L 18 U 62/99

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
18
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 5 U 18/96
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 18 U 62/99
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 16.12.1998 und der Bescheid der Beklagten vom 06.09.1995 idF des Widerspruchsbescheides vom 27.12.1995 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, bei der Klägerin eine Berufskrankheit nach Nr 2108 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung anzuerkennen und eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 v.H. nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu gewähren.
II. Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob bei der Klägerin eine Berufskrankheit (BK) Nr 2108 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung - BKV - (bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule - LWS -) anzuerkennen und zu entschädigen ist.

Die am 1959 geborene Klägerin war nach einer Lehre als Friseuse in den Jahren 1974/1975 bis 1980 als Näherin und Küchenhilfe tätig. Von 1980 bis 1982 war sie bei der Firma A. , von 1983 bis 1993 bei der Firma N. als Kassiererin tätig. Dabei oblag ihr auch das Auspacken und Einsortieren von Waren. Vom 01.10.1990 bis 13.10.1990 war die Klägerin wegen einer Lumboischialgie arbeitsunfähig erkrankt. Auch in den folgenden Jahren litt sie wiederholt an Rückenschmerzen. Am 08.07.1993 erlitt sie beim Ziehen eines mit Milch beladenen Palettenwagens einen Bandscheibenvorfall L5/S1 links. Anschließend war sie arbeitsunfähig erkrankt. Eine im Juni 1994 erfolgte Bandscheibenoperation brachte keine wesentliche Besserung der Beschwerden. Seit 11.08.1994 bezieht sie Rente wegen Erwerbsunfähigkeit von der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte. Der Technische Aufsichtsdient (TAD) der Beklagten bejahte in seinen Berichten vom 27.05.1994 und 26.06.1995 die arbeitstechnischen Voraussetzungen für die Anerkennung einer BK. Er führte aus, die Klägerin habe über einen Zeitraum von mehr als 10 Jahren Lasten von 15 kg und mehr von Hand und teilweise in Rumpfbeugung von 60 Grad und mehr arbeitstäglich mindestens 3 Stunden gehoben und getragen. Der Chirurg Dr.L. verneinte in einem von der Beklagten veranlassten Gutachten vom 03.04.1995 das Vorliegen einer relevanten wirbelsäulenbelastenden Tätigkeit der Klägerin und hielt die Verschleißerscheinungen an ihrer Wirbelsäule für anlagebedingt. Daraufhin lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 06.09.1995 die Anerkennung und Entschädigung der Wirbelsäulenerkrankung als BK sowie die Gewährung von Leistungen nach § 3 BKV ab. Den Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 27.12.1995 zurück. Sie bejahte zwar das Vorliegen der arbeitstechnischen Voraussetzungen, verneinte aber einen ursächlichen Zusammenhang zwischen den Beschwerden und der beruflichen Tätigkeit.

Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Würzburg hat die Klägerin die Anerkennung ihrer Wirbelsäulenerkrankung als BK nach 2108 der Anlage zur BKV und die Zahlung einer Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um mindestens 20 vH ab dem frühestmöglichen Zeitraum sowie die Gewährung von Maßnahmen nach § 3 BKV begehrt. Das SG hat die Klägerin von Amts wegen von der Orthopädin Dr.C. (Gutachten vom 05.12.1996) und gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) von dem Orthopäden Dr.S. (Gutachten vom 15.07.1997) untersuchen lassen. Während Dr.C. einen ursächlichen Zusammenhang der Wirbelsäulen-Erkrankung mit der beruflichen Exposition verneint hat, hat Dr.S. die bei der Klägerin festgestellten Veränderungen der LWS für beruflich bedingt gehalten. Das SG hat die Klage mit Urteil vom 16.12.1998 abgewiesen und sich auf das Gutachten der Dr.C. gestützt.

Gegen dieses Urteil hat die Klägerin Berufung eingelegt. Der Senat hat ein Gutachten des Chirurgen Dr.G. vom 08.09.1999 von Amts wegen und gemäß § 109 SGG ein Gutachten vom 16.10.2002 der Professorin Dr.E. (Johann Wolfgang-Goethe-Universität, Institut für Arbeitsmedizin, F.) eingeholt. Dr.G. hat das Vorliegen einer BK nach Nr 2108 insbesondere deshalb verneint, weil bei der Klägerin ein chronisches, seit mehreren Jahren bestehendes Beschwerdebild iS eines Bandscheibenschadens der LWS nicht vorgelegen habe. Bei dem Bandscheibenvorfall habe es sich um ein plötzliches Ereignis gehandelt und das Postnucleotomie-Syndrom sei die Folge der Bandscheibenoperation. Auch seien die Zeichen der Degeneration in allen Wirbelsäulenabschnitten geringgradig und somit nicht altersvorauseilend. Schließlich liege eine radikuläre Symptomatik als Voraussetzung für die Anerkennung einer Wirbelsäulen-Erkrankung nicht vor. Demgegenüber hat Prof. Dr.E. die Bandscheibenerkrankung der Klägerin mit Wahrscheinlichkeit auf die beruflichen Belastungen zurückgeführt.

Der Facharzt für Arbeitsmedizin Dr.S. vom TAD der Beklagten hat mit Schreiben vom 08.11.2002 unter Berufung auf eine Prüfungsarbeit vom Oktober 1999 des technischen Aufsichtsbeamten im Vorbereitungsdienst bei der Berufsgenossenschaft für den Einzelhandel, Dipl.-Ing. P. , das Vorliegen der arbeitstechnischen Voraussetzungen für die Tätigkeit der Klägerin (nunmehr) verneint. Die vom Senat zu dieser Prüfungsarbeit gehörte Professorin Dr.E. hat eine Anwendung der dort vorgenommenen Modellrechnungen auf den konkreten Erkrankungsfall der Klägerin nicht für zulässig erachtet.

Die Klägerin beantragt, das Urteil des SG Würzburg vom 16.12.1998 und den Bescheid der Beklagten vom 06.09.1995 idF des Widerspruchsbescheides vom 27.12.1995 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, bei ihr eine BK nach Nr 2108 der Anlage zur BKV anzuerkennen und Verletztenrente nach einer MdE vom 20 vH ab dem frühestmöglichen Zeitpunkt zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Würzburg vom 16.12.1998 zurückzuweisen.

Ergänzend zum Sachverhalt wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten, die beigezogene Rentenakte der BfA, die Archivakten des SG Würzburg S 11 U 281/94 und S 2 Vs 23/95 sowie die Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin ist zulässig und begründet.

Vorliegend ist noch die Reichsversicherungsordnung (RVO) und nicht das am 01.01.1997 in Kraft getretene Sozialgesetzbuch Siebtes Buch - Gesetzliche Unfallversicherung - (SGB VII) anzuwenden, denn der Versicherungsfall ist vor dem 01.01.1997 eingetreten und die von der Klägerin begehrte Leistung ist vor diesem Zeitpunkt festzusetzen (§§ 212, 214 Abs 3 SGB VII).

Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung (§ 547 RVO) sind dann zu gewähren, wenn ein Versicherter einen Arbeitsunfall iS der §§ 548 ff RVO erlitten hat. Nach § 551 Abs 1 Satz 1 RVO gilt als Arbeitsunfall ferner eine BK. BKen sind die Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates bezeichnet und die ein Versicherter bei den in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet (Satz 2). Die Bundesregierung ist ermächtigt worden, in der Rechtsverordnung Folgekrankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre Arbeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind (Satz 3). Von dieser Ermächtigung hat die Bundesregierung mit der BKV Gebrauch gemacht und durch die Zweite Verordnung zur Änderung der BKV in Nr 2108 der Anlage bandscheibenbedingte Erkrankungen der LWS durch langjähriges Heben und Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung als BK anerkannt.

Bei einer Berufskrankheit ist der Zeitpunkt des Eintrittes des Versicherungsfalls grundsätzlich der Tag, für den erstmals krankhafte Befunde iS der betroffenen Berufskrankheit nachgewiesen sind. Bei Berufskrankheiten mit weiteren versicherungsrechtlichen Merkmalen, wie hier dem Zwang zur Unterlassung aller Tätigkeiten, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können, tritt der Versicherungsfall erst mit deren vollständigen Vorliegen ein (vgl BSG SozR 3-5670 Anl 1 Nr 2108 Nr 2 und Hessisches LSG Urteil vom 18.03.2002 Az: L 11 U 83/01 in juris Nr KSRE 03190 0322). Der Unterlassungszwang betrifft gefährdende Tätigkeiten, die entweder bereits in der Vergangenheit rechtlich wesentlich für das Entstehen, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben einer Krankheit ursächlich waren oder in Zukunft ursächlich sein können.

Die Feststellung einer BK nach Nr 2108 setzt grundsätzlich voraus (vgl Mehrtens/Perlebach, Die Berufskrankheiten-Verordnung - Kommentar-E § 9 SGB VII RdNr 14), dass zum einen in der Person des Versicherten die sogenannten technischen Voraussetzungen erfüllt sind, dh dass der Betreffende im Rahmen seiner versicherten Tätigkeit schädigenden Einwirkungen iS der BK ausgesetzt gewesen ist, die geeignet waren, einen entsprechenden Gesundheitsschaden zu bewirken (haftungsbegründende Kausalität). Zum anderen muss ein Zusammenhang zwischen der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung bestehen (haftungsausfüllende Kausalität). Während die arbeitstechnischen Voraussetzungen und der Gesundheitsschaden voll bewiesen sein müssen, reicht zur Bejahung des Kausalzusammenhangs zwischen der schädigenden Einwirkung und dem Gesundheitsschaden die hinreichende Wahrscheinlichkeit aus (vgl BSG SozR 2200 § 548 Nr 38; Mehrtens/Perlebach, aaO RdNr 26). Bezüglich der hier streitigen BK müssen also iS des Vollbeweises eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS (Gesundheitsschaden) und die arbeitstechnischen Voraussetzungen "langjähriges Heben und Tragen schwerer Lasten" (= haftungsbegründende Kausalität) nachgewiesen sein, der Gesundheitsschaden muss iS der unfallrechtlichen Kausalitätslehre (vgl BSG SozR 2200 § 551 Nr 1; SozR 3-2200 § 548 Nrn 4, 11, 14; Mehrtens/Perlebach aaO Nr 17 ff) mit Wahrscheinlichkeit wesentlich ursächlich oder mitursächlich auf die belastende berufliche Tätigkeit zurückzuführen sein (haftungsausfüllende Kausalität). Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs liegt vor, wenn nach vernünftiger Abwägung aller Umstände den für den Zusammenhang sprechenden Umständen ein deutliches Übergewicht zukommt, so dass darauf die richterliche Überzeugung gegründet werden kann (vgl BSG Urteil vom 27.06.2000 HVBG-Info 2000, 2811).

Ausgehend von diesen Voraussetzungen liegt bei der Klägerin eine BK nach Nr 2108 der Anlage zur BKV vor, da der Versicherungsfall mit der Aufgabe der Tätigkeit als Kassiererin seit dem 08.07.1993 eingetreten ist und sowohl die haftungsbegründende als auch die haftungsausfüllende Kausalität gegeben sind.

Die Klägerin erfüllt die arbeitstechnischen Voraussetzungen für die Anerkennung einer BK nach Nr 2108 "langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten". Das zur BK Nr 2108 vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung herausgegebene Merkblatt für die ärztliche Untersuchung (abgedruckt bei Mehrtens/Perlebach, aaO M 2108 S 1 ff), das zwar keine verbindliche, im Range der Verordnung stehende Erläuterung darstellt, aber Hinweise für die Beurteilung von möglichen Zusammenhängen aus arbeitsmedizinischer Sicht gibt und eine arbeitstechnische und medizinische Konkretisierung der BK beinhaltet (vgl BSG-Urteil vom 23.03.1999 - B 2 U 12/98 R -), weshalb es als wertvolles Hilfsmittel für das Erkennen einer BK anzusehen ist, führt in seinem Abschnitt I beispielhaft Beschäftigte in der Kranken- und Altenpflege für berufliche Belastungen der Lendenwirbelsäule auf und verweist darauf, dass Tätigkeiten mit vergleichbarem Belastungsprofil als Gefahrenquelle ebenfalls in Betracht zu ziehen sind. Eine zusätzliche Gefährdung geht von Arbeiten mit Heben und Tragen schwerer Lasten und Arbeiten in extremer Rumpfbeugehaltung aus, wenn sie in verdrehter Körperhaltung durchgeführt werden. Im Abschnitt IV werden Anhaltspunkte für den Begriff "schwere Lasten" angegeben. Die - aus präventivmedizinischen Gründen festgelegten - Lastgewichte betragen bei Frauen im Alter zwischen 18 und 39 Jahren 15 kg und ab dem Alter von 40 Jahren 10 kg. Diese Lastgewichte müssen mit einer gewissen Regelmäßigkeit und Häufigkeit in der überwiegenden Zahl der Arbeitsschichten gehoben und getragen werden, um als Ursache von bandscheibenbedingten Erkrankungen der LWS in Frage kommen zu können. So werden in dem Merkblatt beispielsweise Schwesternhelferinnen genannt, die danach schon dann gefährdet sind, wenn sie lediglich zu ca 12 % der Schicht Arbeiten mit Heben und Tragen von schweren Lasten verrichten. "Langjährig" bedeutet nach diesem Merkblatt, dass regelmäßig 10 Berufsjahre als untere Grenze der Dauer der belastenden Tätigkeit zu fordern sind.

Diese Voraussetzungen werden von der Klägerin sämtlich erfüllt. Dies ergibt sich aus den Stellungnahmen des TAD der Beklagten vom 27.05.1994 und 26.06.1995. Danach hat die Klägerin bei der Firma N. in einem Zeitraum von mehr als 10 Jahren täglich 3 Stunden und mehr Kartons mit Konservendosen, Waschmittel- und Getränkegebinden, Kühl- und Tiefkühlkost sowie Obst- und Gemüsekisten mit 15 kg und mehr gehoben und im Schnitt 6 - 10 Meter weit von Hand getragen. Beim Absortieren der Waren von den Paletten in die Regale und auf die Verkaufsplätze wurden teilweise Rumpfbeugehaltungen von mehr als 60 Grad erreicht. Ebenso wurde bei diesen Tätigkeiten die Last seitwärts mit verdrehtem Körper manipuliert, so dass eine kombinierte horizontal-vertikale Belastung beim Heben von Lasten aufgetreten ist. Der TAD hat für den Senat nachvollziehbar dargestellt, dass entscheidend für die belastete Wirbelsäule die auf die Zwischenwirbelsäule wirkende Druckkraft ist. Diese Druckkraft erreicht bei einem Rumpfbeugewinkel größer 90 Grad ein Maximum (Arbeiten in einem extremen Rumpfbeugewinkel). Dies bezieht sich aber auf Arbeiten o h n e Last. Wenn mit Last hantiert wird (wie eine Verkäuferin beim Regaleinräumen und Palettenabpacken), wird nach den Feststellungen des TAD das Maximum der Druckkraft bei 60 Grad erreicht.

Die vom Beklagten vorgelegte Prüfungsarbeit des Dipl.-Ing. P. vermag das Vorliegen der arbeitstechnischen Voraussetzungen nicht zu widerlegen. Es handelt sich bei dieser Arbeit nicht um eine Ermittlung der arbeitstechnischen Voraussetzungen im Falle der Klägerin, sondern nur um einen Verfahrensvorschlag, welcher an einer Modellrechnung aus dem Bereich des Lebensmitteleinzelhandels beispielhaft dargestellt wird. Rückschlüsse auf den konkreten Erkrankungsfall der Klägerin können hieraus nicht gezogen werden, da das Ergebnis der Prüfarbeit nicht die tatsächlichen beruflichen Belastungen der Klägerin berücksichtigt. So geht Dipl.-Ing. P. in seiner Modellrechnung davon aus, dass beinahe 90 % der Lasten, die eine Kassiererin oder Packerin zu bewegen hat, ein Gewicht unterhalb von 15 kg haben. Nach den Ermittlungen des TAD hat die Klägerin aber täglich mehr als 3 Stunden Lasten mit einem Gewicht von 15 kg und mehr gehoben und getragen. Auch hat die Klägerin glaubhaft gelegentliche Lastgewichte von über 50 kg bei den Begutachtungen angegeben. Auch das Tragen der Lasten über Entfernungen zwischen 6 und 10 Meter haben in den Annahmen der Modellrechnung keine Entsprechung gefunden. Die Prüfarbeit zeigt darüber hinaus keine Analyse und kritische Wertung der verwendeten Daten. Hierzu wäre zumindest eine Darstellung der Daten und der Datenerhebung notwendig gewesen. So finden sich keine Angaben über die Firmen, in welchen die Daten ermittelt wurden. Weiterhin erscheint es fragwürdig, ob anhand von nur 40 Ermittlungsbögen und 10 Untersuchungsberichten zu einzelnen Berufskrankheitenverfahren eine Aussage über das spezielle Gefährdungspotential in einzelnen Filialen ganzer Handelsketten getroffen werden kann.

Die Klägerin leidet auch an einer bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS. Als eine derartige Erkrankung sind in der Begründung der Zweiten Änderungsverordnung u.a. der Bandscheibenvorfall aufgeführt. Nach den Feststellungen der Prof. Dr.E. leidet die Klägerin an einer Bandscheibenvorwölbung der Bandscheibe L 4/L 5 und einem Postdiscotomie-Syndrom nach Bandscheibenoperation L 5/S 1. Die Bandscheibenoperation war wegen eines am 08.07.1993 erlittenen akuten Bandscheibenvorfalls bei L 5/S 1 erforderlich. Auch die jetzt noch bestehende Bandscheibenprotrusion stellt eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS dar (vgl Mehrtens/Perlebach aaO RdNr 5).

Diese bandscheibenbedingten Erkrankungen der LWS der Klägerin sind mit Wahrscheinlichkeit durch deren berufliche Tätigkeit verursacht worden. Bei der Klägerin hat über ein Jahrzehnt eine erhebliche LWS-Belastung vorgelegen, die nach Art und Ausmaß geeignet war, die konkrete LWS-Erkrankung hinsichtlich Art und Auswirkung, Lokalisation und Erkrankungsverlauf zu verursachen. Die auf den vorliegenden Einzelfall bezogene Kausalitätsbeurteilung hat auf der Grundlage der Theorie der wesentlichen Bedingung zu erfolgen. Etwaige Schadensanlagen der Klägerin führen bei dieser Kausalitätsabwägung nicht zum Ausschluss der Ursächlichkeit der beruflichen Wirbelsäulenbelastungen.

Prof. Dr.E. weist in ihrem Gutachten darauf hin, dass epidemiologische Studien, welche eine erhöhte Gefährdung für die spezielle Berufsgruppe der als Lageristinnen und Kassiererinnen tätigen Frauen im Lebensmittel-Discount-Bereich nachweisen, bisher nicht existieren. In einer Fall-Kontroll-Studie bei 232 Patienten mit gesichertem Befund eines Bandscheibenvorfalls der LWS konnte aber gezeigt werden, dass ein häufiges Heben von Lasten mit einem Gewicht von mehr als 11,3 kg mit einem signifikant um den Faktor 3,5 erhöhten Risiko gegenüber der nicht belasteten Kontrollgruppe für Bandscheibenvorfälle der LWS einhergeht. Dabei wirkten sich Drehbewegungen bei Heben der Lasten zusätzlich risikoerhöhend aus. Bei der Klägerin hat eine entsprechende Belastung der Tätigkeit über 10 Jahre bestanden. Die degenerativen Veränderungen im Bereich der Wirbelsäule betreffen in typischer Weise den Übergang von der LWS zum Kreuzbein und darüber liegende LWS-Segment. Diese unteren LWS-Segmente sind bei bandscheibenbelastenden Tätigkeiten am häufigsten betroffen. Eine Tätigkeit mit Heben und Tragen von Lasten in gebückter Haltung führt - wie bei der Klägerin - im Bereich der unteren LWS häufig zu stärkeren degenerativen Veränderungen.

Auch der Erkrankungsverlauf spricht für eine berufsbedingte Verursachung des Bandscheibenschadens. Nach etwa einer 7-jährigen Ausübung der bandscheibenbelastenden Tätigkeit sind bei der Klägerin erstmals Schmerzen im Bereich der LWS aufgetreten, welche jedoch noch nicht zu wiederholter Arbeitsunfähigkeit oder Behandlungsbedürftigkeit führten. Erst nach zehnjähriger belastender Tätigkeit kam es zur Ausbildung des manifesten bandscheibenbedingten Krankheitsbildes inform eines akuten Bandscheibenvorfalls. Nach den Feststellungen der Prof. Dr.E. stellen die wiederholt schädigenden Einwirkungen eine schlüssige Erklärung für den Erkrankungsverlauf dar.

Auch bei gleichzeitiger Erkrankung anderer Wirbelsäulenabschnitte kann nicht automatisch eine wesentliche Verursachung der LWS-Erkrankung durch die berufliche Belastung verneint werden. Vielmehr muss im Einzelfall geprüft werden, ob diese Erkrankung zusammen mit der LWS-Erkrankung für eine entsprechende Schadensanlage spricht oder andere Ursachen hat, zB andere berufliche Belastungen dieser Wirbelsäulenabschnitte bzw Gelenke (so auch SG Gießen - Urteil vom 15.12.1998 Az: S 1 U 794/97 in juris Nr KSRE 022381322). Vorliegend erreicht die Erkrankung anderer Wirbelsäulenabschnitte oder Gelenke kein Ausmaß, das eine wesentliche Verursachung der LWS-Erkrankung durch die berufliche Belastung in Frage stellt. Zwar weist die Klägerin eine anlagebedingte Blockwirbelbildung der Halswirbelkörper 3 und 4 auf. Diese Blockwirbelbildung kann zu einer vermehrten mechanischen Beanspruchung der darunterliegenden Wirbelsäulenabschnitte führen, doch wird eine Blockwirbelbildung in der Halswirbelsäule nach den Feststellungen der Professorin Dr.E. kaum geeignet sein, eine degenerative LWS in einem wesentlichen Maß zu begründen. Diese Blockwirbelbildung kann nicht als Argument dafür dienen, dass damit eine Anlage zu Fehlbildungen im Bereich der ganzen Wirbelsäule erwiesen sei, da im Bereich der LWS Wirbelkörperfehlbildungen nicht bestehen. Auch der Beckenschiefstand bei einer Beinlängendifferenz von 1 cm und eine skoliotische Fehlhaltung der LWS stellen keine konkurrierende Wirbelsäulenerkrankung dar, die die beruflich bedingte LWS-Erkrankung in den Hintergrund drängen würde. Die Beinlängendifferenz und die Fehlhaltung sind bei der Klägerin nur sehr gering ausgeprägt. So wird insbesondere die Haltung der Wirbelsäule in den verschiedenen Untersuchungen wiederholt als "lotrecht" bezeichnet. Prädiskosen wie Erkrankungen an Spondylolisthesen, Skoliose, Beckenschiefstand oder Übergangsstörungen können - wie Prof. Dr.E. ausführt - außerberufliche Ursachen für Bandscheibenschäden sein, sofern ein bestimmter Schweregrad erreicht ist, zB ein Skoliosewinkel von mehr als 10 Grad gemessen wird. Bedeutung für die Zusammenhangsbegutachtung haben Seitwärts-Verbiegungen der LWS von mehr als 10 Grad. Bei der Klägerin liegt ein Skoliosewinkel von größer als 10 Grad aber weder nach den vorliegenden Röntgenaufnahmen der Wirbelsäule noch nach Aktenangaben vor. Weitere konkurrierende Wirbelsäulenerkrankungen oder andere mögliche Ursachen der Erkrankung der Klägerin sind den Akten nicht zu entnehmen.

Die Klägerin war durch diese bandscheibenbedingte LWS-Erkrankung gezwungen, ihre vorherige Tätigkeit als Kassiererin seit dem Ereignis vom 08.07.1993 zu unterlassen. Dieser Zeitpunkt ist als die endgültige Tätigkeitsaufgabe anzusehen.

Aufgrund der bei der Klägerin anzuerkennenden BK Nr 2108 hat die Beklagte eine Verletztenrente nach einer MdE in Höhe von 20 vH mit dem Tag nach dem Wegfall der Arbeitsunfähigkeit iS der Krankenversicherung (§ 580 RVO) zu zahlen. Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Arbeitsunfalles oder einer Berufskrankheit um wenigstens 1/5 gemindert ist, haben Anspruch auf eine Rente (§ 581 Abs 1 Nr 2 RVO).

Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens (so ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, SozR 3-2200 § 581 Nr 8 = Breithaupt 2001, 783; jetzt § 56 Abs 2 Satz 1 SGB VII). Ausgehend von diesen Grundlagen der MdE-Schätzung und in Anlehnung an Mehrtens/Perlebach (Nr 2108 Anm 10) sowie Schönberger/Mehrtens, Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 6. Auflage S 540 schätzt der Senat die MdE - wie Prof. Dr.E. - im Hinblick auf die festgestellten starken Funktionseinschränkungen und Beschwerden auf 20 vH.

Nach alledem war die Beklagte dem Grunde nach zur Anerkennung der BK Nr 2108 und zur Entschädigung zu verurteilen (§ 130 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision iS des § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
Saved