L 5 RJ 515/99

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 12 RJ 233/96
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 5 RJ 515/99
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 8. April 1999 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Gewährung von Versichertenrente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

Der am 1962 geborene Kläger hat keinen Beruf erlernt. Eine Lehre als Maurer (01.07.1977 - 18.08.1978) hat er nicht abgeschlossen. Er war versicherungspflichtig beschäftigt als Bauarbeiter, Fensterputzer, zuletzt (17.10.1983 - 04.03.1994) mit Unterbrechungen als Kraftfahrer. Seit April 1994 ist er arbeitsunfähig bzw. arbeitslos und bezieht Leistungen der Krankenkasse bzw. der Arbeitsverwaltung. Als amerikanischer Staatsbürger hat er von April 1984 bis Mai 1987 Wehrdienst in den USA geleistet.

Den Antrag vom 16.03.1995 begründete der Kläger mit den seit dem Unfall vom 13.09.1990 bestehenden Beschwerden im Bereich der Halswirbelsäule mit neurologischen Ausfällen und massiven Schwindelanfällen, Taubheitsgefühl in den Armen und Konzentrationsschwierigkeiten. Die Landesversicherungsanstalt (LVA) Freie und Hansestadt Hamburg ließ den Kläger auf orthopädischem Gebiet untersuchen und begutachten. Mit Bescheid vom 18.08.1995 lehnte die LVA den Antrag ab. Trotz der Gesundheitsstörung "Neigung zu Muskel- und Nervenreizerscheinungen bei computertomographisch nachgewiesenem cervikalen Bandscheibenvorfall" sei der Kläger noch in der Lage, leichte bis mittelschwere Arbeiten ohne häufiges Heben und Tragen von Lasten sowie ohne Überkopfarbeiten im Wechselrhythmus zu verrichten. Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 21.03.1996 zurückgewiesen.

Vor dem Sozialgericht (SG) Augsburg hat der Kläger im Wesentlichen vorgetragen, er leide unter massiven Schmerzen, die er mit könne daher überhaupt nicht mehr arbeiten, auch nicht als Bote oder Pförtner. Er stütze sich auf die Leistungsbeurteilung des psychologischen Dienstes des Arbeitsamtes, wonach er für eine längerfristige Umschulung gesundheitsbedingt nicht geeignet und damit auch eine Kontinuität im Arbeitseinsatz nicht mehr herstellbar sei.

Im Auftrag des SG haben der Arzt für Neurochirurgie und Orthopädie Dr. G. , der Arzt für Psychiatrie Dr. V. , der Diplom-Psychologe F. W. sowie nach § 109 SGG der Chirurg Dr. K. den Kläger untersucht und begutachtet. Als Gesundheitsstörungen werden aufgeführt: Ausgeprägtes Schmerzsyndrom der Halswirbelsäule, Wurzelreizsyndrom C6 bei computertomographisch nachgewiesenem Bandscheibenvorfall C5/C6 sowie Schmerzmittelabusus. Leichte Arbeiten in Wechselhaltung könnten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vollschichtig verrichtet werden. Unzumutbar seien Arbeiten mit Heben und Tragen von Lasten ohne mechanische Hilfsmittel, mit häufigem Bücken, Treppen- und Leiternsteigen, in Zwangshaltung, mit Einwirkung von Kälte, Hitze, Zugluft und Nässe sowie mit besonderen Anforderungen an die nervliche Belastbarkeit. Eine Umstellung auf eine einfache Anlerntätigkeit wie die eines Pförtners in Tagschicht sei auch bei Berücksichtigung der testpsychologischen Untersuchung möglich.

Durch Urteil vom 08.04.1999 hat das SG die Klage abgewiesen. Der Kläger sei weder berufs- noch erwerbsunfähig. Er könne noch vollschichtig auf dem für ihn maßgeblichen allgemeinen Arbeitsmarkt leichte Arbeiten unter Berücksichtigung der qualitativen Einschränkungen verrichten. Eine konkrete Verweisungstätigkeit müsse für den Kläger, der als Ungelernter, bestenfalls als Angelernter im unteren Bereich einzustufen sei, nicht benannt werden. Unabhängig davon könne der Kläger beispielsweise auf die Tätigkeit eines einfachen Pförtners in Tagschicht zumutbar verwiesen werden.

Gegen das am 08.09.1999 zugestellte Urteil des SG richtet sich die Berufung des Klägers. Wegen seiner Schmerzen sei er gezwungen, morphiumhaltige Medikamente einzunehmen, die ihm sein Hausarzt verordne. In der ersten Zeit nach Einnahme der Medikamente falle er praktisch aus, so dass er auch als Pförtner keine Beschäftigung finden könne. Auf die Stellungnahme der Diplom-Psychologin des Arbeitsamtes Frau C. vom 02.03.1999, die auch eine solche Tätigkeit ausschließe, werde nochmals verwiesen.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Augsburg vom 08.04.1999 sowie des Bescheides vom 18.08.1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.03.1996 zu verurteilen, ihm aufgrund des Antrags vom 16.03.1995 Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 08.04.1999 zurückzuweisen.

Zur Aufklärung des Sachverhalts hat der Senat Auskünfte der AOK Bayern, Direktion Augsburg, sowie des Arbeitsamtes Augsburg eingeholt. Er hat Beweis erhoben und den Orthopäden Dr. L. sowie den Arzt für Neurologie, Psychiatrie und Sozialmedizin Dr. H. zu Sachverständigen bestellt. Auf die nach Untersuchung erstatteten Gutachten (orthopädisch vom 20.06.2001, nervenärztlich-sozialmedizinisch vom 25.06.2001), die den Beteiligten jeweils in Abschrift übersandt worden sind, wird wegen der Einzelheiten verwiesen. Beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren die Prozessakten beider Rechtszüge sowie die Verwaltungsakten der Beklagten.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Zutreffend hat das SG entschieden, dass dem Kläger ein Anspuch auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nicht zusteht.

Der Anspruch des Klägers auf Versichertenrente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit ist wegen der Antragstellung vor dem 31.03.2001 (hier am 16.03.1995) an den Vorschriften des SGB VI in der bis 31.12.2000 geltenden Fassung (a.F.) zu messen, da geltend gemacht ist, dass dieser Anspruch bereits seit einem Zeitpunkt vor dem 01.01.2001 besteht, vgl. § 300 Abs. 2 SGB VI. Für den Anspruch des Klägers sind aber auch die Vorschriften des SGB VI in der ab 1.1.2001 geltenden Fassung (n.F.) maßgebend, soweit sinngemäß auch (hilfsweise) vorgetragen ist, dass jedenfalls ein Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung seit einem Zeitpunkt nach dem 31.12.2000 gegeben sei, vgl. § 300 Abs. 1 SGB VI.

Rechtsgrundlage sind die §§ 43, 44 SGB VI (a.F.). Neben der allgemeinen Wartezeit sind die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen zum Zeitpunkt der Antragstellung in Übereinstimmung mit der Beklagten nach § 43 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3, § 44 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 4 SGB VI (a.F.) erfüllt.

Der Kläger ist jedoch nicht berufsunfähig.

Zur Beurteilung des zunächst nach § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB VI (a.F.) festzustellenden beruflichen Leistungsvermögens stützt sich der Senat auf die Feststellungen der Sachverständigen Dres. L. und H. sowie der vom SG als Sachverständige gehörten Ärzte Dres. G. , K. und V. , die im Wesentlichen zu übereinstimmenden Ergebnissen kommen. Danach bestehen ein mehrsegmentaler Bandscheibenschaden der unteren Halswirbelsäule mit Verdacht auf Nervenwurzelreizerscheinungen sowie eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung mit Verdeutlichungstendenzen. Die erstmals von Dr. V. angeführte völlige Bewegungsunfähigkeit der Halswirbelsäule entspricht nach Auffassung des Dr. L. nicht dem anatomischen Befund. Vielmehr liegt nach dem Untersuchungsbefund vom 12.06.2001 eine aktive muskuläre Steifhaltung der Halswirbelsäule vor, die nicht einer tatsächlich möglichen Unfähigkeit entspricht.

Aufgrund dieser Gesundheitsstörungen sind schwere und ständig mittelschwere Tätigkeiten mit häufigem Heben und Tragen von schweren Gegenständen (über 10 -12 kg) sowie Tätigkeiten häufig in oder über Kopfhöhe (z.B. Be- und Entladetätigkeiten) sowie Tätigkeiten mit häufigem Treppen-, Leitern- oder Gerüststeigen nicht mehr zumutbar. Leichte bis zeitweilig mittelschwere Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt können vollschichtig geleistet werden.

Der Senat folgt den schlüssigen und überzeugenden Ausführungen der ärztlichen Sachverständigen. Soweit die psychologische Stellungnahme des Arbeitsamtes vom 02.03.1999 von der Formulierung, der Kläger könne "Kontinuität in seinem Arbeitseinsatz nicht mehr herstellen", auf ein nicht mehr vollschichtiges Leistungsvermögen schließt, wird dem nicht gefolgt. Es mag dahinstehen, ob der Kläger einer längerfristigen Umschulung aufgrund seiner psycho-physischen Gesamtbefindlichkeit nicht mehr standhalten könnte. Im vorliegenden Rechtsstreit ist allein das berufliche Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt maßgebend. Ein solches Leistungsvermögen haben bisher alle Sachverständigen bejaht. Zu einer Einschätzung des beruflichen Leistungsvermögen ist die Diplompsychologin C. , die weder ärztliche Befunde erheben noch eine sozialmedizinische Beurteilung abgeben kann, nicht berufen. Der Beweiswert der vom Senat eingeholten sachverständigen Äußerungen wird damit in keiner Weise erschüttert.

Obwohl der Kläger seinen maßgeblichen Beruf als Kraftfahrer nicht mehr ausüben kann, ist er aber dennoch nicht berufsunfähig. Für die Annahme von Berufsunfähigkeit reicht es nämlich nicht aus, wenn Versicherte ihren bisherigen Beruf nicht mehr ausüben können; vielmehr sind - wie sich aus § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI (a.F.) ergibt - Versicherte nur dann berufsunfähig, wenn ihnen auch die Verweisung auf andere Berufstätigkeiten aus gesundheitlichen Gründen oder sozial nicht mehr zumutbar ist (ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. u.a. SozR 2200 1246 RVO Nr. 138).

Nach dem vom BSG entwickelten Mehr-Stufen-Schema (vgl. BSG SozR 2200 § 1246 RVO Nr. 138 und 140) ist der Kläger der Gruppe mit dem Leitberuf des ungelernten, höchstens dem des angelernten Arbeiters, und zwar des unteren Bereichs (Ausbildungs- oder Anlernzeit von 3 Monaten bis zu einem Jahr, vgl. BSG-Urteil vom 29.03.1994 - 13 RJ 35/93 = SozR 3-2200 § 1246 RVO Nr. 45), zuzuordnen. Der Senat folgt insoweit den Ausführungen des SG nach § 153 Abs. 2 SGG.

Der Kläger kann daher auf alle gesundheitlich und sozial verträglichen Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes auch außerhalb seiner bisherigen Berufstätigkeiten verwiesen werden. Eine konkrete Verweisungstätigkeit ist nicht zu benennen.

Eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung, die ausnahmsweise die Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit bei Versicherten, die der Gruppe mit dem Leitberuf des angelernten Arbeiters im unteren Bereich bzw. des ungelernten Arbeiters zuzuordnen sind, erforderlich machen würde, liegen beim Kläger nicht vor. So erscheinen die Leistungseinschränkungen in ihrer Mehrzahl nicht geeignet, das Feld körperlich leichter Arbeiten zusätzlich wesentlich einzuengen.

Eine schwere spezifische Leistungsbehinderung durch das seit Jahren geltend gemachte Schmerz-Syndrom, das zu einer Verschlossenheit des Arbeitsmarktes und damit zu einem Rentenanspruch des Klägers führen könnte, ergibt sich nicht. So hat sich Dr. H. mit der beim Kläger vorliegenden Gesundheitsstörung "somatoforme Schmerzstörung" eingehend auseinandergesetzt. Wie der Sachverständige überzeugend darlegt, werden unter einer "somatoformen Schmerzstörung" Schmerzen verstanden, die durch einen physiologischen Prozess oder eine körperliche Störung nicht vollständig erklärt werden können. Die Folge ist gewöhnlich eine beträchtliche persönliche oder medizinische Betreuung oder Zuwendung bzw. ein deutlicher sekundärer Krankheitsgewinn. Eine darüber hinaus gehende seelische Erkrankung im engeren Sinne liegt nicht vor. Insbesondere werden dadurch die Merk- und Konzentrationsfähigkeit, das Beurteilungsvermögen, die Reaktions- und Umstellungsfähigkeit sowie die Ausdauer und die Anpassungsfähigkeit an den technischen Wandel nicht eingeschränkt.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den von der Krankenkasse mitgeteilten Krankheitszeiten. Sie betreffen ab 1995 die Zeiträume 13.03.2001 bis 30.04.2001, 07.11.1997 bis 30.04.1999, 22.09.1997 bis 26.09.1997 sowie vom 10.02.1995 bis 08.08.1996, die vorübergehend zur Arbeitsunfähigkeit im Sinne der Krankenversicherung geführt haben, nicht aber zu einer nach dem Recht der Rentenversicherung geforderten verminderten Erwerbsfähigkeit.

Zudem hat der Große Senat des BSG entschieden (vgl. Beschluss vom 19.12.1996, GS 2/95, in: SozR 3-2600 § 44 SGB VI Nr. 8), dass der Katalog zur Verschlossenheit des Arbeitsmarktes insbesondere bei älteren, arbeitslosen, ungelernten bzw. angelernten Versicherten keiner Erweiterung bedarf. Das Risiko, ob der Kläger auf eine seinem verbliebenen Leistungsvermögen entsprechende Arbeitsstelle vermittelt werden kann, fällt in den Risikobereich der Arbeitslosenversicherung (vgl. schon BSGE 56, 69; 44, 39).

Auch nach dem ab 01.01.2001 geltenden Recht des SGB VI (vgl. §§ 43, 240 SGB VI n.F.) hat der Kläger keinen Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung, da hiernach - wie bisher - ein Rentenanspruch jedenfalls dann ausgeschlossen ist, wenn ein Versicherter - wie der Kläger - einen zumutbaren anderen Beruf als den bisherigen vollschichtig ausüben kann.

Nach alledem hat der Kläger keinen Anspruch auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Die Berufung war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe, die Revision nach § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen, sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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