L 10 U 4729/11

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 9 U 4008/09
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 U 4729/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 31.08.2011 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung von Verletztenrente streitig.

Der am 1976 geborene Kläger erlitt am 01.09.2007 im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit als Rettungsassistent des Deutschen Roten Kreuzes, Kreisverband A. , einen Arbeitsunfall. Gegen 8:15 Uhr rutschte der Kläger bei einem Patiententransport auf einer Treppe aus, fing sich mit der linken Hand am Treppengeländer ab und zerrte sich dabei die linke Schulter (so übereinstimmend die Unfallschilderung aufgrund der Angaben des Klägers im Durchgangsarztbericht des Prof. Dr. F. , O. A. , vom 01.09.2007 und in der Unfallanzeige des Arbeitgebers vom 11.09.2007). Der Kläger arbeitete zunächst weiter und stellte sich wegen stärker werdenden Schmerzen gegen 11.00 Uhr bei dem Durchgangsarzt Prof. Dr. F. vor, der nach röntgenologischer Untersuchung der Schulter links, die keinen Anhalt für eine knöcherne Läsion ergab, eine Schulterzerrung diagnostizierte, und von einer Arbeitsunfähigkeit bis 07.09.2007 ausging. Am 03.09.2007 stellte sich der Kläger bei dem Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. V. vor, der ausweislich seiner Ärztlichen Unfallmeldung vom 13.09.2007 einen Druck- und Spontanschmerz über dem Acromion fand und eine Schulterzerrung links diagnostizierte. Zum Unfallhergang führte er aufgrund der Angaben des Klägers aus, dieser sei beim Patiententransport auf einer Treppe ausgerutscht und habe sich dabei die linke Schulter gezerrt. Dr. V. bescheinigte Arbeitsunfähigkeit bis 16.09.2007. Eine Wiedervorstellung erfolgte weder bei Prof. Dr. F. noch bei Dr. V ...

Vom 06. bis 11.07.2008 wurde der Kläger in den I. , M. , unter der Diagnose Discusprolaps C5/6 rechtssseitig stationär behandelt, wobei eine Foraminotomie nach Frykholm C5/6 rechts durchgeführt wurde. Dem operierenden Facharzt für Neurochirurgie Dr. Sch. erschien ein kausaler Zusammenhang zum Unfallereignis vom 01.09.2007 "durchaus möglich" und empfahl der Beklagten ein neurochirurgisches Fachgutachten. Im Rahmen der weiteren Ermittlungen der Beklagten, gab der Kläger zum Unfallhergang befragt u.a. an, mit Rücken, Hals und Kopf auf der Treppenkante aufgeschlagen zu sein. Im Hinblick auf die Vorerkrankungen des Klägers teilte die BKK 24 neben der Arbeitsunfähigkeit ab 02.06.2008 wegen Zervikalsyndrom Arbeitsunfähigkeitszeiten vom 12.03. bis 18.03.2007 und 29.10. bis 04.11.2007 wegen Schmerzen im Bereich der Brustwirbelsäule mit. In dem sodann veranlassten Zusammenhangsgutachten verneinte Prof. Dr. W. , Neurochirurgische Klinik und Poliklinik G. im Klinikum der Universität M. , einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Unfall und dem operierten Bandscheibenvorfall. Er erachtete den Sturz als Gelegenheitsursache für die Manifestation eines vorbestehenden degenerativen Prozesses. Dafür spreche, dass die initialen Beschwerden ausnahmslos linksseitig lokalisiert gewesen seien, während der Bandscheibenvorfall rechtsseitig herausgerutscht und operiert worden sei. Gegen einen Zusammenhang spreche auch die Größe des Bandscheibenvorfalls, ohne dass eine direkte Einwirkung auf die Halswirbelsäule vorhanden gewesen sei sowie die zeitliche Latenz zwischen dem Unfallereignis und der Manifestation der rechtsseitigen Beschwerden.

Mit Bescheid vom 23.02.2009 lehnte die Beklagte es ab, dem Kläger wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 01.09.2007 Rente zu gewähren. Es sei zu einer folgenlos ausgeheilten Schulterprellung links gekommen. Der Zustand nach Bandscheiben-OP rechts sei unabhängig von dem Arbeitsunfall eingetreten. Der dagegen eingelegte Widerspruch des Klägers wurde mit Widerspruchsbescheid vom 22.10.2009 zurückgewiesen.

Am 06.11.2009 hat der Kläger dagegen beim Sozialgericht Ulm (SG) Klage erhoben und geltend gemacht, der Bandscheibenvorfall sei Folge seines Treppensturzes. Erst im Zusammenhang mit dem Unfall sei es zu "Verspannungen" im Nacken gekommen. Ein degenerativer Prozess sei sehr unwahrscheinlich, da er vor dem Unfallereignis zu keinem Zeitpunkt Beschwerden in diesem Bereich gehabt habe. Der Unfallhergang lasse sich zwanglos mit dem rechtsseitig aufgetretenen Bandscheibenvorfall erklären, nachdem er sich wegen der Luxation des linken Schultergelenks am Treppengeländer nicht habe abfangen können und ungebremst mit der Wirbelsäule auf die Treppenkanten gestürzt sei. Dabei habe er sich die Bandscheibenverletzung zugezogen.

Das SG hat das Gutachten des Prof. Dr. W. , Chirurgisches Zentrum am Bundeswehrkrankenhaus W. , aufgrund Untersuchung des Klägers vom 14.09.2010 eingeholt. Dieser hat zunächst dargelegt, dass nach allgemeiner Lehrmeinung die Bandscheibenläsion nicht als unfallbedingt angesehen werden könne. Aus seiner Sicht aber sei davon auszugehen, dass der Unfallmechanismus geeignet gewesen sei, eine Schädigung der Bandscheibe und der Anheftebänder der Bandscheibe am Knochen zu bewirken. Zwar sei das erlittene Trauma, wenn es sich an einer bisher nicht geschädigten Bandscheibe auswirkte, nicht ausreichend stark gewesen, eine Zerreißung einer gesunden Bandscheibe zu induzieren. Allerdings könne nicht ausgeschlossen werden, dass das Trauma für die Bandscheibe "ausreichte", einen zerstörerischen Prozess in Gang zu setzen, der nach ca. acht bis zwölf Wochen zu einer Bandscheibenvorbuckelung bzw. zu einem Bandscheibenvorfall führte. Angesichts dessen hat er die Wahrscheinlichkeit, dass der Bandscheibenvorfall Unfallfolge ist, als erheblich höher angesehen, als die Wahrscheinlichkeit dass dieser unfallunabhängig aufgetreten sei.

Mit Urteil vom 31.08.2011 hat das SG die Klage im Wesentlichen mit der Begründung abgewiesen, es sei nicht festzustellen, dass der Kläger anlässlich seines Treppensturzes im Bereich der Bandscheibe ein Mikrotrauma erlitten habe, das im Rahmen der weiteren Entwicklung dann zu einem Bandscheibenvorfall geführt hat. Soweit der Sachverständige Prof. Dr. W. einen entsprechenden Zusammenhang hergestellt habe, beruhe dies auf der Hypothese, dass es beim Kläger bei dem Treppensturz zu einem Mikrotrauma im Bereich der Bandscheibe gekommen sei. Ein Gesundheitserstschaden sei jedoch nicht nachgewiesen.

Gegen das seinen Bevollmächtigten am 24.10.2011 zugestellte Urteil hat der Kläger am 31.10.2011 beim Landessozialgericht (LSG) Berufung eingelegt und gestützt auf das Gutachten des Prof. Dr. W. geltend gemacht, es bestehe nicht nur die "bloße Möglichkeit" eines Traumas, vielmehr lägen so erhebliche Beweisansätze vor, dass von einem "Vollbeweis der Unfallursächlichkeit" auszugehen sei. Schließlich habe er vor dem in Rede stehenden Unfall weder Bandscheiben- noch Wirbelsäulenbeschwerden gehabt; auch ein entsprechendes Unfallgeschehen als Ersatzursache komme nicht in Betracht.

Der Kläger beantragt sachdienlich gefasst,

das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 31.08.2011 aufzuheben, unter Abänderung des Bescheids vom 23.02.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.10.2009 als weitere Unfallfolge einen Zustand nach Bandscheibenoperation rechts nach massiven Prolaps C5/6 rechts mit Kompression des Myelons und Einengung des Forameneingangs rechts festzustellen und die Beklagte zu verurteilen, ihm Verletztenrente nach einer MdE um zumindest 20 v.H. zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für richtig.

Der Senat hat Dr. V. , den Facharzt für Neurochirurgie Dr. K. (Praxiskollege des Operateurs Dr. Schröder) sowie den Facharzt für Allgemeinmedizin G. schriftlich als sachverständige Zeugen angehört. Dr. V. hat über die einmalige Vorstellung des Klägers am 03.09.2007 wegen Schulterzerrung links berichtet. Der Allgemeinmediziner G. hat von den Vorstellungen des Klägers ab 02.06.2008 wegen Halswirbelsäulenbeschwerden berichtet und der auf seine Veranlassung am 19.06.2008 durchgeführten Kernspintomographie von Schulter und HWS, durch die ein massiver Prolaps 5/6 rechts objektiviert wurde, der Anlass für die im Juli 2008 durchgeführte Operation gewesen sei. Dr. K. hat über die Erstvorstellung des Klägers am 30.06.2008 berichtet, anlässlich derer er über eine seit sechs Wochen bestehende Cervikobrachialgie rechtsseitig geklagt habe.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten der Beklagten sowie der Akten beider Rechtszüge Bezug genommen.

II.

Die gemäß § 153 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) form- und fristgerecht eingelegte und gemäß § 143, 144 SGG statthafte Berufung des Klägers, über die der Senat im Rahmen des ihm zustehenden Ermessens nach Anhörung der Beteiligten gemäß § 153 Abs. 4 SGG durch Beschluss entscheidet, ist als kombinierte Anfechtungs-, Feststellungs- und Leistungsklage zulässig. Dabei ist Rechtsgrundlage für die gerichtliche Feststellung von Unfallfolgen § 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG, wonach ein Versicherter die gerichtliche Feststellung verlangen kann, ob eine Gesundheitsstörung Folge des Arbeitsunfalles ist. Die Berufung des Klägers ist hingegen nicht begründet.

Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Denn der Bescheid der Beklagten vom 23.02.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.10.2009 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Es ist nicht zu beanstanden, dass die Beklagte es abgelehnt hat, den Zustand nach Bandscheibenoperation im Bereich der Halswirbelkörper C5/6 rechts als weitere Unfallfolge anzuerkennen und ihm deswegen Verletztenrente zu gewähren.

Anspruchsgrundlage für das klägerische Begehren auf Gewährung von Verletztenrente ist § 56 Abs. 1 Satz 1 des Siebten Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB VII). Danach haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 vom Hundert (v.H.) gemindert ist, Anspruch auf eine Rente. Versicherungsfälle sind nach § 7 Abs. 1 SGB VII Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten. Arbeitsunfälle sind nach § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit).

Vorliegend ist zwischen den Beteiligten unstreitig, dass der Kläger am 01.09.2007 einen Arbeitsunfall erlitt. Im Bescheid vom 23.02.2009 ging die Beklagte selbst von einem Arbeitsunfall und einer folgenlos ausgeheilten Schulterprellung links als Unfallfolge aus. Streitig ist zwischen den Beteiligten lediglich, ob darüber hinaus auch der Bandscheibenvorfall und nach erfolgter Operation am 07.07.2008 nunmehr der Zustand nach der erfolgten Bandscheibenoperation als Unfallfolge anzusehen ist und hierdurch die Erwerbsfähigkeit des Klägers in einem rentenberechtigenden Ausmaß eingeschränkt ist.

Im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung gilt wie allgemein im Sozialrecht für den ursächlichen Zusammenhang zwischen Unfallereignis und Gesundheitsschaden die Theorie der wesentlichen Bedingung (hierzu und zum Nachfolgenden BSG, Urteil vom 12.04.2005, B 2 U 27/04 R in SozR 4-2700 § 8 Nr. 15). Diese setzt zunächst einen naturwissenschaftlichen Ursachenzusammenhang zwischen dem Unfallereignis und dem Gesundheitsschaden voraus. Es ist daher in einem ersten Schritt zu klären, ob der Gesundheitsschaden auch ohne das Unfallereignis eingetreten wäre. Ist dies der Fall, war das Unfallereignis für den Gesundheitsschaden schon aus diesem Grund nicht ursächlich. Kann dagegen das Unfallereignis nicht hinweggedacht werden, ohne dass der Gesundheitsschaden entfiele (conditio sine qua non), ist in einem zweiten, wertenden Schritt zu prüfen, ob das versicherte Unfallereignis für den Gesundheitsschaden wesentlich war. Denn als im Sinne des Sozialrechts ursächlich und rechtserheblich werden nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben. Welche Ursache wesentlich ist und welche nicht, muss aus der Auffassung des praktischen Lebens über die besondere Beziehung der Ursache zum Eintritt des Erfolgs bzw. Gesundheitsschadens abgeleitet werden (BSG, Urteil vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R in SozR 4-2700 § 8 Nr. 17).

Die hier vorzunehmende Kausalitätsprüfung hat somit nach dieser zweistufigen Prüfung zu erfolgen.

Die anspruchsbegründenden Tatsachen, nämlich die versicherte Tätigkeit, die schädigende Einwirkung und die als Unfallfolge geltend gemachte Gesundheitsstörung müssen erwiesen sein, d.h. bei vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens muss der volle Beweis für das Vorliegen der genannten Tatsachen als erbracht angesehen werden können (vgl. u. a. BSG, Urteil vom 30.04.1985, 2 RU 43/84 in SozR 2200 § 555a Nr. 1). Hingegen genügt hinsichtlich des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der versicherten Tätigkeit und der schädigenden Einwirkung eine hinreichende Wahrscheinlichkeit (BSG, Urteil vom 09.05.2006, a.a.O. auch zum Nachfolgenden). Diese liegt vor, wenn bei vernünftiger Abwägung aller wesentlichen Gesichtspunkte des Einzelfalls mehr für als gegen einen Ursachenzusammenhang spricht und ernste Zweifel ausscheiden. Es genügt nicht, wenn der Ursachenzusammenhang nicht auszuschließen oder nur möglich ist. Dabei ist zu beachten, dass der Ursachenzusammenhang zwischen dem Unfallereignis und den Unfallfolgen als anspruchsbegründende Voraussetzung positiv festgestellt werden muss. Denn es gibt im Bereich des Arbeitsunfalls keine Beweisregel, dass bei fehlender Alternativursache die versicherte naturwissenschaftliche Ursache automatisch auch eine wesentliche Ursache ist, weil dies bei komplexem Krankheitsgeschehen zu einer Beweislastumkehr führen würde. Es reicht daher zur Begründung des ursächlichen Zusammenhangs nicht aus, gegen diesen Zusammenhang sprechende Umstände auszuschließen.

Nach diesen Grundsätzen ist nicht hinreichend wahrscheinlich, dass der Unfall vom 01.09.2007 naturwissenschaftliche Ursache des beim Kläger aufgetretenen Bandscheibenvorfalls im Bewegungssegment C5/6 war. Denn wesentliche Indizien, die auf eine akute Schädigung im Bereich des Bewegungssegments C5/6 und damit eine Substanzschädigung der betreffenden Bandscheibe in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit dem Unfallereignis hinweisen, sind nicht ersichtlich.

Regelmäßig wird nach der Praxis der Unfallversicherungsträger und der Sozialgerichte angesichts des üblichen Verlaufs der - zunächst von der durch die Heilungsabsicht geprägten Diagnostik getragenen - medizinischen Maßnahmen nach einem Arbeitsunfall für die Prüfung, ob Zeichen einer akuten Substanzschädigung vorliegen, maßgeblich auf die vom erstuntersuchenden Arzt erhobenen Befunde mit Diagnose, die danach veranlasste bildgebende Diagnostik (insbesondere Röntgenaufnahmen, Sonografie, Kernspintomografie) und eventuell durchgeführte invasive Diagnoseverfahren (insbesondere Arthroskopie) mit nachfolgender mikroskopischer Auswertung (Histologie) abgestellt. Ergeben sich hieraus keine oder keine hinreichenden Hinweise auf akute traumatische Verletzungen der in Rede stehenden Strukturen, wie plötzliche Funktionseinschränkungen, Einblutungen, sonstige Flüssigkeitsansammlungen und dergleichen, wird eine traumatische Schädigung eher unwahrscheinlich sein. Liegen dagegen derartige Hinweise vor, ohne dass eine andere Schädigung als der Arbeitsunfall örtlich-zeitlich in Rede steht, wird ein naturwissenschaftlicher Zusammenhang regelmäßig als wahrscheinlich anzunehmen sein (ständige Rechtsprechung des Senats seit Urteil vom 12.11.2009, L 10 U 3951/08, veröffentlicht u.a. in juris).

Vorliegend ist bereits nicht festzustellen, dass der Unfall zu einer Einwirkung auf den Bereich der Halswirbelsäule und damit zu einer Schädigung in diesem Bereich führte. Denn Zeichen einer akuten Verletzung im Bereich der Halswirbelsäule hat keiner der den Kläger in unmittelbarem Anschluss an den Unfall untersuchenden Ärzte festgestellt, weder der erstbehandelnde Durchgangsarzt Prof. Dr. F. am Unfalltag noch Dr. V. , bei dem sich der Kläger zwei Tage später vorstellte. Prof. Dr. F. und Dr. V. haben im Durchgangsarztbericht bzw. der Ärztlichen Unfallmeldung darüber hinaus auch nicht dokumentiert, dass der Kläger über Beschwerden, die auf eine Verletzung im Bereich der HWS hindeuten könnten, geklagt hätte. Folgerichtig haben sie auch keine Veranlassung gesehen, eine bildgebende Untersuchung der HWS zu veranlassen. Für den Senat überzeugend gingen Prof. Dr. F. und Dr. V. angesichts der Unfallschilderung des Klägers (beim Patiententransport auf der Treppe ausgerutscht und mit der linken Hand am Treppengeländer abgefangen) und dem Umstand, dass die röntgenologische Untersuchung der rechten Schulter keinen Anhalt für eine knöcherne Läsion ergab, daher auch übereinstimmend von einer Schulterzerrung links aus. Auch zeitlich nach den erwähnten Vorstellungen stellte sich der Kläger zeitnah zu dem Unfall nicht erneut bei Prof. Dr. F. oder Dr. V. vor, sei es wegen der verletzten Schulter oder im Hinblick auf mögliche Beeinträchtigungen von Seiten der Halswirbelsäule.

Soweit der Kläger gegenüber der Beklagten erstmals im September 2008, also ca. ein Jahr nach dem Unfall, zum Unfallhergang angab, bei dem Sturz mit Rücken, Hals und Kopf auf die Treppenkante aufgeschlagen zu sein, lässt sich hieraus keine Verletzung des Halswirbelsäule ableiten. Denn - wie ausgeführt - klagte der Kläger gegenüber den erstbehandelnden Ärzte weder über Beschwerden, die einer Halswirbelsäulenverletzung zugeordnet werden könnten, noch erhoben diese Ärzte Befunde, die auf eine entsprechende Verletzung hindeuten könnten. Im Übrigen stehen diese Angaben des Klägers in Widerspruch zu seinen Unfallschilderungen, wie er sie zeitnah zu dem Unfall gegenüber Prof. Dr. F. , Dr. V. und seinem Arbeitgeber machte. Diesen gegenüber berichtete er nämlich nicht von einem Aufschlagen von Rücken, Hals und Kopf auf die Treppenkante. Vielmehr ist im Durchgangsarztbericht des Prof. Dr. F. ebenso wie in der Unfallanzeige des Arbeitgebers ausschließlich von einem Abfangen am Treppengeländer mit der linken Hand die Rede, bei dem es zu einer Zerrung der Schulter gekommen sei. Auch in seiner Ärztlichen Unfallmeldung berichtete Dr. V. lediglich über ein Ausrutschen mit Zerrung der linken Schulter. Eine Verletzung im Bereich der Halswirbelsäule, die mit einer entsprechenden Schädigung der Bandscheibe im Bereich des Bewegungssegments C5/6 in Zusammenhang stehen könnte, ist mithin nicht festzustellen.

Ein erstmaliger Arztkontakt wegen Beschwerden im Bereich der Halswirbelsäule ist - vgl. die Angaben der Krankenkasse des Klägers gegenüber der Beklagten und die sachverständige Zeugenauskunft von Dr. G. gegenüber dem Senat - für Juni 2008, also fast ein Jahr nach dem in Rede stehenden Arbeitsunfall, nachgewiesen. Aber selbst wenn die Angaben des Klägers gegenüber Prof. Dr. W. zugrunde gelegt werden, wonach die seitens der Krankenkasse für Oktober 2007 dokumentierten Wirbelsäulenbeschwerden nicht nur auf die Brustwirbelsäule beschränkt waren, sondern auch die Halswirbelsäule betrafen, lag eine Latenz von acht Wochen zwischen dem Unfallereignis und der Manifestation rechtsseitiger Beschwerden vor. Deshalb hat der Sachverständige Prof. Dr. W. bei Anwendung der allgemeinen Lehrmeinung zur Kausalität zwischen Unfall und Bandscheibenvorfall die beim Kläger objektivierte Bandscheibenläsion nicht als unfallbedingt angesehen. So hat der Sachverständige, die allgemeine Lehrmeinung dargelegt, wonach der Unfallzusammenhang für hinreichend wahrscheinlich erachtet wird, wenn - u.a. - Symptome in unmittelbarem Anschluss an den Unfall auftreten und vor dem Unfall eine Beschwerdefreiheit vorlag. Unter Anwendung dessen hat er angesichts der langen Latenzphase zwischen dem Unfallereignis und dem Auftreten rechtsseitiger Beschwerden von acht Wochen einen Zusammenhang selbst unter Berücksichtigung des Umstandes verneint, dass ein verzögerter Beschwerdebeginn mit beschwerdefreiem Intervall nicht zwangsläufig einen Unfallzusammenhang ausschließt.

Im Ergebnis hat somit kein Gutachter bei Zugrundelegung der allgemeinen Lehrmeinung den Kausalzusammenhang zwischen Unfallereignis und Bandscheibenvorfall bejaht.

Vor dem Hintergrund all dieser Gesichtspunkte vermag der Senat nicht davon auszugehen, dass der beim Kläger im Juni 2008 objektivierte Bandscheibenvorfall mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ursächlich auf den in Rede stehenden Unfall vom 01.09.2007 zurückzuführen ist. Zuzugeben ist dem Kläger zwar, dass der Beginn der Beschwerden zeitlich nach dem Unfall liegt. Jedoch kann der ursächliche Zusammenhang im naturwissenschaftlichen Sinn nicht rein zeitlich begründet werden, sondern muss sachlich-inhaltlich nachvollziehbar sein. Dem entsprechend kann im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung auch nicht im Sinne eines Anscheinsbeweises aus dem Vorliegen einer bestimmten Einwirkung auf die berufliche Verursachung der Erkrankung geschlossen werden (BSG, Urteil vom 07.09.2004, B 2 U 34/03 R). Zu beachten ist ferner, dass der Ursachenzusammenhang zwischen Unfallereignis und Unfallfolgen positiv festgestellt werden muss (BSG, Urteil vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R in SozR 4-2700 § 8 Nr. 17). Insbesondere gibt es keine Beweisregel, dass bei fehlender Alternativursache und einem rein zeitlichen Zusammenhang die versicherte naturwissenschaftliche Ursache automatisch auch eine wesentliche Ursache ist, weil dies bei komplexem Krankheitsgeschehen zu einer Beweislastumkehr führen würde (BSG, a.a.O.).

Soweit der Sachverständige Prof. Dr. W. - durch dessen Darlegungen sich der Kläger in seiner Ansicht bestätigt sieht - ausgeführt hat, die Wahrscheinlichkeit, dass der Bandscheibenvorfall Unfallfolge ist, sei erheblich höher, als die Wahrscheinlichkeit, dass dieser unfallunabhängig aufgetreten sei, rechtfertigt dies keine andere Beurteilung. Denn der von dem Sachverständigen dargelegte ursächliche Zusammenhang genügt nicht den oben beschriebenen Beweisanforderungen im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung. Der ursächliche Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und einer als Unfallfolge geltend gemachten Gesundheitsstörung darf nämlich nicht nur möglich sein, er muss vielmehr wahrscheinlich sein. Die Annahme einer solchen Wahrscheinlichkeit rechtfertigen die der Schlussfolgerung des Prof. Dr. W. zu Grunde liegenden Ausführungen jedoch nicht.

In seiner Kritik an der zuvor dargelegten allgemeinen Lehrmeinung hat Prof. Dr. W. in Bezug auf den geforderten zeitnahen Beginn typischer Beschwerden ausgeführt, dass der aktuelle Stand des Wissens noch auf einem sehr geringen Stand sei und es in Bezug auf die Entstehung von degenerativen Bandscheibenschäden bislang kein klares eindeutiges Konzept gebe. So wisse man nicht, ob bei der Degeneration sich der Schaden von innen aus dem Gallertkern nach außen in Richtung des umgebenden Faserrings entwickele, so lange, bis der Gallertkern nach außen, außerhalb des Faserrings durchbrechen könne (= Bandscheibenvorfall), oder ob außen minimale Strukturveränderungen im Bereich der Anhaftungsränder der Bandscheibe an die Wirbelkörper zu Auswirkungen am Faserring führen, die dann mit einer Schwächung des Faserrings einhergehen und auf Dauer zum Austreten des inneren Gallertkerns führen. Degenerative Vorgänge würden jedoch als Folgen von Mikrotraumen gelten, die auf Dauer, also über die Zeit hinweg, über komplexe Interaktionen biochemischer Art zu erheblichen Strukturschwächen führen könnten und letztlich zum Bandscheibenvorfall. Vor diesem Hintergrund sei es auch vorstellbar, dass ein stärkeres Trauma, das aufgrund seines Ausmaßes zwar nicht geeignet sei, eine gesunde Bandscheibe "sofort" zu zerreißen und mit einem sofortigen Beschwerdebeginn einherzugehen, geeignet sei, Teilstrukturen des Faserrings der Bandscheibe so zu schädigen, dass Folgeentwicklungen biochemischer Art in Gang gesetzt werden, die ohne weiteres Trauma zu einer weiteren Schädigung der Bandscheibe und dann letztlich zu einem Bandscheibenvorfall führen, und dies erst nach Wochen oder Monaten. Diese Möglichkeit sei - so der Sachverständige - auch vor dem Hintergrund einer neueren wissenschaftlichen Studie im Rahmen einer Untersuchung an einem Bandscheiben/Wirbelkörpergrenzzonen-Kulturmodell "zumindest" in Betracht zu ziehen, da die Studie gezeigt habe, dass auch nach einem mittelgradigen Trauma über äußerst komplexe molekularbiologische Vorgänge über nachfolgende Genexpressionen und Veränderungen des Bandscheibenstoffwechsels schädigende Strukturveränderungen der Bandscheiben entstehen können. Soweit der Sachverständige es vor diesem Hintergrund sogar als wahrscheinlicher erachtet hat, dass ein mäßiggradig schweres Trauma an der Wirbelsäule bei zuvor intakter Bandscheibe nicht sofort einen Bandscheibenvorfall induziert, weil es ihm plausibler erscheine, dass die aufgeführten Zellsteuerungsmechanismen und Zelluntergangsvorgänge neben Reparaturvorgängen eine gewisse Zeit benötigen, in denen die Struktur der Bandscheibe sich so verändert, dass letztlich eine Schwäche der Struktur mit konsekutivem Vorfall des Gallertkerns resultieren kann, hat der Sachverständige eine Möglichkeit aufgezeigt, wie sich ausgehend von einem nicht schwerwiegenden Trauma ein später aufgetretener Bandscheibenvorfall erklären lassen könnte. Dass auch im Falle des Klägers nicht ausgeschlossen werden könne - so der Sachverständige -, dass das Trauma für die Bandscheibe "ausreichte", einen zerstörerischen Prozess in Gang zu setzen, der nach acht bis zwölf Wochen zu einer Bandscheibenvorbuckelung bzw. zu einem Bandscheibenvorfall führte, macht auch in Bezug auf den vorliegenden Sachverhalt hinreichend deutlich, dass der Sachverständige lediglich einen bestimmten Schädigungsmechanismus nicht ausschließen will und er es daher für möglich erachtet, dass beim Kläger bedingt durch den in Rede stehenden Sturz Mikrotraumen auftraten und einen Prozess in Gang setzten, der letztlich zu dem Bandscheibenvorfall führte. Angesichts der von dem Sachverständigen deutlich gemachten Ungewissheit über die Entstehung degenerativer Bandscheibenschäden rechtfertigen diese Überlegungen allerdings nicht schon die Annahme, dass der Unfall vom 01.09.2007 hinreichend wahrscheinlich den im Juni 2008 objektivierten Bandscheibenvorfall verursachte. Schließlich beruht die von dem Sachverständigen rein theoretisch als möglich aufgezeigte Kausalkette in Bezug auf den vorliegenden Sachverhalt nicht einmal auf einer hinreichend sicheren Tatsachengrundlage, nachdem schon nicht festgestellt werden kann, dass es beim Kläger anlässlich des erlittenen Sturzes, bei dem er sich die linke Schulter zerrte, tatsächlich im Bereich der Bandscheibe der Wirbelkörper C5/6 gerade auch rechtsseitig zu den minimalen Strukturveränderungen kam, die dann den zerstörerischen Prozess in Gang gesetzt haben sollen. Eine für sich günstigere Entscheidung kann der Kläger daher auch aus dem Gutachten des Prof. Dr. W. nicht ableiten.

Soweit der Kläger zuletzt die Beiziehung von Unterlagen über eine weitere Operation beantragt und die Anhörung des hiernach aufgesuchten Arztes als sachverständiger Zeuge angeregt hat, lehnt der Senat dies ab. Denn der maßgebliche Aspekt - fehlende Betroffenheit der Halswirbelsäule durch das Unfallereignis und zu lange Latenz bis zum Auftreten von Beschwerden - ist weder durch Unterlagen über eine lange Jahre nach dem Unfall erfolgte (weitere Operation) noch durch einen Behandlungsbericht des hiernach aufgesuchten Arztes zu beeinflussen. Aus diesem Grund folgt der Senat auch nicht der Anregung des Klägers, bei diesem Arzt ein Sachverständigengutachten von Amts wegen einzuholen. Ein eventuell mit dieser Anregung verbundener Antrag nach § 109 SGG lehnt der Senat ab, weil dieser Antrag angesichts der seit März 2012 angekündigten Entscheidung des Senats verspätet ist

Die Berufung des Klägers kann nach alledem keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Für eine Zulassung der Revision besteht keine Veranlassung.
Rechtskraft
Aus
Saved