Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
SG Chemnitz (FSS)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 10 KR 189/10
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Fettabsaugung (Liposuktion): Kostenübernahme durch Krankenkasse
I. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 10.12.2009 und des Widerspruchsbescheides vom 06.05.2010 verurteilt, der Klägerin die Kosten für eine Liposuktion beider Oberschenkel zu erstatten.
II. Die Beklagte hat der Klägerin deren notwendig entstandene außergerichtliche Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Streitig ist die Kostenerstattung für eine Liposuktion.
Die am 00.00.1978 geborene Klägerin beantragte am 09.11.2009 die Kostenübernahme für eine Liposuktion.
Der Medizinische Dienst der Krankenkasse (MDK) führte am 30.11.2009 eine Begutachtung der Klägerin durch. Im Gutachten vom 04.12.2009 diagnostizierte der MDK ein Lipödem beidseits im Stadium I. Objektivierbare Funktionsstörungen, die eine medizinische Indikation für eine Operation darstellen, lägen nicht vor. Es handele sich um keine Erkrankung im Sinne des SGB V. Empfohlen werde eine konservative Therapie (KPE, komplexe physikalische Entstauungstherapie) und die Weiterbehandlung in der phlebologischen ambulanten Praxis.
Dementsprechend lehnte die Beklagte mit streitigem Bescheid vom 10.12.2009 die beantragte Kostenübernahme ab.
Dagegen legte die Klägerin am 16.12.2009 Widerspruch mit der Begründung ein, der MDK habe sie nur oberflächlich untersucht. Zwar sei sie mit Kompressionsstrumpfhosen versorgt. Jedoch verursache der starke Druck dieser Kompressionsstrumpfhose Schmerzen in den Beinen.
Im Gutachten nach Aktenlage vom 15.02.2010 blieb der MDK bei seiner Einschätzung. Die Liposuktion sei ein Verfahren nach kosmetischer Chirurgie.
Mit Stellungnahme vom 23.02.2010 wies die Klägerin auf die medizinische Einschätzung vom 23.02.2010 von Herrn Dr. med. K. , Facharzt für Chirurgie, hin. Danach werde die Kompression schwer toleriert. Unter Kompression nehme die Fettgewebsdicke sogar zu.
Im Vermerk vom 03.03.2010 stellte die Beklagte fest, dass die beantragte Methode der "Liposuktion" (Fettabsaugung) derzeit nicht Bestandteil der vertragsärztlichen Versorgung sei. Lediglich in eng begrenzten Ausnahmefällen könne für (noch) nicht anerkannte neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden ein Leistungsanspruch bestehen. Eine Möglichkeit sei, dass die von der Rechtsprechung festgelegten Voraussetzungen für die Annahme eines sogenannten "Systemmangels" erfüllt seien. Ein Systemmangel könne grundsätzlich nur durch ein Gericht festgestellt werden.
Auf Blatt 37 der Verwaltungsakte der Beklagten findet sich eine Patienteninformation zum Lipödem von Dr. med. S. und Dr. med. B., mit Stand 09.04.2010. Das Krankheitsbild Lipödem sei erst seit einigen Jahren als solches erkannt und definiert worden. Nach der medizinischen Definition sei es gekennzeichnet durch Vermehrung und ödematöse Veränderungen des Unterhautfettgewebes sowie Fettverteilungsstörungen vor allem an Ober- und Unterschenkeln. Auffallend sei weiterhin eine vermehrte Schmerzhaftigkeit und Be-rührungsempfindlichkeit sowie die Neigung zu Blutergüssen bei nur leichtem Anstoßen. Zu den Therapiemöglichkeiten wird dort darauf hingewiesen, dass eine Entstauungstherapie mit Lymphdrainagen und darauf folgendem Anlegen straffer Kompressionsverbände bzw. von Kompressionstrümpfen lange als einzige Therapieoption beim Lipödem galten. In den letzten 10 Jahren habe sich aber die Liposuktion (Absaugung des vermehrten Fettgewebes) als Therapie etabliert und gelte heutzutage als sichere und effektive Therapiealternative bei Beachtung der Voraussetzungen:
- Behandlung durch erfahrenen Liposuktions-Chirurgen
- Behandlung mit neuester, maximal gewebeschonender Operationstechnik
- Absaugung streng in Körperlängsachse
- immer symmetrische Behandlung der Extremitäten.
Dann könne das Krankheitsbild mit gutem Erfolg durch eine bzw. meist mehrere Liposuk-tionen behandelt werden. Nur für einen Zeitraum von mindestens 8 Wochen nach der Operation werde empfohlen, Kompressionsdressings zu tragen. Danach seien aber Kompressionsstrümpfe und -verbände nicht mehr nötig.
Die Beklagte folgte der Einschätzung des MDK und wies den Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 06.05.2010 als unbegründet zurück. Die Beklagte ging auch im Widerspruchsbescheid davon aus, dass ein Lipödem Stadium I vorliege.
Dagegen hat die Klägerin über ihre Bevollmächtigte am 21.05.2010 Klage erhoben. Der Gesundheitszustand der Klägerin verschlechtere sich laufend. Die von der Beklagten empfohlene Therapie zeige damit keine Wirkung.
Unter dem gleichen Datum beantragte die Klägerin über ihre Bevollmächtigte die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes. Der weitere Schriftverkehr und die Ermittlungen des Gerichts wurden daher unter dem Az.: S 10 KR 186/10 ER geführt.
In seiner Einschätzung vom 28.06.2010 kommt Herr Dr. med. K., Facharzt für Chirurgie/Phlebologie, zu dem Ergebnis, dass das Lipödem bei der Klägerin fortschreite. Das Lipödem sei als Erkrankung einzustufen. Eine Heilung könne nur durch eine Liposuktion erreicht werden.
Der MDK führte am 22.09.2010 eine körperliche Begutachtung der Klägerin durch. Im Gutachten vom 29.09.2010 wird ausgeführt, dass drei verschiedene Stadien des Lipödems unterschieden werden:
- Stadium I: Orangenhaut, feinknotige Hautoberfläche
- Stadium II: Matratzenhaut, grobknotige Hautoberfläche mit größeren Dellen
- Stadium III. grobe deformierende Fettlappen.
Da die Ursache eines Lipödems unbekannt sei, gebe es zurzeit keine gesicherte Behandlung. Ziel der konservativen Behandlung sei die Ödembeseitigung. Als bewährter Standard der Lipödem-Therapie gelte die "komplexe physikalische Entstauungstherapie" (KPE). Hauptbestandteil dieses 2-Phasen-Therapiekonzeptes seien die manuelle Lymphdrainage und die Kompressionstherapie. Weitere vertragsärztliche alternative Behandlungsmethoden könnten nicht benannt werden. Es sei festzustellen, dass bei der Klägerin ein Übergang zwischen Typ I zu Typ II vorliegt.
Das Gericht hat medizinische Unterlagen eingeholt und dann Herrn Dr. med. H., einen der Leiter des MVZ Gefäßzentrums Z., zum Sachverständigen ernannt.
Herr Dr. H. hat die Klägerin am 06.09.2011 ambulant untersucht.
Im Gutachten vom 26.09.2011 stellt Dr. H. ein Lipödem beider Oberschenkel im Stadium II, ein Lipödem beider Oberarme im Stadium I fest. Im Unterhautfettgewebe zeigten sich bindegewebige Strukturen an beiden Oberschenkeln. Eine Reduktion des krankhaft vermehrten Fettgewebes sei durch eine Konservativbehandlung nicht möglich. Der Sachverständige empfahl eine Liposuktion beider Oberschenkel in Zentren mit einer entsprechen-den Expertise.
Zum Gutachten von Dr. H. hat die Beklagte keine Stellungnahme abgegeben.
Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 13.12.2011 das Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt, die Bevollmächtigte der Klägerin mit Schreiben vom 11.01.2012.
Die Bevollmächtigte der Klägerin beantragt sinngemäß (Klageschrift vom 21.05.2010):
1. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 10.12.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.05.2010 verurteilt, die Kosten für eine Liposuktion bei der Klägerin zu übernehmen.
2. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
Der Vertreter der Beklagten beantragt,
die Klage abzuweisen (Schriftsatz vom 08.07.2010).
Das Gericht hat die Akten der Beklagten beigezogen. Auf diese sowie die Prozessakten zu den Verfahren S 10 KR 186/10 ER und S 10 KR 189/10 wird zur Ergänzung des Tatbestandes verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist form- und fristgerecht erhoben und insgesamt zulässig.
Die Klage ist auch begründet. Nach Ansicht des Gerichts liegt hier ein Systemmangel vor.
Die Krankenbehandlung als eine der Leistungen bei Krankheit ist in § 27 SGB V geregelt.
Gemäß § 27 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 5 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenhausbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern.
Es ist nach Ansicht des Gerichts nicht streitig, dass es sich bei dem Lipödem der Klägerin um eine behandlungsbedürftige Krankheit handelt. Dementsprechend übernimmt die Beklagte auch die Kosten für eine konservative Therapie, die komplexe physikalische Ent-stauungstherapie.
Im Zeitverlauf ist jedoch ersichtlich, dass diese Behandlungsmethode die Erkrankung der Klägerin weder heilen noch eine Verschlimmerung verhüten kann. Der MDK hat in seinem Gutachten vom 04.12.2009 ein Lipödem im Stadium I festgestellt. Im Gutachten vom 29.09.2010 kommt der MDK bereits zu einer Einschätzung des Übergangs vom Stadium I zum Stadium II. Damals war nach Ansicht des MDK ein Bindegewebeumbau im Sinne einer Fibrosierung des Lipödems diagnostisch nicht belegt.
Der Sachverständige Dr. H. kommt im Gutachten vom 26.09.2011 zur Einschätzung, dass das Lipödem bei der Klägerin an den Oberschenkeln bereits das Stadium II erreicht hat. Überdies zeigten sich im Unterhautfettgewebe an beiden Oberschenkeln bindegewebige Strukturen.
Das Gericht ist damit davon überzeugt, dass die durch die Beklagte empfohlene und finanzierte Behandlung, nämlich die komplexe physikalische Entstauungstherapie, die Krank-heit der Klägerin, nämlich das Lipödem, weder heilen noch dessen Verschlimmerung ver-hüten kann.
Im Gutachten vom 29.09.2010 kommt der MDK auch zu der allgemeinen Einschätzung, dass die Ursache des Lipödems unbekannt ist. Es gibt zurzeit danach keine gesicherte Behandlung eines Lipödems. Außerhalb der komplexen physikalischen Entstauungstherapie können alternative vertragsärztliche Behandlungsmethoden nicht benannt werden.
Das Gericht schließt daraus, dass im System der Behandlungsmöglichkeiten aus der ver-tragsärztlichen Versorgung wirksame Behandlungsalternativen für die Erkrankung der Klägerin nicht zur Verfügung stehen. Schon das ist nach Ansicht des Gerichts für sich gesehen ein Systemmangel.
Nach Hess (Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, Rdnr. 7 zu § 135 SGB V) kann ein Systemmangel auch vorliegen, wenn die Einleitung oder die Durchführung eines Verfahrens zur Beurteilung einer neuen Untersuchungs- oder Behandlungsmethode verzögert wird und deswegen vom Versicherten eine neue Methode nicht in Anspruch genom-men werden kann. Der Versicherte kann dann einen Anspruch auf Kostenerstattung gegen seine Krankenkasse haben.
Der MDK stellt in seinem Gutachten vom 29.09.2010 fest, dass es zur Behandlung eines Lipödems zurzeit keine gesicherte Behandlung gibt. Jedoch wird außerhalb der vertragsärztlichen Versorgung seit 10 Jahren zur Behandlung eines Lipödems die Liposuktion durchgeführt. Nach den Ausführungen von Dr. S. und Dr. B. in der Patienteninformation Lipödem, Stand 09.04.2010, ist die Liposuktion heutzutage als sichere und effektive Therapiealternative anzusehen, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Damit war der Gemeinsame Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen nach Ansicht des Gerichts verpflichtet, die Liposuktion als mögliche Behandlungsmethode für ein Lipödem zu prüfen. Dies umso mehr, als im System der vertragsärztlichen Versorgung es eine gesicherte Behandlung für ein Lipödem nicht gibt. Ein Verfahren zur Prüfung, ob die Liposuktion in das System der vertragsärztlichen Versorgung aufgenommen werden muss, hätte deswegen eingeleitet werden müssen.
Der vom Gericht beauftragte Sachverständige Dr. H. empfiehlt in seinem Gutachten vom 26.09.2011 die Liposuktion beider Oberschenkel.
Dementsprechend war der Klage wie tenoriert stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
II. Die Beklagte hat der Klägerin deren notwendig entstandene außergerichtliche Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Streitig ist die Kostenerstattung für eine Liposuktion.
Die am 00.00.1978 geborene Klägerin beantragte am 09.11.2009 die Kostenübernahme für eine Liposuktion.
Der Medizinische Dienst der Krankenkasse (MDK) führte am 30.11.2009 eine Begutachtung der Klägerin durch. Im Gutachten vom 04.12.2009 diagnostizierte der MDK ein Lipödem beidseits im Stadium I. Objektivierbare Funktionsstörungen, die eine medizinische Indikation für eine Operation darstellen, lägen nicht vor. Es handele sich um keine Erkrankung im Sinne des SGB V. Empfohlen werde eine konservative Therapie (KPE, komplexe physikalische Entstauungstherapie) und die Weiterbehandlung in der phlebologischen ambulanten Praxis.
Dementsprechend lehnte die Beklagte mit streitigem Bescheid vom 10.12.2009 die beantragte Kostenübernahme ab.
Dagegen legte die Klägerin am 16.12.2009 Widerspruch mit der Begründung ein, der MDK habe sie nur oberflächlich untersucht. Zwar sei sie mit Kompressionsstrumpfhosen versorgt. Jedoch verursache der starke Druck dieser Kompressionsstrumpfhose Schmerzen in den Beinen.
Im Gutachten nach Aktenlage vom 15.02.2010 blieb der MDK bei seiner Einschätzung. Die Liposuktion sei ein Verfahren nach kosmetischer Chirurgie.
Mit Stellungnahme vom 23.02.2010 wies die Klägerin auf die medizinische Einschätzung vom 23.02.2010 von Herrn Dr. med. K. , Facharzt für Chirurgie, hin. Danach werde die Kompression schwer toleriert. Unter Kompression nehme die Fettgewebsdicke sogar zu.
Im Vermerk vom 03.03.2010 stellte die Beklagte fest, dass die beantragte Methode der "Liposuktion" (Fettabsaugung) derzeit nicht Bestandteil der vertragsärztlichen Versorgung sei. Lediglich in eng begrenzten Ausnahmefällen könne für (noch) nicht anerkannte neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden ein Leistungsanspruch bestehen. Eine Möglichkeit sei, dass die von der Rechtsprechung festgelegten Voraussetzungen für die Annahme eines sogenannten "Systemmangels" erfüllt seien. Ein Systemmangel könne grundsätzlich nur durch ein Gericht festgestellt werden.
Auf Blatt 37 der Verwaltungsakte der Beklagten findet sich eine Patienteninformation zum Lipödem von Dr. med. S. und Dr. med. B., mit Stand 09.04.2010. Das Krankheitsbild Lipödem sei erst seit einigen Jahren als solches erkannt und definiert worden. Nach der medizinischen Definition sei es gekennzeichnet durch Vermehrung und ödematöse Veränderungen des Unterhautfettgewebes sowie Fettverteilungsstörungen vor allem an Ober- und Unterschenkeln. Auffallend sei weiterhin eine vermehrte Schmerzhaftigkeit und Be-rührungsempfindlichkeit sowie die Neigung zu Blutergüssen bei nur leichtem Anstoßen. Zu den Therapiemöglichkeiten wird dort darauf hingewiesen, dass eine Entstauungstherapie mit Lymphdrainagen und darauf folgendem Anlegen straffer Kompressionsverbände bzw. von Kompressionstrümpfen lange als einzige Therapieoption beim Lipödem galten. In den letzten 10 Jahren habe sich aber die Liposuktion (Absaugung des vermehrten Fettgewebes) als Therapie etabliert und gelte heutzutage als sichere und effektive Therapiealternative bei Beachtung der Voraussetzungen:
- Behandlung durch erfahrenen Liposuktions-Chirurgen
- Behandlung mit neuester, maximal gewebeschonender Operationstechnik
- Absaugung streng in Körperlängsachse
- immer symmetrische Behandlung der Extremitäten.
Dann könne das Krankheitsbild mit gutem Erfolg durch eine bzw. meist mehrere Liposuk-tionen behandelt werden. Nur für einen Zeitraum von mindestens 8 Wochen nach der Operation werde empfohlen, Kompressionsdressings zu tragen. Danach seien aber Kompressionsstrümpfe und -verbände nicht mehr nötig.
Die Beklagte folgte der Einschätzung des MDK und wies den Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 06.05.2010 als unbegründet zurück. Die Beklagte ging auch im Widerspruchsbescheid davon aus, dass ein Lipödem Stadium I vorliege.
Dagegen hat die Klägerin über ihre Bevollmächtigte am 21.05.2010 Klage erhoben. Der Gesundheitszustand der Klägerin verschlechtere sich laufend. Die von der Beklagten empfohlene Therapie zeige damit keine Wirkung.
Unter dem gleichen Datum beantragte die Klägerin über ihre Bevollmächtigte die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes. Der weitere Schriftverkehr und die Ermittlungen des Gerichts wurden daher unter dem Az.: S 10 KR 186/10 ER geführt.
In seiner Einschätzung vom 28.06.2010 kommt Herr Dr. med. K., Facharzt für Chirurgie/Phlebologie, zu dem Ergebnis, dass das Lipödem bei der Klägerin fortschreite. Das Lipödem sei als Erkrankung einzustufen. Eine Heilung könne nur durch eine Liposuktion erreicht werden.
Der MDK führte am 22.09.2010 eine körperliche Begutachtung der Klägerin durch. Im Gutachten vom 29.09.2010 wird ausgeführt, dass drei verschiedene Stadien des Lipödems unterschieden werden:
- Stadium I: Orangenhaut, feinknotige Hautoberfläche
- Stadium II: Matratzenhaut, grobknotige Hautoberfläche mit größeren Dellen
- Stadium III. grobe deformierende Fettlappen.
Da die Ursache eines Lipödems unbekannt sei, gebe es zurzeit keine gesicherte Behandlung. Ziel der konservativen Behandlung sei die Ödembeseitigung. Als bewährter Standard der Lipödem-Therapie gelte die "komplexe physikalische Entstauungstherapie" (KPE). Hauptbestandteil dieses 2-Phasen-Therapiekonzeptes seien die manuelle Lymphdrainage und die Kompressionstherapie. Weitere vertragsärztliche alternative Behandlungsmethoden könnten nicht benannt werden. Es sei festzustellen, dass bei der Klägerin ein Übergang zwischen Typ I zu Typ II vorliegt.
Das Gericht hat medizinische Unterlagen eingeholt und dann Herrn Dr. med. H., einen der Leiter des MVZ Gefäßzentrums Z., zum Sachverständigen ernannt.
Herr Dr. H. hat die Klägerin am 06.09.2011 ambulant untersucht.
Im Gutachten vom 26.09.2011 stellt Dr. H. ein Lipödem beider Oberschenkel im Stadium II, ein Lipödem beider Oberarme im Stadium I fest. Im Unterhautfettgewebe zeigten sich bindegewebige Strukturen an beiden Oberschenkeln. Eine Reduktion des krankhaft vermehrten Fettgewebes sei durch eine Konservativbehandlung nicht möglich. Der Sachverständige empfahl eine Liposuktion beider Oberschenkel in Zentren mit einer entsprechen-den Expertise.
Zum Gutachten von Dr. H. hat die Beklagte keine Stellungnahme abgegeben.
Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 13.12.2011 das Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt, die Bevollmächtigte der Klägerin mit Schreiben vom 11.01.2012.
Die Bevollmächtigte der Klägerin beantragt sinngemäß (Klageschrift vom 21.05.2010):
1. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 10.12.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.05.2010 verurteilt, die Kosten für eine Liposuktion bei der Klägerin zu übernehmen.
2. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
Der Vertreter der Beklagten beantragt,
die Klage abzuweisen (Schriftsatz vom 08.07.2010).
Das Gericht hat die Akten der Beklagten beigezogen. Auf diese sowie die Prozessakten zu den Verfahren S 10 KR 186/10 ER und S 10 KR 189/10 wird zur Ergänzung des Tatbestandes verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist form- und fristgerecht erhoben und insgesamt zulässig.
Die Klage ist auch begründet. Nach Ansicht des Gerichts liegt hier ein Systemmangel vor.
Die Krankenbehandlung als eine der Leistungen bei Krankheit ist in § 27 SGB V geregelt.
Gemäß § 27 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 5 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenhausbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern.
Es ist nach Ansicht des Gerichts nicht streitig, dass es sich bei dem Lipödem der Klägerin um eine behandlungsbedürftige Krankheit handelt. Dementsprechend übernimmt die Beklagte auch die Kosten für eine konservative Therapie, die komplexe physikalische Ent-stauungstherapie.
Im Zeitverlauf ist jedoch ersichtlich, dass diese Behandlungsmethode die Erkrankung der Klägerin weder heilen noch eine Verschlimmerung verhüten kann. Der MDK hat in seinem Gutachten vom 04.12.2009 ein Lipödem im Stadium I festgestellt. Im Gutachten vom 29.09.2010 kommt der MDK bereits zu einer Einschätzung des Übergangs vom Stadium I zum Stadium II. Damals war nach Ansicht des MDK ein Bindegewebeumbau im Sinne einer Fibrosierung des Lipödems diagnostisch nicht belegt.
Der Sachverständige Dr. H. kommt im Gutachten vom 26.09.2011 zur Einschätzung, dass das Lipödem bei der Klägerin an den Oberschenkeln bereits das Stadium II erreicht hat. Überdies zeigten sich im Unterhautfettgewebe an beiden Oberschenkeln bindegewebige Strukturen.
Das Gericht ist damit davon überzeugt, dass die durch die Beklagte empfohlene und finanzierte Behandlung, nämlich die komplexe physikalische Entstauungstherapie, die Krank-heit der Klägerin, nämlich das Lipödem, weder heilen noch dessen Verschlimmerung ver-hüten kann.
Im Gutachten vom 29.09.2010 kommt der MDK auch zu der allgemeinen Einschätzung, dass die Ursache des Lipödems unbekannt ist. Es gibt zurzeit danach keine gesicherte Behandlung eines Lipödems. Außerhalb der komplexen physikalischen Entstauungstherapie können alternative vertragsärztliche Behandlungsmethoden nicht benannt werden.
Das Gericht schließt daraus, dass im System der Behandlungsmöglichkeiten aus der ver-tragsärztlichen Versorgung wirksame Behandlungsalternativen für die Erkrankung der Klägerin nicht zur Verfügung stehen. Schon das ist nach Ansicht des Gerichts für sich gesehen ein Systemmangel.
Nach Hess (Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, Rdnr. 7 zu § 135 SGB V) kann ein Systemmangel auch vorliegen, wenn die Einleitung oder die Durchführung eines Verfahrens zur Beurteilung einer neuen Untersuchungs- oder Behandlungsmethode verzögert wird und deswegen vom Versicherten eine neue Methode nicht in Anspruch genom-men werden kann. Der Versicherte kann dann einen Anspruch auf Kostenerstattung gegen seine Krankenkasse haben.
Der MDK stellt in seinem Gutachten vom 29.09.2010 fest, dass es zur Behandlung eines Lipödems zurzeit keine gesicherte Behandlung gibt. Jedoch wird außerhalb der vertragsärztlichen Versorgung seit 10 Jahren zur Behandlung eines Lipödems die Liposuktion durchgeführt. Nach den Ausführungen von Dr. S. und Dr. B. in der Patienteninformation Lipödem, Stand 09.04.2010, ist die Liposuktion heutzutage als sichere und effektive Therapiealternative anzusehen, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Damit war der Gemeinsame Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen nach Ansicht des Gerichts verpflichtet, die Liposuktion als mögliche Behandlungsmethode für ein Lipödem zu prüfen. Dies umso mehr, als im System der vertragsärztlichen Versorgung es eine gesicherte Behandlung für ein Lipödem nicht gibt. Ein Verfahren zur Prüfung, ob die Liposuktion in das System der vertragsärztlichen Versorgung aufgenommen werden muss, hätte deswegen eingeleitet werden müssen.
Der vom Gericht beauftragte Sachverständige Dr. H. empfiehlt in seinem Gutachten vom 26.09.2011 die Liposuktion beider Oberschenkel.
Dementsprechend war der Klage wie tenoriert stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
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