantragt hat, während ihr lediglich befristete Rente mit einem späteren Rentenbeginn zugesprochen wurde.
Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG liegen nicht vor.
II. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
III. Die Beklagte hat der Klägerin 3/4 der außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten sind Leistungen wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) anstelle der bereits bewilligten Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU) streitig.
Die am 1942 geborene Klägerin bezieht seit 01.12.1984 Rente wegen BU als Friseurin. Maßgebend für die Zuerkennung der Rente waren die während des Berufungsverfahrens vor dem Bayer. Landessozialgericht (L 14 Ar 617/86) eingeholten Gutachten des Internisten Dr.S. vom 19.05.1987 und des Chirurgen Dr.E. vom 14.12.1987, nach denen die Klägerin bereits seit Februar 1984 den Beruf der Friseurin nicht mehr in voller Schicht ausüben konnte.
Am 22.03.1995 beantragte die Klägerin wegen der Gesundheitsstörungen "HWS-Syndrom und Herzrhythmusstörung" Rente wegen EU. Im Gutachten vom 02.06.1995 vertrat der Sozialmediziner Dr.H. die Auffassung, die Klägerin könne auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch leichte Arbeiten im Wechselrhythmus mit Einschränkungen vollschichtig verrichten. Im Anschluss an dieses Gutachten lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 30.06.1995 die Gewährung von Rentenleistungen wegen EU ab. Im Widerspruchsverfahren ließ die Beklagte die Klägerin neurologisch-psychiatrisch durch Frau Dr.B. (Gutachten vom 12.03.1996), chirurgisch durch Dr.L. (Gutachten vom 13.03.1996) und internistisch durch Dr.B. (Gutachten vom 11.03.1996) untersuchen. Diese ärztlichen Sachverständigen gelangten übereinstimmend zu dem Ergebnis, die Klägerin könne in Vollschicht noch leichte, gelegentlich auch mittelschwere Arbeiten verrichten. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 30.04.1996 als unbegründet zurück.
Dagegen hat die Klägerim am 03.06.1996 Klage beim Sozialgericht (SG) Nürnberg erhoben. Nach Beinahme verschiedener Befundberichte ist der Orthopäde Dr.M. im Gutachten vom 17.12.1996 zu der Beurteilung gelangt, der Klägerin seien noch leichte Berufstätigkeiten vollschichtig zumutbar, so zB als Telefonistin und Gemüseputzerin.
Im Juni 1997 wurde bei der Klägerin wegen eines bösartigen Mammatumors eine sogenannte Segmentektomie der linken Brust vorgenommen, zudem das axilläre Lymphknotenfettgewebe entfernt. Auf Antrag der Klägerin hat das SG den Internisten Prof. Dr.H. gehört, der in dem nach Aktenlage erstellten Gutachten vom 11.09.1997 die Auffassung vertrat, die Klägerin sei nach der Krebsoperation auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht mehr vermittelbar. Die Beklagte bewilligte der Klägerin ein stationäres Heilverfahren, das vom 23.09. bis 14.10.1997 durchgeführt wurde; nach dem Entlassungsbericht der Kurklinik B. waren der Klägerin zur damaligen Zeit keine Tätigkeiten von wirtschaftlichem Wert möglich. Aus dem weiter von der Beklagten bewilligten Heilverfahren (19.03. bis 09.04.1998 in B.) wurde die Klägerin als zunächst arbeitsunfähig entlassen; sie könne jedoch leichte Tätigkeiten im Wechselrhythmus vollschichtig ausüben.
Nach Beinahme eines Befundberichtes des Frauenarztes Dr.B. und der Berichte über die durchgeführte Strahlentherapie hat das SG anlässlich der Verhandlung vom 08.12.1998 den Sachverständigen Dr.G. gehört, der leichte Tätigkeiten in Vollschicht für zumutbar hielt. Auf erneuten Antrag der Klägerin erstattete Prof. Dr.H. das Gutachten vom 01.03.1999 (nach ambulanter Untersuchung). Er vertrat weiterhin die Auffassung, dass die Klägerin seit Behandlung des Brustkrebses (Juni 1997) eu sei.
Mit Urteil vom 08.06.1999 hat das SG die Klage abgewiesen. Es hat sich im Wesentlichen der Beurteilung des Sachverständigen Dr.G. angeschlossen und ausgeführt, die Klägerin könne noch leichte Arbeiten in wechselnder Stellung und in geschlossenen Räumen in Vollschicht verrichten. Der Arbeitsmarkt sei für sie nicht iS der Katalog- bzw Seltenheitsfälle nach der Rechtsprechung des BSG verschlossen.
Dagegen richtet sich die Berufung der Klägerin, die sie ua damit begründet, das SG habe das Vorliegen einer reaktiven Depression in Folge der Brusterkrankung zu Unrecht verneint. Demgegenüber habe Prof. Dr.H. zweifelsfrei festgestellt, dass sie schwer depressiv erkrankt sei. Dessen Gutachten sei überzeugend, da auch die Ärzte der Kurklinik B. im Bericht vom 21.10.1997 zu dem Ergebnis gelangt seien, dass sie aufgrund ihrer Erkrankungen außer Stande sei, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben.
Der Senat hat Befundberichte des Internisten Dr.H. und des Frauenarztes Dr.B. beigezogen und den Neurologen und Psychiater Dr.W. zum ärztlichen Sachverständigen ernannt. Dieser gelangte im Gutachten vom 17.03.2000 und in der ergänzenden Stellungnahme (eingegangen beim BayLSG am 10.10.2000) zu der Beurteilung, die Klägerin könne ab Juni 1997 (seit dem Eintreten der Brustkrebserkrankung) nur noch maximal halbschichtig tätig sein.
Unter Hinweis auf die Stellungnahme der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr.B. bot die Beklagte vergleichsweise an, bei der Klägerin für die Zeit vom 15.03.2000 bis längstens 30.09.2002 das Vorliegen von EU anzuerkennen. Die Klägerin hat dieses Vergleichsangebot nicht angenommen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des SG Nürnberg vom 08.06.1999 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 30.06.1995 idF des Widerspruchsbescheides vom 30.04.1996 zu verurteilen, Rente wegen EU aufgrund eines im Juni 1997 eingetretenen Leistungsfalles zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
Sie geht in Übereinstimmung mit dem Erstgericht davon aus, dass die Klägerin noch in der Lage sei, leichte Tätigkeiten unter qualitativen Einschränkungen vollschichtig zu verrichten.
Beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren neben den Streitakten erster und zweiter Instanz die Unterlagen der Beklagten und die früheren Streitakten des SG Nürnberg.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Klägerin ist form- und fristgerecht eingelegt (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) und auch im Übrigen zulässig.
Das Rechtsmittel erweist sich auch zum überwiegenden Teil als begründet. Entgegen der Auffassung der Beklagten ist die Klägerin seit einem am 10.06.1997 eingetretenen Leistungsfall erwerbsunfähig iS des Gesetzes und hat Anspruch auf die gesetzlichen Leistungen wegen EU auf Zeit bis längstens 31.12.2001.
Erwerbsunfähig sind nach § 44 Abs 2 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) - in der bis 31.12.2000 geltenden Fassung - Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen zu erzielen, das ein Siebtel der monatlichen Bezugsgröße übersteigt. Darüber hinaus sind nach dem Beschluss des gemeinsamen Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 10.12.1976 (BSGE 43, 75 ff) Versicherte erwerbsunfähig, die im Haupt- oder Verweisungsberuf halbschichtig bis unter vollschichtig einsatzfähig sind und denen ein leistungsgerechter Teilzeitarbeitsplatz nicht angeboten wird. Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt.
Nach den Ermittlungen des Senats ist die Erwerbsfähigkeit der Klägerin im Wesentlichen durch folgende Gesundheitsstörungen eingeschränkt:
1. Cervikalsyndrom mit leichter abgeschlossener Wurzelläsion C 7 rechts.
2. Geringfügiges asymptomatisches Karpaltunnelsyndrom beidseits.
3. Neuralgie - Ischialgie rechtes Bein ohne weitere erkennbare lumbale Wurzelläsion.
4. Zustand nach Brustoperation und Bestrahlung. Rezidivierende
5. Migräne.
6. Anhaltende endoreaktive Depression.
Durch diese Gesundheitsstörungen ist die Erwerbsfähigkeit der Klägerin erheblich gemindert. Dabei ist zwischen den Beteiligten nicht mehr streitig, dass die Klägerin derzeit nicht in der Lage ist, vollschichtig erwerbstätig zu sein.
Streit besteht zwischen den Beteiligten noch darüber, wann die Leistungsminderung mit der rechtlichen Folge der EU eingetreten ist. Für den Senat sind in dieser Frage die begründeten und schlüssigen Ausführungen des Dr.W. in seinem Gutachten überzeugend, nach denen die Klägerin maximal halbschichtig einsetzbar ist. Bei der Anamneseerhebung anlässlich der Untersuchung durch Dr.W. hat die Klägerin vorgebracht, dass sie schon Jahre vor der Brustoperation einsetzende Depressionen empfunden habe, die aber weder beim Hausarzt noch durch entsprechende Konsultierung von Psychiatern behandelt wurden. Diese an sich glaubhaften Gesundheitsstörungen der Klägerin konnten dann nach dem Auftreten der Brusterkrankung nicht mehr ausreichend kompensiert werden und führten zu immer noch anhaltenden deutlichen Beschwerden. So besteht bei der Klägerin eine zusätzliche erhebliche Einschränkung der psychophysischen Dynamik, des Antriebs, des Durchhaltevermögens und der affektiven Stressbelastbarkeit. Dadurch hat sich weiter eine Minderung der Vitalität und der Durchhaltekraft bei der Arbeitsbewältigung im Alltag ergeben. In Verbindung mit diesen psychischen Störungen sind somatische Klagen ebenfalls stärker hervorgetreten bzw können - zumindest derzeit - nicht mehr ausreichend willentlich kompensiert werden. Diesem Ergebnis in der Beurteilung der Leistungsfähigkeit der Klägerin steht auch nicht die Auffassung des vom SG gehörten Sachverständigen Dr.G. entgegen. Denn dieser ist kein Psychiater und hat sich auch nicht näher mit dem psychischen Befinden der Klägerin auseinandergesetzt. Die Feststellung, dass sich kein Anhalt für eine neurotische oder psychotische Symptomatik von Krankheitswert gefunden habe, kann bei Konzentration des Gutachtens auf funktionelle Störungen im organischen Bereich und eine kurze Einlassung bzgl des psychischen Zustandes nicht ernsthaft als Beweis gegen das Vorliegen einer schweren psychischen Störung herangezogen werden. Psychische Auffälligkeiten bei der Klägerin waren - entgegen der Auffassung der Beklagten - bereits vor der Untersuchung durch Dr.W. (März 2000) aktenkundig. Der Internist Dr.H. hat im Befundbericht vom 08.02.2000 ua die Diagnose "reaktive Depression" aufgeführt, der Arzt für Neurologie und Psychiatrie L. hat bereits im Arztbrief vom 23.03.1993 eine "psychosomatische Syndrom-Generalisierung" erwähnt. Gegen die Annahme einer schwerwiegenden Depression spricht auch nicht der Umstand, dass die Klägerin zwischenzeitlich keine fachliche Hilfe in Anspruch genommen hat. Denn nach den Ausführungen von Dr.W. ist bei der objektiven und auch durch psychotherapeutische Maßnahmen und Psychopharmaka nicht korrigierbaren schlechten Grundlage für eine ausreichende Kompensierung dieser Schicksalswendung nicht davon auszugehen, dass die Klägerin unter Einsatz entsprechender Maßnahmen mit Wahrscheinlichkeit ihre vollschichtige Belastbarkeit hätte erhalten können.
Bei Gesamtwürdigung aller bei der Klägerin vorliegenden Gesundheitstörungen kann im Anschluss an die Ausführungen von Dr.W. als sicher gelten, dass die bis zur Brustoperation im Juni 1997 noch kompensierten psychischen Beeinträchtigungen, die aus einer insgesamt enttäuschenden Lebensentwicklung (Fehlgeburten mit nachfolgenden Bauchoperationen und einer damit einhergehenden Beeinträchtigung ihrer ehelichen Gemeinschaft) verständlich werden, ab diesem Zeitpunkt nicht mehr verarbeitet werden konnten und die Klägerin seither anhaltend schwer depressiv in ihrem Antrieb gestört ist. Sie kann ihre körperlichen Beschwerden schlechter kompensieren, dh sie klagt in verstärktem Maße darüber und ist insgesamt adynam, schleppend in ihrer Motorik geworden. Diese entscheidende Einschränkung in der Erwerbsfähigkeit der Klägerin ist auch zur Überzeugung des Senats im Zeitpunkt der Brustoperation im Juni 1997 eingetreten. Nach den auch insoweit überzeugenden Ausführungen von Dr.W. ist seitdem ein vollschichtiges Leistungsvermögen nicht mehr gegeben.
Ist ein Versicherter aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in der Lage, einer Ganztagstätigkeit nachzugehen und ist ihm lediglich ein Teilzeitarbeitsplatz zuzumuten, so kommt es für einen Rentenanspruch darauf an, ob es entsprechende Teilzeitarbeitsplätze in hinreichender Zahl gibt. Der Versicherte darf auf Tätigkeiten für Teilzeitarbeit nicht verwiesen werden, wenn ihm für diese Tätigkeiten der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen ist. Dem Versicherten ist der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen, wenn ihm innerhalb eines Jahres nach Stellung des Rentenantrags ein für ihn in Betracht kommender Arbeitsplatz nicht angeboten werden kann. Dies war bei der Klägerin der Fall. Sie ist somit nach der Rechtsprechung des BSG erwerbsunfähig und hat Anspruch auf eine befristete Rente nach § 102 Abs 2 Nr 2 SGB VI. Danach werden Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit auf Zeit gewährt, wenn der Anspruch auch von der jeweiligen Arbeitsmarktlage abhängig ist, es sei denn, die Versicherten vollenden innerhalb von zwei Jahren nach Rentenbeginn das 60. Lebensjahr.
Diese Voraussetzungen für die Gewährung einer befristeten Rente wegen EU sind vorliegend erfüllt. Der Rentenbeginn ergibt sich aus § 101 Abs 1 SGB VI. Da eine wesentliche Änderung der Arbeitsmarktlage und des Angebots an Teilzeitarbeitsplätzen in absehbarer Zeit nicht zu erwarten ist, hat der Senat die Rente bis zum Ablauf des Jahres 2001 befristet.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Dabei war zu berücksichtigen, dass die Klägerin unbefristete Leistungen wegen EU ab Rentenantragstellung (22.03.1995) beantragt hat, während ihr lediglich befristete Rente mit einem späteren Rentenbeginn zugesprochen wurde.
Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG liegen nicht vor.
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